Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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konnten ihn nicht einordnen.

      Karl Juni war ein Amerikaner Anfang 50 und arbeitete schon seit 30 Jahren in der Verwaltung der Universität. Seine Eltern waren 1961 kurz vor dem Bau der Berliner Mauer aus der DDR geflüchtet und nach Amerika ausgewandert. Karl war ein großer Freund von Indianergeschichten und hatte alle Bücher von James Fenimore Cooper und Karl May gelesen. Er beobachte den jungen Indianer schon länger und hoffte, dass er zu seinem Tisch kommen würde, um sich einzuschreiben. Das Glück war auf seiner Seite.

      „Bitte nehmen Sie Platz. Ich heiße Karl, was kann ich für Sie tun?“ Rising Sun setzte sich und legte alle zur Immatrikulation erforderlichen Unterlagen auf den Tisch. Karl las sich alles mit großem Interesse durch.

      „Sie heißen Rising Sun?“, fragte der begeisterte Karl, um das Gespräch in Gang zu bringen.

      „Die Brüder und Schwestern meines Stammes nennen mich so.“

      „Dann ist Rising der Vorname und Sun der Familienname?“ Rising Sun antwortete mit ernster Miene.

      „Wenn ich ein Bleichgesicht wäre und in diesem verwirrenden Dschungel aus Stein, Beton und Stahl leben würde, dann wäre das so.“

      Karl erledigte in Rekordzeit alle Formalitäten, gab dem Indianer alle Unterlagen zurück und händigte ihm den Studentenausweis aus.

      „Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie das frage: Sind Sie ein echter Indianer?“

      Rising Sun antwortete lächelnd.

      „Ja, das bin ich.“

      „Ich bin ein großer Verehrer der Indianer. Darf ich Sie nach meiner Arbeit zu einem Bier einladen, um mehr über Ihr Volk zu erfahren?“

      Karls Augen leuchteten wie bei einem kleinen Kind am Heiligen Abend fünf Minuten vor der Bescherung. Rising Sun überlegte kurz und nickte dann.

      „Wann soll ich Sie hier abholen?“

      „In drei Stunden.“

      Rising Sun erschien pünktlich und Karl führte ihn in sein Stammlokal. Der Wirt und die Gäste staunten nicht schlecht, als die beiden das Lokal betraten. Karl stellte Rising Sun kurz vor und dann setzten sich die beiden an einen kleinen Tisch in der Ecke. Karl bestellte zwei Bier und löcherte dann seinen Gast mit vielen Fragen. Rising Sun kam jetzt zugute, dass ihm Brian als Junge das Buch Lederstrumpf zu lesen gegeben hatte, und er deshalb wusste, wie manche Bleichgesichter sich das Leben seiner Vorfahren vorstellten.

      Nach diesem Abend trafen sich die beide noch öfter. Karl informierte Rising Sun über alles, was er über den Ablauf an der Uni und über seine Dozenten wissen musste. Der Indianer erzählte ihm von seinem einfachen Leben in der Wüste, von seinen Freunden Suzette, Brian, Mary und James, von der Natur in der Umgebung seines Dorfes, die sein eigentliches Zuhause war und von seinen Zielen. Karl war ein guter und begeisterter Zuhörer.

      Zu Beginn seines Studiums nahm Rising Sun an verschiedenen Sportaktivitäten teil. Er war ein sehr guter Läufer und machte auf Grund seiner Schnelligkeit auch eine gute Figur beim Football. Der Trainer hätte ihn gerne in das Hochschulteam integriert. Aber Rising Sun weigerte sich, Sportschuhe anzuziehen. Selbst Rufus konnte ihn nicht umstimmen. Und so wurde es nichts aus einer Karriere als erfolgreicher Sportler an der Uni, was die Trainer und Rufus sehr bedauerten. Er lernte mehrere junge Frauen kennen, aber immer, wenn er sich weigerte, auf Partys zu gehen und von dem einfachen Leben seines Stammes und seinen Freunden, den Schlangen und Spinnen schwärmte, verloren sie schnell das Interesse an ihm. Aber das störte ihn nicht weiter. Er konzentrierte sich auf sein Studium, lernte Spanisch und Russisch, erkundete die Natur rund um Boston, traf sich einmal die Woche mit seinem Freund Karl zu einem Bier und verbrachte ansonsten jede freie Minute bei seinem Stamm, seinen Freunden aus dem Tierreich und natürlich mit Brian, Suzette, Mary und James.

      Als sich das Studium dem Ende zuneigte, trafen sich Häuptling Diogenes, Listiger Fuchs, Brian, Suzette, Rufus und Rising Sun auf der Terrasse der Goodness‘, um gemeinsam über die berufliche Laufbahn des jungen Mannes zu beraten. Rising Sun hatte eine klare Vorstellung, die er während des Studiums auch schon mehrfach mit Rufus diskutiert hatte.

