Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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harmlos und sehr wichtig für das Gleichgewicht auf unserer Erde sind. Und nun zu deiner ersten Frage. Blicke hinauf in den Himmel. Wie viele Sterne siehst du dort? Es sind unendlich viele. Der gute Manitu, unser aller Vater und Beschützer, hat sich diese unendliche Vielfalt zum Vorbild genommen, als er unsere Welt schuf. Und deshalb gibt es unzählig viele unterschiedliche Arten von Lebewesen und Pflanzen, die alle eine bestimmte Aufgabe haben, damit diese Welt so schön wird und bleibt, wie es sich Manitu vorstellt. Bei den Menschen war er sich nicht so ganz sicher, wie sie aussehen sollten. Deshalb hat er ausprobiert, welche Hautfarbe am besten zu welchem Teil der Erde passt. Dort, wo es heiß ist, so wie hier bei uns, haben die Menschen zum Schutz gegen die Sonne eine dunklere Hautfarbe und schwarze Haare.

      Es gibt aber auch Gegenden, wo es oft sehr kalt ist. Dort haben sie eine Haut so weiß wie Papier und rote, gelbe oder braune Haare.

      Rising Sun dachte über das, was sein Vater gesagt hatte, nach. Die Vorstellung, dass es so viele verschiedene Menschen, Tiere und Pflanzen auf der Welt gab, wie Sterne am Himmel, faszinierte ihn. Sein Respekt vor dem großen Manitu wuchs ins Unermessliche. In diesem Moment wusste er, welche Aufgabe Manitu für ihn vorgesehen hatte. Er sollte möglichst viele Menschen und Tiere auf dieser Welt kennenlernen, um ihnen zu helfen, die Welt in Manitus Sinn zu gestalten. Der Junge verspürte eine tiefe Zufriedenheit und streckte sich neben seinem Vater aus. Dem ging eine Frage nicht aus dem Kopf. Wer war Suzette? Er drehte sich um zu seinem Sohn.

      „Rising Sun, morgen kommt mein Bruder Listiger Fuchs zu Besuch. Was hältst du davon, wenn dein Onkel und ich dich morgen zu den Bleichgesichtern begleiten? Ich möchte sie gerne kennenlernen.“

      Sein Sohn fand die Idee großartig, ging in seine Tonne und schlief zufrieden ein.

      Am nächsten Tag machten sich Häuptling Diogenes, Listiger Fuchs und Rising Sun nach dem Mittagessen auf den Weg zum großen Zelt, um den Bleichgesichtern ihre Aufwartung zu machen. Der Häuptling trug seine Dienstleggins aus feinstem Wildleder, sein Haar schmückte eine große Häuptlingsfeder und seine Füße steckten in kunstvoll bestickten Mokassins. Sein Bruder trug trotz der Hitze einen dunklen Designeranzug, ein weißes Hemd und schwarze Schuhe. Rising Sun war wie immer nur mit einem Lendenschurz bekleidet und lief barfuß.

      Als die drei das Grundstück der Goodness betraten, erwartete sie schon ein Empfangskomitee und ein gedeckter Tisch unter einem großen Schirm. Suzette und Brian hatte zwar nicht mit dem Häuptling und dem zweiten Erwachsenen gerechnet, aber da es offensichtlich war, dass auch die beiden erwachsenen Indianer zu dem Jungen gehörten und in friedlicher Absicht kamen, standen sie auf, um ihren Gästen entgegen zu gehen. James und Mary hielten sich im Hintergrund. Brian ging auf Diogenes zu und sagte auf Englisch:

      „Mein Name ist Brian Goodness. Herzlich willkommen, Häuptling, ich freue mich, Sie und Ihre Begleiter bei uns begrüßen zu dürfen.“

      Häuptling Diogenes verstand Englisch, wenn er es mit seiner Häuptlingswürde vereinbaren wollte und freute sich über den freundlichen Empfang. Aber er hatte nicht vor, sich auf Englisch mit den Fremden zu unterhalten. Listiger Fuchs kannte seinen Bruder und antwortete an dessen Stelle in reinstem Oxfordenglisch:

      „Mister Goodness, Häuptling Diogenes bedankt sich für den freundlichen Empfang. Ich möchte mich kurz vorstellen. Meine Stammesbrüder nennen mich Listiger Fuchs und die Bleichgesichter (er überreichte Brian eine elegante Visitenkarte) Sly Fox. Den Sohn des Häuptlings Diogenes Rising Sun kennen Sie bereits. Würden Sie uns jetzt bitte die Ehre erweisen, die Damen und den Herrn in ihrer Gesellschaft vorzustellen.“

      Brian wusste nicht, was ihn mehr faszinierte: Die Kleidung des Listigen Fuchses oder dessen perfekte englische Aussprache. Aber dann riss er sich zusammen, ging zu seiner Frau und legte seinen Arm um ihre Schulter.

