Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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der Weisen Tochter zu konzentrieren.

      Die beiden Mädchen verstanden sich sehr gut, und die anderen Sonnenkinder schien es nicht weiter zu interessieren, dass es in ihren Reihen zwei Mädchen gab, die die Merkmale einer Weisen Tochter besaßen.

      Aber das jüngere Mädchen wurde von Tag zu Tag unglücklicher. Es war jetzt über zehn Zentimeter größer als alle erwachsenen weiblichen Sonnenkinder und sein weißer Fleck strahlte mittlerweile auffallend hell. Wenn das Mädchen besonders traurig war, ging es tief in den Wald hinein und blieb dort den ganzen Tag. Es beobachtete alle Tiere und betrachtete alle Pflanzen. Die Tiere ließen das Sonnenkind gewähren und kümmerten sich nicht weiter um das Mädchen. Nur die Vögel und viele Insektenarten suchten seine Nähe und umschwärmten es. In diesen Augenblicken fühlte sich das Mädchen eins mit der Natur und verspürte ein berauschendes Glücksgefühl. Wenn es in der Wüste geregnet hatte, verließ es den schützenden Felsring und erkundete die Pflanzenvielfalt der zum Leben erwachten Wüste und beobachtete die Vögel, die anders aussahen, als die, die sie aus dem Wald kannte.

      Je älter das Mädchen wurde, umso mehr wurde ihm bewusst, dass es das Volk der Sonnenkinder verlassen musste, um die weitere Entwicklung der Weisen Tochter nicht zu gefährden. Das Mädchen wusste nur nicht, wohin es gehen sollte, und ob es allein eine Chance hatte, zu überleben. Als es wieder einmal das Dorf Richtung Wüste verlassen hatte, um in aller Ruhe die ihm fremden Vögel zu beobachten, die in großen Schwärmen Richtung Süden flogen, glaubte es, die Lösung gefunden zu haben. Diese Vögel lebten nicht im Wald, sondern kamen aus dem Norden. Und da sie von etwas leben mussten, gab es dort, wohin diese Vögel flogen, sicherlich Nahrung. Vielleicht wohnten dort auch die anderen Menschen, die Mutter Natur neben den Sonnenkindern geschaffen hatte. Denn es hatte bei einem seiner letzten Ausflüge in die Wüste aus einem Versteck heraus große Männer mit heller Hautfarbe, hellen und langen Haaren auf dem Kopf und im Gesicht beobachtet, die vergeblich nach einer Öffnung in der Felswand suchten, um in den Wald zu gelangen.

      Sie wusste nicht, was diese Männer bei den Sonnenkindern wollten und war erstaunt, wie ungeschickt sich diese Männer in der Wüste verhielten. Die Weise Mutter hatte allen Sonnenkindern verboten, mit diesen Fremden Kontakt aufzunehmen. Sie mussten sich bei deren Annäherung sofort verstecken und alle Spuren verwischen. Wenn alle Sonnenkinder in Sicherheit waren, gab die Weise Mutter einer besonderen Insektenart, die auch zu ihren Beschützern gehörte, das Zeichen, die Männer außer Gefecht zu setzten. Die Insekten verließen den Felsring, schwärmten aus, umringten die überraschten Männer und verletzten sie mit ihren Stacheln. Die Fremden fielen in einen tiefen Schlaf. Die Insekten kehrten zurück und anschließend trugen die männlichen Sonnenkinder die schlafenden Männer mit allen geheimnisvollen Dingen, die sie bei sich trugen, weit hinaus in die Wüste, legten sie in der Nähe einer Wasserstelle unter Büschen ab, kehrten zurück und verwischten ihre Spuren.

      Das Mädchen hatte sich die Richtung gemerkt, in die die Männer seines Volkes die Fremden weggetragen hatten und beschloss, den fremden Vögeln zu folgen und nach Süden zu gehen. Von dem Zeitpunkt an, als das Mädchen diesen Entschluss gefasst hatte, fühlte sie sich unendlich erleichtert und ging fröhlich zurück zu den anderen. Die Weise Mutter bemerkte diese Veränderung sofort und freute sich darüber, denn sie hatte schon länger gespürt, wie unglücklich das Mädchen in der Vergangenheit war. Den wahren Grund für die Veränderung des Mädchens ahnte sie jedoch nicht.

      Eine Woche später verließ das Mädchen unbemerkt in aller Frühe das Dorf in Richtung Wüste. Es trug zwei Körbe, in die es Früchte, Nüsse und eine Decke aus Pflanzen gelegt hatte. Während des Tages fiel seine Abwesenheit niemandem auf, denn alle Sonnenkinder wussten, dass das Mädchen oft alleine unterwegs umherstreifte. Aber als es am Abend und auch am nächsten Morgen noch nicht wieder zurück war, ging die Weise Mutter zuerst in den Wald, um das Mädchen dort zu suchen. Die Weise Tochter begleitete sie. Als die Tiere des Waldes den Grund erfuhren, warum die beiden Menschen im Wald waren, schwoll die Geräuschkulisse an. Die Weise Mutter war erfahren genug, um zu wissen, was dies bedeutete. Das Mädchen war nicht im Wald. Am nächsten Tag schwärmten alle Männer aus, um in der Wüste nach dem Mädchen zu suchen. Aber sie kamen am Abend ohne Erfolg und sehr traurig zurück. Die Weise Mutter ging in den Wald und bat die Vögel, den Sonnenkindern bei der Suche nach dem Mädchen zu helfen, aber auch die Vögel fanden das Mädchen nicht. Nach einer weiteren Woche hatte die Weise Mutter die letzte Hoffnung aufgegeben, das Mädchen noch einmal lebend wieder zu sehen. Der Gedanke, dass sie dafür verantwortlich war, ein Sonnenkind verloren zu haben, ließ sie bis zu ihrem Tod nicht mehr los.

