Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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Monsieur Smith, ich sehe mir die von Ihnen gewünschte Fläche persönlich an. Sollte ich erkennen müssen, dass Sie mich übers Ohr hauen wollen, können Sie Ihr Testament machen.“

      „Da ich bereits schon vor längerer Zeit mein Testament gemacht habe, plane ich kurzfristig nicht, noch eins zu verfassen. Ich bin mir sicher, dass Sie mein Angebot annehmen werden. Au revoir, Monsieur L‘Empereur.“

      Zwei Wochen später meldete sich Kabossa per Telefon.

      „Monsieur Smith, ich habe mir das von Ihnen markierte Wüstengebiet angesehen und mich anschließend mit mehreren Menschen unterhalten, deren Vorfahren vor ewigen Zeiten in den Randgebieten dieser Fläche gewohnt haben. Es gibt dort wirklich nichts Wertvolles. Und was mich endgültig beruhigt hat: Ein alter Mann hat mir davon berichtet, dass auf der anderen Seite der Wüste vor Urzeiten ein kleines geheimnisvolles Volk gelebt haben soll, das aber wohl nicht mehr existiert. Vielleicht finden Sie ja, was Sie suchen.“

      Kabossas letzter Satz rief bei Moses die Erinnerungen an seine früheste Kindheit wach. Bis heute wusste er nicht, woher er kam, wo seine Wurzeln waren. Reiche Weiße hatte ihn als Kleinkind auf einem Sklavenmarkt gekauft und großgezogen. Das einzige, woran er sich an die Zeit davor erinnern konnte, waren brennende Hütten, Schreie und an eine Frau, die ihn mit einem Körbchen in einem kleinen See ausgesetzt hatte, um ihn vor den Flammen zu retten. Deswegen hatten ihm die Menschen, die ihn gefunden hatten, auch den Namen Moses gegeben. Und jetzt dieser Satz: Vielleicht finden Sie ja, was Sie suchen.

      Er hatte die Begründung für sein Interesse an dem Stück Wüste – ich möchte in aller Ruhe nach den Spuren meiner Vorfahren suchen – nur vorgeschoben, um überhaupt einen Grund nennen zu können. Jetzt wurde ihm klar, dass er sein ganzes Handeln immer unbewusst darauf ausgerichtet hatte, zu erfahren, woher er kam. Er musste herausfinden, ob seine Wurzeln in irgendeinem Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Felsen, der ihn wie ein Magnet angezogen hatte, und der ihn umgebenden Wüste standen. Denn nur, wenn er Klarheit über seine Herkunft bekäme, würde er seinen inneren Frieden finden und zur Ruhe kommen. Das bedeutete, dass er sich um jeden Preis mit Kabossa einigen musste.

      Einen Monat nach dem Telefonat trafen sich die beiden in einem Hotel in Genf. Moses hatte dem Diktator im Vorfeld einen Vertragsentwurf zukommen lassen. Aber der hatte andere Vorstellungen.

      „Ich verkaufe nicht, aber Sie können die von Ihnen gewünschte Fläche pachten.“

      „Warum wollen Sie das Stück Wüste nicht verkaufen?“

      Anstatt sofort zu antworten, blickte Monsieur L‘Empereur aus dem Fenster. Nach einer Minute wandte er sich wieder seinem Vertragspartner zu. Sein Gesichtsausdruck und seine Körpersprache hatten sich völlig verändert. Er wirkte nicht mehr wie ein brutaler Diktator, der, um seine Ziele zu erreichen, über Leichen geht. Moses gegenüber saß jetzt ein trauriger und fast hilflos erscheinender Mensch.

      „Das Gespräch mit dem alten Mann in der Wüste hat mich sehr nachdenklich und mir bewusst gemacht, dass auch ich schon seit Langem auf der Suche nach meinen Wurzeln bin. Genauer gesagt, möchte ich gerne erfahren, woher meine von mir über alles geliebte Großmutter stammt. Ich halte es jetzt für möglich, dass sie genau aus der Region stammt, die sie kaufen möchten. Wenn es sich herausstellt, dass dort wirklich meine Wurzeln sind, ist es sehr wichtig für mich, dass ich dann noch Zugriff zu diesem Stück Land habe. Können Sie das verstehen?“

      Moses konnte das nur zu gut nachvollziehen.

      „Was schwebt Ihnen vor, Monsieur L‘Empereur?“

      „Bitte nennen Sie mich Jean. Ich verpachte Ihnen das Land für den Zeitraum von zehn Jahren. Die Pacht ist im Voraus fällig. Der Pachtvertrag verlängert sich jedes Mal um weitere zehn Jahre, wenn er nicht vor Ablauf des neunten Jahres von einer Seite gekündigt wird.“

      Moses war einverstanden und die beiden vereinbarten für den nächsten Tag einen Notartermin. Als Jean das Büro verließ, hatte er wieder den Gesichtsausdruck eines gnadenlosen Killers und ließ einen sehr nachdenklichen Moses Smith zurück. Das Land in unmittelbarer Nähe des Felsens schien viele Geheimnisse zu verbergen, und es hatte eine erstaunliche Wirkung auf die Menschen, die mit dieser Region in Berührung kamen: Sie veränderten sich, wenn auch manche nur für kurze Zeit.

