Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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den Bestand an Zeichenblöcken und Stiften, sowie alle Schulbücher und verpackte alles in mehreren alten Kisten. Anschließend legte sie alle noch verfügbaren Wasserflaschen, Brot und Obst in einen alten Rucksack, der an der Wand hing und brachte alles ins Auto. Dann fuhr sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie kannte die Richtung und hoffte, eine möglichst weite Strecke mit dem Land Rover zurücklegen zu können. Es klappte besser, als sie vermutet hatte. Die letzten dreißig Kilometer musste sie allerdings laufen. Aber das war für sie kein Problem. Sie schulterte den Rucksack und machte sich auf den Weg. Je näher sie dem Dorf der Sonnenkinder kam, umso nervöser wurde sie. Und dann war es soweit. Sie erblickte die Felsformation, die den Wald umschloss und wurde schon bald von drei Männern ihres Stammes entdeckt. Die drei kamen vorsichtig auf sie zu, denn sie konnten offensichtlich nichts mit ihr anfangen. Als sie sich gegenüberstanden, zeigten die Männer verwundert auf die helle Stelle in Form einer Sonne auf Annas Stirn. Die kleine Sonne leuchtete besonders hell und pulsierte heftig.

      „Wer bist du, Weise Alte?“ fragte der Mutigste von ihnen.

      „Ich bin ein Sonnenkind wie ihr. Aber ich war sehr lange fort. Bitte bringt mich zur Weisen Mutter.“

      „Wir haben seit kurzem eine neue Weise Mutter. Die alte ist überraschend verstorben. Folge uns.“

      In der Nähe des Zugangs zum Wald blieben die drei unschlüssig stehen. Anna ging an den Männern vorbei, trennte mit ihren Händen den Vorhang aus Schlingpflanzen und betrat die Felsspalte, wo sie von den Lianen abgetastet wurde. Anna schloss die Augen und genoss es, von den Pflanzen berührt zu werden. Dann verließ sie den Zugang, trat hinaus in den Wald, blieb stehen und verharrte einen Augenblick. Anschließend machte sie sich auf den Weg zur Höhle der Weisen Mutter. Dort wurde sie zuerst von den Insekten „begrüßt“, die die Höhle bewachten. Anna freute sich, von ihnen eingeschlossen und überprüft zu werden. Dann trat sie ein. Auf einem kleinen Felsvorsprung saß die junge Weise Mutter und hatte die Augen geschlossen.

      „Guten Tag, Weise Mutter, wie geht es dir?“

      Die Weise Mutter öffnete die Augen und sah Anna an.

      „Du warst sehr lange fort, meine Freundin und hast dich sehr verändert. Komm mit mir ins Licht, ich möchte dich genau betrachten.“ Die beiden Frauen gingen vor die Höhle. Dort hatten sich mittlerweile viele Sonnenkinder versammelt, denn die drei Männer waren von Höhle zu Höhle gelaufen, um zu verkünden, dass eine alte Frau gekommen war, die wie eine alte Weise Mutter aussah. Die Weise Mutter führte Anna zu der Höhle, die direkt neben ihrer lag.

      „Du hast sicherlich viel zu erzählen. Aber ruhe dich jetzt erst einmal aus. Hast du irgendeinen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?“

      „Ja, den habe ich. Ich wünsche mir ein neues Kleid, und ich habe auch noch eine Bitte. Ich habe in der Wüste Sachen zurückgelassen, die ich nicht alleine tragen konnte. Kannst du mir morgen die drei Männer mitgeben, die mich gefunden haben, damit sie mir beim Tragen helfen?“

      „Dein Wunsch und deine Bitte sind erfüllt.“

      Am nächsten Tag machte sich Anna mit den Männern auf den Weg zum Auto und die Weise Mutter rief alle Sonnenkinder zusammen, um sie darüber zu informieren, wer die Frau mit den weißen Haaren war. Die alten Frauen und Männer konnten sich noch gut an das Mädchen erinnern, dass vor vielen Jahren verschwunden war. Aber sie wollten nicht glauben, dass es sich bei dem Mädchen von damals und der Frau mit den weißen Haaren um ein und dieselbe Person handelte. Die Weise Mutter ging zurück in ihre Höhle und dachte an die Zeit zurück, als sie im Alter von zehn Jahren zu der Weisen Mutter gezogen war, um auf ihre Rolle als Weise Mutter vorbereitet zu werden. Sie war damals sicher, dass das ein Jahr jüngere Mädchen besser geeignet war, die neue Weise Mutter zu werden und hatte auch mit der Weisen Mutter oft darüber gesprochen. Aber sie hatte nie eine Antwort bekommen, aus der sie ableiten konnte, wie die Weise Mutter darüber dachte. Jetzt war ihre Freundin von damals wieder da und hatte wahrscheinlich in der Zwischenzeit mehr erlebt und gelernt, als es allen Sonnenkindern jemals möglich sein würde. Sie beschloss, die Heimkehrerin zu ihrer engsten Vertrauten zu machen und von ihrer Erfahrung und ihrem Wissen zum Wohl des Volkes der Sonnenkinder zu profitieren. Und damit die Sonnenkinder verstanden, welche Rolle sie ihrer alten Freundin zugedacht hatte, gab sie ihr den Namen „die Weise Alte“. Sie konnte nicht wissen, dass einer der Männer, die Anna als erste begegnet waren, ihr schon diesen Namen gegeben hatte.