      „Ich möchte Ihnen zuerst meine Frau Suzette vorstellen. Ihr Gesundheitszustand ist der Grund, warum wir hier sind. Hinter meiner Frau stehen unsere Freunde Mary und James.“

      Listiger Fuchs begrüßte zuerst Suzette, dann Mary und zum Schluss James. Diogenes folgte seinem Bruder. James beeilte sich, noch zwei Stühle zu holen und Brian bat dann seine Gäste, am Tisch Platz zu nehmen. Rising Sun setzte sich wie selbstverständlich neben Suzette und strahlte sie an. Listiger Fuchs ergriff das Wort:

      „Der Sohn des Häuptlings hat seinem Vater von seinen Erlebnissen hier bei Ihnen in den letzten beiden Tagen berichtet. Alles ist neu für ihn und in seinem Kopf entstehen mehr Fragen, als mein Bruder, der Häuptling, beantworten kann. Deshalb haben wir uns auf den Weg gemacht, die fremden Menschen, die zukünftig in unserer Nachbarschaft leben werden, persönlich kennenzulernen.“

      Listiger Fuchs übersetzte sehr ausführlich für seinen Bruder und seinen Neffen. Geduldig wartete Brian. Dann nutzte er eine kurze Pause, um zu antworten.

      „Rising Sun hat gestern geistesgegenwärtig meine Frau aus einer für sie sehr bedrohlichen Situation gerettet. Dafür möchte ich mich noch einmal in aller Form bei ihm bedanken. Wenn ich ihm einen Wunsch erfüllen kann, lassen Sie es mich bitte wissen.“

      Listiger Fuchs übersetzte. Der Junge sah seinen Onkel überrascht an:

      „Listiger Fuchs, ich habe die Spinne nur zurück nach Hause gebracht. Sie war bestimmt genauso neugierig wie ich.“

      Listiger Fuchs übersetzte wieder. Da drehte sich Suzette zur Seite und strich dem Jungen zärtlich über das schöne schwarze Haar.

      „Ich möchte mich trotzdem bei Rising Sun bedanken. Sagen Sie ihm, dass er mir eine große Freude macht, wenn ich ihm einen Wunsch erfüllen darf.“

      Der Onkel übersetzte wieder. Der Junge sprang auf und sah seinen Vater mit leuchtenden Augen an.

      „Vater Häuptling, ich habe einen Wunsch. Ich möchte sofort die Sprache der Bleichgesichter erlernen und so viel wie möglich über ihre Art zu leben erfahren.“

      Listiger Fuchs wollte übersetzen, aber Diogenes hielt ihn zurück.

      „Mein Sohn, warum hast du es denn so eilig? In einem Jahr kannst du wie deine gleichaltrigen Brüder und Schwestern langsam damit beginnen, bei unserem alten Bruder Weiser Mann die beiden Sprachen, die die Bleichgesichter in unserer Umgebung sprechen, zu erlernen. Dabei erfährst du auch etwas über ihre Sitten und Gebräuche.“

      „Vater Häuptling, so lange kann ich nicht warten. Ich möchte mich so schnell wie möglich mit Suzette unterhalten können und nicht erst irgendwann.“

      „Warum möchtest du dich denn unbedingt so schnell mit der fremden Frau unterhalten?“

      „Suzette ist keine Fremde für mich. Ich möchte ihr von meinen Freunden, den Tieren, erzählen und vom großen Manitu, der uns alle erschaffen hat. Und ich möchte möglichst viel über die Menschen, Tiere und Pflanzen lernen, die es auf dieser Welt gibt. Ich bin sicher, dass mir Suzette dabei helfen wird.“

      Rising Sun hatte ruhig und überlegt gesprochen. Diogenes war in diesem Moment sehr stolz auf seinen Sohn. Aber er fand auch, dass Rising Sun noch zu jung war, um mit den Bleichgesichtern zusammen zu leben. Denn darauf würde es hinauslaufen, wenn er seinem Sohn nachgab. Sein Herz wurde schwer. Sein Bruder spürte dies und übersetzte den Dialog zwischen Vater und Sohn, ohne Diogenes nach seiner Zustimmung zu fragen. Suzette hatte Tränen der Rührung und der Freude in den Augen und auch Brian schnäuzte einmal laut in sein Taschentuch. Suzette wandte sich jetzt direkt an den Häuptling.

      „Häuptling Diogenes, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ab sofort unterrichten mein Mann und ich Ihren Sohn dreimal die Woche hier bei uns. An den anderen Tagen kehrt er in seine alte Welt zurück. Denn ich halte es für sehr wichtig, dass Rising Sun sich in aller Ruhe weiter in seiner gewohnten Umgebung entwickeln und mit seinen Freunden, egal wie viele Beine sie haben, spielen kann.“

      Listiger Fuchs wollte wieder übersetzen, aber sein Bruder stoppte ihn mit einer Handbewegung. Dann erhob sich Diogenes von seinem Platz und antwortete in nahezu fehlerfreiem Englisch:

      „Sie sind sehr klug, Frau mit den schönen Augen. Ich stimme Ihrem Vorschlag zu. Aber unter einer Bedingung. Wenn mein Sohn sich in einer Art entwickelt, die ich nicht gutheißen kann, beenden