      Einen Tag später wurde der Pachtvertrag im Beisein eines Notars unterschrieben und beglaubigt.

      Nach zehn Jahren verlängerte sich der Pachtvertrag automatisch, da keine Vertragspartei von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch machte. Zu einer weiteren Vertragsverlängerung kam es nicht, denn L‘Empereur musste während der Vertragszeit sein Land unfreiwillig verlassen und in die Schweiz ins Exil gehen, wo er ein Jahr später verstarb. Moses beschloss, erst einmal abzuwarten, ob sich der Nachfolger Kabossas bei ihm wegen des Vertrages und der damit verbundenen Zahlungen melden würde. Aber nichts dergleichen geschah. Und als der neue Machthaber später damit begann, den Übergang des fruchtbaren Landes zur Wüste, in der die Felsformation lag, durch eine Zaunanlage zu sichern, lehnte sich Moses entspannt in seinem Sessel in Genf zurück. Denn er war sich jetzt sicher, dass sich niemand mehr für diese Region der Erde interessieren würde.

      Bis an sein Lebensende erfuhr er nicht, dass er sich an dieser Stelle irrte.

      Ende der achtziger Jahre hatten Stanley und Olliver ihre Ausbildung abgeschlossen. Stanley arbeitete als Anwalt in einer international tätigen Kanzlei und Olliver in einer Schweizer Bank. Moses spürte, wie sich sein Gesundheitszustand von Tag zu Tag verschlechterte. Er war jetzt über 80 Jahre alt und sein ebenso anstrengendes wie aufregendes Leben forderte seinen Tribut. Er rief seine Söhne zu sich.

      „Ihr wisst seit mehreren Jahren, womit ich mein Geld verdiene und müsst euch nun entscheiden, ob ihr mein Unternehmen fortführen wollt. Aber unabhängig davon möchte ich euch mein Geheimnis verraten. Aber dazu müssen wir eine Flugreise unternehmen. Wir fliegen in einer Woche.“

      Moses steuerte das Flugzeug, landete nördlich des Felsrings außerhalb der Zehnkilometerlinie an der ihm mittlerweile seit vielen Jahren so vertrauten Stelle und verließ gemeinsam mit seinen Söhnen die Maschine. Stanley und Olliver bauten den Leiterwagen zusammen und beluden ihn mit den stabilen leeren Kisten, die ihr Vater immer an Bord hatte. Gemeinsam gingen die drei zur Felswand und kletterten mit Hilfe der Kisten durch die Öffnung. Die Söhne folgten ihrem Vater durch den Gang und dann weiter bis zum See. Das Paradies zog auch sie sofort in ihren Bann und raubte ihnen fast den Verstand. Stanley und Olliver ließen sich am See nieder und schlossen die Augen, um die einmalige Atmosphäre aufzusaugen und die Stille zu genießen. Im nächsten Moment meldeten sich die Tiere des Waldes lautstark. Erschrocken öffneten die beiden die Augen und suchten den Blickkontakt zu ihrem Vater, der sich neben ihnen im Gras ausgestreckt hatte und zu schlafen schien. Moses öffnete die Augen und drehte seinen Söhnen das Gesicht zu. Seine Augen erstrahlten in einem seltsamen Glanz, den Stanley und Olliver noch nie bei ihrem Vater gesehen hatten.

      „Die Tiere des Waldes möchten nicht, dass ihr länger hierbleibt. Lasst uns gehen.“

      Er sagte „ihr“ und nicht „wir“, denn er spürte zum ersten Mal, dass er hier kein Fremdkörper war.

      Nachdenklich folgten die Söhne ihrem Vater zurück durch den Gang und anschließend bis zum Flugzeug. Moses setzte sich hinter das Steuer, ohne ein Wort zu sagen. Aber Stanley und Olliver war sowieso nicht nach Sprechen zumute. Beide waren froh darüber, dass sie, jeder für sich, die Eindrücke der letzten Stunden verarbeiten konnten.

      Zwei Tage später saßen die drei in Moses Büro am Genfer See.

      „Stanley, Olliver, ich möchte noch einmal meine Frage wiederholen und zusätzlich eine Bitte formulieren. Seid ihr bereit, in meine Fußstapfen zu treten und mein Geschäft in meinem Sinn fortzuführen?“

      Stanley als der Ältere ergriff das Wort.

      „Vater, wir danken dir, dass du uns die Übernahme deines Geschäftes zutraust. Wir nehmen dein Angebot gerne an und werden dich nicht enttäuschen.“

      „Nun zu meiner Bitte, die aus zwei Teilen besteht: