Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


Скачать книгу

lebten die beiden in dieser Zeit in ihrer Heimat, der Provence. Suzette konnte keine Kinder bekommen und wurde zusehends depressiv. Hinzu kam eine sich immer mehr verstärkende Immunschwäche. Obwohl Brian die besten Ärzte engagierte, um seiner geliebten Frau zu helfen, verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand immer mehr. Brians Verzweiflung wurde immer größer, und er kapselte sich immer mehr von seinen Freunden und Bekannten ab.

      Eines Abends, als Suzette schon schlief, beschloss Brian spontan, nach langer Zeit mal wieder in seinen alten Lieblingspub zu gehen. Er hatte gerade das erste Pint bestellt, als plötzlich sein alter Freund George neben ihm stand. Die beiden hatten sich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und deshalb viel zu erzählen. Als Arzt interessierte sich der Freund besonders für den gesundheitlichen Zustand von Suzette. Die beiden verließen als Letzte den Pub. Bevor sie sich vor der Tür des Pubs verabschiedeten, lud Brian seinen alten Freund ein, ihn zu besuchen.

      Zwei Wochen später schellte George an der Tür der alten Villa der Goodness Familie, die er noch gut aus seiner Jugend kannte. Ein Mann öffnete die Tür, stellte sich als James vor und bat ihn herein. Brian freute sich, seinen alten Freund wiederzusehen und stellte ihn seiner Frau vor. George hatte in seinem Leben noch nie so schöne und so traurige Augen gesehen. Er verspürte sofort den Wunsch, dieser Frau zu helfen. Der Abend verlief sehr harmonisch. Um zehn verabschiedete sich Suzette und wurde von ihrer engsten Vertrauten Mary, der Frau von James, hinausbegleitet.

      „Ich bin froh, dass ich James und Mary habe. Sie gehören seit über zehn Jahren zur Familie. James war früher Fallschirmspringer bei der englischen Army und Mary arbeitete dort als Krankenschwester. Durch Zufall haben Suzette und ich die beiden kennengelernt. Meine Frau fand die beiden sehr sympathisch und gab keine Ruhe mehr, bis es mir endlich gelungen war, die beiden als Angestellte zu verpflichten. Aber James und Mary sind schon längst keine Angestellten mehr. Sie haben keine Kinder und keine nahen Verwandten und so sind wir ihre Familie geworden, worauf Suzette und ich sehr stolz sind.“

      Als sich George schon an der Haustür von James verabschiedet hatte, blieb der Arzt noch kurz auf der Eingangsstufe stehen.

      „Mir geht die Krankheit deiner Frau nicht aus dem Kopf. Es muss eine Möglichkeit geben, sie zwar nicht vollständig zu heilen, aber doch ihren Gesundheitszustand mindestens zu stabilisieren und die auf ihrer Krankheit basierende Depression abzumildern. Ich habe da vielleicht eine Idee und melde mich in Kürze wieder.“

      „Bei aller Freundschaft, George, bitte mache mir keine falschen Hoffnungen. Ich habe schon alle medizinischen Kapazitäten konsultiert. Wieso solltest gerade du, mein alter Freund, mir und Suzette helfen können?“

      „Vielleicht, weil ich dein alter Freund bin. Vertrau mir einfach, Brian. Ich melde mich in Kürze wieder bei dir.“

      Einen Monat später saßen Brian, Suzette, George, James und Mary in Brians Privatflugzeug und flogen in eine amerikanische Wüstenregion, die für ihre Hitze und Trockenheit berüchtigt war. Von einem Hotel aus fuhren die fünf mit einem Bus hinaus in die Wüste. George hatte vor Fahrtantritt mit dem Fahrer gesprochen, wo die Fahrt hingehen und was er mitnehmen sollte. Am Zielort angekommen, baute der Arzt mit der Unterstützung des Busfahrers und James ein geräumiges Zelt auf. Anschließend wurde das Zelt gemütlich eingerichtet. Suzette verließ den klimatisierten Bus, schloss die Augen und atmete die trockene Wüstenluft ein. Schon nach wenigen Augenblicken spürte sie, dass es ihr besserging. Dieses Gefühl verstärkte sich, als sie sich auf einen bereitstehenden Liegestuhl legte und Mary ihr frisches Obst reichte. Brian bemerkte sofort die positive Veränderung seiner Frau und blickte fragend hinüber zu seinem Freund George, der seine stumme Frage mit einem Lächeln beantwortete. Als Brian und Suzette am Abend alleine in ihrem Hotelzimmer saßen, nahm Brian die Hand seiner Frau, drückte sie leicht und sah seine Frau zärtlich an.

      „Wie fühlst du dich?“

      „Es geht mir so gut wie schon lange nicht mehr, Brian, denn ich kann frei atmen. Wir sollten noch ein paar Tage hierbleiben und dann gemeinsam eine Entscheidung treffen.“

      Als die fünf nach einer Woche zurück nach Irland flogen, hatten Brian und Suzette sich entschieden. Sie wollten in diese Wüstenregion umziehen und für James und Mary war es selbstverständlich, mitzugehen.