      5 Anna

      Der Weg durch die Wüste war sehr anstrengend, aber das Mädchen war guter Dinge, voller Energie und kam zügig voran. Die Sonne machte ihr nichts aus. Nach vier Tagen gingen ihre Essensvorräte zur Neige, und sie fand auch kaum noch Wasser. Da sie nicht wie die männlichen Sonnenkinder Wasser „riechen“ konnte, war ihr bewusst, dass sie keine Chance hatte, lange in dieser Umgebung zu überleben. Sie musste das Ende der Wüste erreichen, denn dort vermutete sie die fremden Vögel. Mit letzter Kraft zwang sie sich, immer weiter Richtung Süden zu gehen. Denn zurück konnte sie nicht mehr, weil das Dorf der Sonnenkinder viel zu weit entfernt war. Am späten Vormittag setzte sie sich erschöpft auf einen großen Stein und starrte mutlos auf den Boden. Da hörte sie von weitem Vogelstimmen. Sie sprang auf und sah in die Richtung, aus der sie die Stimmen gehört hatte. Sie zögerte keinen Augenblick, stolperte los und sah bald am Horizont einen dunklen Streifen, den sie für einen Wald hielt. Das setzte noch einmal die allerletzten Kräfte frei und nach drei Stunden schien der Wald zum Greifen nahe. Die Vögel hatten sie entdeckt, flogen auf sie zu und feuerten sie mit ihrem Gesang an. Aber ihre Kraft reichte nicht mehr. Sie brach zusammen und schlief sofort vor Erschöpfung ein.

      Als sie erwachte, war sie von Dunkelheit umgeben. Aber schon nach wenigen Augenblicken hatten sich ihre Augen daran gewöhnt und sie betrachtete neugierig ihre Umgebung. Sie lag auf einem Gestell in einer Höhle. Aber es waren keine Felsen, die diese Höhle umschlossen. Sie tastete mit der rechten Hand entlang der Unterlage, auf der sie lag. Sie fühlte sich sehr weich an, aber das Mädchen hatte dieses Material noch nie zuvor berührt. Sie versuchte, sich zu erheben, um nach Wasser zu suchen, denn ihre Zunge war geschwollen und ihr Gaumen sehr trocken. Neben dem Gestell, auf dem sie lag, stand ein Gefäß. Sie streckte ihre Hand aus und fühlte mit einem Finger, was das Gefäß enthielt. Es war kaltes Wasser. Sie nahm das Gefäß in beide Hände und trank das Wasser in kleinen Schlucken. Danach fühlte sie sich etwas besser, stellte das Gefäß zurück, legte sich wieder auf das Gestell und schlief ein. Als sie das nächste Mal erwachte, war es in der Höhle taghell. Die Sonne schien durch ein großes gleichmäßiges Loch in der Wand. Da öffnete sich ein Teil der gegenüberliegenden Wand und ein Mensch betrat den Raum. Neugierig betrachte das Mädchen diesen Menschen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie hatte Recht mit ihrer Vermutung, dass dort, wo die Vögel hinflogen, auch Menschen wohnen würden. Der Mensch ähnelte etwas den Männern, die es aus dem Versteck heraus beobachtet hatte, wie sie versuchten, den Eingang zum Wald zu finden. Er hatte auch eine helle Haut und helle mittellange Haare auf dem Kopf, aber keine im Gesicht. Der Fremde war deutlich größer als die Sonnenkinder, trug eine fremdartige Kleidung und betrachtete sie genauso neugierig wie sie ihn. Dann kam er näher, öffnete den Mund und sprach sie an. Sie konnte leider nichts verstehen, erkannte aber jetzt, dass der Mensch eine Frau war und sie freundlich ansah. Das Sonnenkind wollte etwas antworten, aber es konnte nicht sprechen. Seine Zunge schien am Gaumen festzukleben. Es beugte sich hinüber zum Gefäß und trank erneut vorsichtig von dem kühlen Wasser. Die Frau beobachtete das Sonnenkind eine Weile, verließ dann das Zimmer, um kurz darauf in Begleitung eines großen Mannes wiederzukommen, der ebenfalls eine helle Hautfarbe, aber lange hellgraue Haare auf dem Kopf und im Gesicht hatte. Er ähnelte den fremden Männern, die sie in der Nähe ihres Dorfes gesehen hatte.

      Er zog ein kleines Gestell heran, auf das er sich setzte und betrachtete sie. Die Frau stellte sich neben ihn. Der Mann zeigte auf die Stirn des Mädchens. Dann holte er etwas aus der Tasche und hielt es dem Sonnenkind hin. Das Mädchen ergriff vorsichtig den Stiel, hielt den Gegenstand hoch und betrachtete ihn neugierig. Dann stieß es einen Schrei aus, ließ den Gegenstand fallen und schloss ängstlich die Augen. Das Mädchen hatte gerade zum ersten