      Als Anna mit den drei Männern zurückkam, wurde sie von der Weisen Mutter in Empfang genommen, denn die Königin der Sonnenkinder war genauso neugierig wie ihr Volk, um welche Schätze es sich handelte, die die Weise Alte aus ihrem anderen Leben mitgebracht hatte. Aber die Kisten, die die Männer in Annas Höhle trugen, enthielten nur Briefe, Bücher, Zeichenblöcke und Stifte. Mit all diesen Dingen konnten die Sonnenkinder, die kein Papier und keine Schrift kannten, nichts anfangen.

      Nachdem die Männer die Kisten in Annas Höhle transportiert hatten, ging sie zur Weisen Mutter. Auf dem Felsvorsprung lag ein Kleid aus Pflanzen für sie bereit.

      „Wenn du einverstanden bist, möchte ich dich zu meiner engsten Vertrauten machen. Morgen gehe ich länger in den Wald. Willst du mich begleiten?“

      „Ich danke dir für dein Vertrauen und werde dich nicht enttäuschen. Und auf den Wald freue ich mich besonders.“

      Die Sonne auf der Stirn der Weisen Alten strahlte hell und pulsierte stark.

      Am nächsten Morgen machten sich die beiden Frauen auf den Weg tief in den Wald hinein. Es war dort ungewöhnlich ruhig. Die Weise Mutter ging voran und die Weise Alte folgte ihr. Da schwoll der Geräuschpegel an, und von allen Seiten kamen Vögel und Insekten angeflogen und umkreisten die Weise Alte. Anna war sehr glücklich und spürte, dass sie jetzt wieder zuhause war. Und noch eines wurde ihr bewusst: Anna gab es nicht mehr. Von nun an würde sich die Weise Alte wieder ganz in den Dienst ihres Volkes, dem Volk der Sonnenkinder, stellen.

      6 Die Weise Alte

      Die Weise Alte saß tagelang mit der Weisen Mutter zusammen, um ihr von den letzten Jahren in der anderen Welt zu berichten. Besonders interessierte die Weise Mutter ein Bildband, in dem die Sehenswürdigkeiten mehrere Hauptstädte abgebildet waren. Immer wieder sah sie sich den Eiffelturm an und konnte nicht glauben, dass Menschen in der Lage waren, einen Turm zu bauen, der fast in den Himmel reichte.

      „Wie heißt der Ort, an dem dieser Turm steht?“

      „Paris.“

      „Bist du schon einmal dort gewesen?“

      „Nein, dieses Paris liegt sehr weit von hier in einem anderen Erdteil. Mein Vater Nils hat dort als junger Mann gelebt und wollte mir zu einem späteren Zeitpunkt diesen Ort zeigen. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen, und so werde ich Paris leider nie kennenlernen.“

      Mehrmals die Woche besuchte die Weise Alte mit Zeichenblock und Stiften den Wald, um alles, was ihr bemerkenswert erschien, auf dem Papier festzuhalten. Sie ging auch hinaus in die Wüste, zeichnete die dortige Flora und die verschiedenen Bodenformationen, die sie in der Umgebung des Felsen vorfand. Sie war jedes Mal überrascht, wie viel Schönes und Interessantes die für einen Außenstehenden „tote“ Wüste für jemanden bereithielt, der in der Lage war, die Wüste so zu sehen, wie sie es konnte. Wenn sie mit ihrem Zeichenblock aus dem Wald oder aus der Wüste ins Dorf zurückkehrte, führte sie ihr erster Weg zur Weisen Mutter, um ihr ihre neuesten Zeichnungen zu zeigen.

      Die Jahre gingen ins Land und das Zeichenpapier war schon lange aufgebraucht. Die Weise Mutter hatte inzwischen die Weise Tochter bei sich aufgenommen, um sie zu erziehen und auf ihre Rolle als Königin der Sonnenkinder und der Tiere und Pflanzen im Wald vorzubereiten. Die Weise Alte stand der Weisen Mutter weiterhin als Ratgeberin zur Seite. Dann kam der Tag, dass die Weise Mutter verstarb und ihre Nachfolgerin Königin wurde. Auch die neue Weise Mutter suchte die Nähe der Weisen Alten, denn sie war froh, dass sie jemanden um Rat fragen konnte, wenn die Last der Verantwortung, die ihr Amt mit sich brachte, zu schwer für sie wurde.

      Die Weise Alte verspürte immer noch keine Anzeichen dafür, dass ihre Zeit gekommen