      „Ich möchte zu den Vereinten Nationen nach New York, um dort meinen Beitrag zu leisten, dass der Weltfrieden nicht weiter gefährdet wird und die Einhaltung des Völkerrechtes und der Schutz der Menschenrechte auf der ganzen Welt gewährleistet sind. Ich habe von meinem Vater gelernt, wie man Konflikte löst, und von euch, liebe Suzette und lieber Brian, eine ausgezeichnete Allgemeinbildung erhalten. Und in den letzten Jahren habe ich an der Uni hoffentlich genug gelernt, um mich im Dschungel der politischen Eitelkeiten zurechtzufinden. Außerdem besitze ich zwei wichtige Eigenschaften, die uns Indianer auszeichnen: Ich habe unendlich viel Geduld und sehr gute Nerven.“

      Einen Monat später bat Rufus Rising Sun, ihn am Abend in seinem Büro zu besuchen. Er wollte ihm einen guten Bekannten vorstellen. Als Rising Sun, auch diesmal trug er keine Schuhe, das Büro betrat, erhoben sich Rufus und sein Gast von ihren Stühlen. Rufus stellte seinen Bekannten vor. Es handelte sich um den Franzosen Monsieur Représentant, den er als den Assistenten und sehr engen Vertrauten des Generalsekretärs der UNO vorstellte. Die drei setzten sich an einen Tisch und der Franzose begann sofort das Gespräch.

      „Wie mir mein Freund Rufus in der letzten Stunde verraten hat, heißen Sie Rising Sun und sind der Sohn des Häuptlings des Indianerstamms der Namenlosen. Ich muss zugeben, dass ich bis gerade noch nie von diesem Stamm gehört habe. Weiterhin habe ich von meinem Freund erfahren, dass er Sie trotz Ihres jungen Alters für geeignet hält, in meinem Team mitzuarbeiten. Ich kümmere mich unter anderem um die Lösung von Konflikten aller Art und um unterdrückte und gefährdete Ethnien auf dieser Welt. Und von beidem gibt es leider eine große Menge. Sie haben aufgrund Ihrer Herkunft zweifellos den Vorteil, dass Sie nachvollziehen können, wovon ich spreche. Warum glauben Sie, dass Sie geeignet sind, mein Mitarbeiter zu werden?“

      Rising Sun entschied sich, dem Franzosen in dessen Heimatsprache zu antworten. Er erzählte ihm von den abendlichen Gesprächen mit seinem Vater und von seinem Wunsch, die Menschen auf der Erde wachzurütteln, damit sie endlich erkennen, dass sie ihr tägliches Verhalten überdenken und ändern müssen, um wieder das Wohlgefallen Manitus zurückzugewinnen.

      Man sah dem Franzosen an, dass er beeindruckt war.

      „Bevor ich weiter auf Ihre Argumente eingehe, eine Frage: Wo haben Sie so hervorragend Französisch gelernt? Sie sprechen unsere Sprache wie ein Franzose.“

      „Ich hatte die beste Lehrerin der Welt.“

      „Bitte richten Sie der Dame meinen Gruß und meinen größten Respekt aus. Aber nun zu ihren Argumenten. Sind Sie religiös, und welcher politischen Partei in Amerika stehen Sie nahe?“

      „Wenn Sie mit religiös meinen, dass ich daran glaube, dass es einen Schöpfer gibt, der unsere Welt erschaffen, der uns diese Erde zum Geschenk gemacht hat, ja, dann bin ich religiös. Aber ich bin kein religiöser Fanatiker und hege keine missionarischen Gelüste. Allerdings erwarte ich von allen Menschen, dass sie das Werk des Schöpfers respektieren und erhalten. Und nun zu Ihrer zweiten Frage. Die Antwort auf diese Frage sehe ich im direkten Zusammenhang mit dem, was ich auf Ihre erste Frage ausgeführt habe. Die Suche nach Problemlösungen, um unsere Welt auch für unsere Nachkommen lebenswert zu machen, ist viel zu komplex und wichtig, um sie den Politikern zu überlassen, egal zu welcher politischen Richtung sie gehören und in welcher Staatsform sie leben.“

      Ein halbes Jahr später begann Rising Sun seine berufliche Laufbahn bei der UNO.

      4 Die Sonnenkinder

      Kehren wir zurück nach Afrika, genauer gesagt, in das Gebiet, in dem ein großer Urwald von einem Felsring eingeschlossen wird und auf dessen Nordseite Moses Smith von seinen Söhnen Stanley und Olliver beerdigt worden war.

      In den mündlichen Überlieferungen der im Süden der Felsformation lebenden Völker war von einem geheimnisvollen Volk die Rede, das in einem für Menschen unzugänglichen und sehr gefährlichen