      Brian beauftragte einen Makler in den USA damit, das passende Grundstück zu finden und drei Monate später begann der Bau des neuen Zuhauses für Brian, Suzette, James und Mary.

      Rising Sun konnte es am nächsten Morgen kaum erwarten, wieder zu dem großen Zelt zu laufen, um die schöne Frau zu besuchen. Als er das Grundstück erreichte, wartete Suzette schon auf ihn und winkte ihm lächelnd zu. Neben ihr stand ein großer, hellhäutiger und sehr schlanker Mann mit vielen kleinen roten Punkten und feuerroten Haaren. Rising Sun musste sich zusammenreißen, um den Mann nicht mit offenem Mund anzustarren. Der Fremde sah ihn freundlich an, kam auf ihn zu, zeigte auf sich und sagte Brian. Dann lud er den Jungen ein, sich zu ihm und seiner Frau an einen Tisch zu setzten. Rising Sun hatte noch nie auf einem Stuhl gesessen und probierte diese neue Sitzgelegenheit erst einmal vorsichtig aus, bevor er sich hinsetzte. Es gab wieder das leckere Getränk, das er schon gestern probieren durfte.

      Da sah er, wie sich der Gesichtsausdruck von Suzette von einer auf die andere Sekunde veränderte. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen und Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Rising Sun folgte ihrem Blick, konnte aber zuerst nichts entdecken. Da erinnerte er sich daran, wo und wann er schon einmal bei einer Frau einen ähnlichen Gesichtsausdruck gesehen hatte. Es war bei seiner Tante Liebliche Kaktee, die Angst vor allem hatte, was auf der Erde herumkrabbelte. Und sofort entdeckte er den Grund für Suzettes Panik. Eine große Spinne war auf den Tisch gekrabbelt und kletterte an ihrem Glas hoch. Rising Sun sprang auf, nahm die Spinne in die Hand und lief mit ihr Richtung Dorf. Nach zehn Minuten kam er zurück. Suzette war nicht mehr da, aber der Mann, der Brian hieß, schien auf ihn zu warten. Er kam ihm entgegen, ergriff seine Hand und drückte sie ganz fest. Dann dreht er sich um, und verschwand in dem großen Zelt. Nachdenklich ging Rising Sun zurück zu seinem Dorf und beschloss, bei der nächsten Gelegenheit mit seinem Vater über seine Eindrücke der letzten beiden Tage zu sprechen.

      Am Abend saßen Vater Diogenes und Sohn Rising Sun nach dem Essen vor ihren Tonnen und warteten darauf, dass die Sonne sich für diesen Tag von ihnen verabschiedete und den vielen Sternen und dem Mond Platz machte. Der Junge rückte näher an seinen Vater heran.

      Der Häuptling wartete, ob sein Sohn das Gespräch beginnen würde, aber der machte keine Anstalten.

      „Rising Sun, gibt es etwas, über das du mit mir philosophieren möchtest?“

      Der Mond schien jetzt sehr hell und die Sterne leuchteten, so dass sich Vater und Sohn gut sehen konnten. Der Junge blickte seinen Vater an.

      „Vater Häuptling, ich bin gestern zum ersten Mal zu dem neuen großen Zelt außerhalb des Kakteenwaldes gelaufen und habe dort fremde Menschen gesehen. Diese Menschen haben eine Haut wie weißes Papier und manche von ihnen rote oder gelbe Haare. Besonders beeindruckt hat mich eine schöne Frau. Sie ist sehr schlank, hat dunkle Haare und ihre Augen haben die gleiche Farbe wie unsere. Sie heißt Suzette und ich habe sie heute wieder besucht. Sie hat sich vor einer großen Spinne gefürchtet, die ich sofort wieder zurück in ihr Zuhause gebracht habe. Wahrscheinlich war die Spinne nur neugierig, wie das große Zelt von nahem aussah. Vater Häuptling, gibt es viele Menschen, die anders aussehen als wir, und warum hatte Suzette so eine große Angst vor der Spinne?“

      Häuptling Diogenes strich seinem Sohn nachdenklich über das Haar, denn er brauchte Zeit nachzudenken. Nach einer Viertelstunde fühlte sich der Häuptling bereit, seinem Sohn zu antworten:

      „Rising Sun, ich möchte mit deiner zweiten Frage beginnen. Es gibt Menschen, die haben vor etwas Angst, ohne dass eine konkrete Gefahr besteht, oder sie nehmen eine Situation als Bedrohung war, die für Dritte nicht als gefährlich zu erkennen ist. Die Folge davon ist, dass diese Menschen dann in Panik geraten und nicht mehr in der Lage sind, ihre Handlungen zu steuern. Das kann sogar soweit führen, dass sie dadurch schwere gesundheitliche Schäden erleiden. Suzette gehört wahrscheinlich zu den Menschen, die Angst vor allem haben, was auf der Erde, an der Wand oder an der Decke herumkrabbelt, besonders vor großen Spinnen,