Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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das Gefühl nicht los, dass ich in einer Abteilung arbeite, die zwar den Namen Konfliktlösungen allgemeiner Art trägt, aber trotz der Vielzahl von Konflikten auf dieser Welt arbeitslos oder untätig zu sein scheint. Kannst du mir das mal erklären?“

      „Ich kann deinen Eindruck nachvollziehen. Bei der UNO ist es wichtig, dass es für jedes Problem auf unserer Welt eine Abteilung mit vielen Mitarbeitern aus vielen Ländern gibt, die dieses Problem zur Kenntnis nimmt und aktenkundig macht. Dann beschäftigen sich diese gut bezahlten Mitarbeiter erfolgreich damit, dieses Problem für die Vollversammlung der UNO so aufzubereiten, dass alle Mitgliedsländer der UNO auf der nächsten Vollversammlung ausreichend viele Argumente haben, um einen sinnvollen Lösungsansatz zu blockieren.“

      Rising Sun brauchte einen Augenblick, um das, was er gerade gelesen hatte, zu verarbeiten. Er hatte keinen Zweifel daran, dass der Inder gerade die Wahrheit gesagt hatte.

      „Könnte es uns beiden gelingen, dieses UNO­System zu knacken, um tatsächlich mal einen Konflikt zum Vorteil aller Beteiligten und besonders für den Erhalt unseres Planeten zu lösen?“

      „Ich halte es für möglich und der Gedanke gefällt mir. Ich werde darüber nachdenken.“

      Den restlichen Abend wollte Jonathan alles über Rising Suns Leben und den Stamm der Namenlosen wissen.

      „Gibt es eigentlich ein Wörterbuch, in dem die einzelnen Wörter eurer Sprache aufgelistet sind?“

      „Ein offizielles Wörterbuch gibt es nicht. Aber ich weiß, dass mein Onkel Listiger Fuchs gemeinsam mit seinem Cousin Flinkes Wiesel die Geschichte unseres Stammes aufgeschrieben und ins Englische übersetzt hat. Daraus kann man vielleicht ein Wörterbuch ableiten.“

      „Rising Sun, ich habe zwei Bitten. Du fährst in jeder freien Minute zu deinem Stamm und zu deinen Freunden. Kannst du mich beim nächsten Mal mitnehmen? Ich möchte gerne auch einmal mit deinem Vater unter dem Sternenhimmel philosophieren. Und meine zweite Bitte lautet: Kannst du mir eine Kopie der Geschichte eures Stammes besorgen, denn ich möchte eure Sprache kennenlernen.“

      Wenn sich Rising Sun über diese beiden Bitten wunderte, so zeigte er es nicht.

      „Ich fahre in zwei Wochen wieder nach Hause und du wirst meinem Stamm und meinen Freunden willkommen sein. Eine Kopie der Geschichte unseres Stammes wird dir mein Onkel Listiger Fuchs morgen zumailen.“

      Rising Sun hielt Wort und am nächsten Tag ging eine Mail mit der Geschichte des Stammes der Namenlosen bei Jonathan Confused ein. Der Inder machte sich sofort nach dem Eingang der Mail an die Arbeit, ein Wörterbuch Sprache der Namenlosen ­ amerikanisches Englisch / amerikanisches Englisch ­ Sprache der Namenlosen zu erstellen. Dabei lernte er gleich diese Sprache. Er schickte das Wörterbuch an Listiger Fuchs mit der Bitte um Rückmeldung. Diese kam nach einem Tag per Mail.

      „Sehr geehrter Herr Confused, mein Cousin Flinkes Wiesel und ich sind begeistert. Ist es vermessen, Sie zu bitten, unsere Sprache auch noch ins Spanische zu übersetzen?“

      „Danke für das positive Echo, Listiger Fuchs. Ich mache mich sofort an die Arbeit. Viele Grüße an Flinkes Wiesel. Gruß Jonathan Confused.“

      Es vergingen nur wenige Tage und dann hielt Listiger Fuchs auch dieses Wörterbuch in den Händen.

      Vereinbarungsgemäß nahm Rising Sun seinen Kollegen mit zu seinem Stamm. James holte die beiden mit Brians Privatflugzeug in New York ab. Der Inder trug auch jetzt die gleiche Kleidung wie immer. Er hatte Rising Sun einmal verraten, über dreißig absolut identische Anzüge, Hemden, Fliegen und Schuhe zu besitzen, die von seiner Haushälterin regelmäßig gepflegt wurden.

      Vom Flughafen fuhren sie direkt weiter zu den Goodness‘, wo sie schon von Brian, Suzette und Mary erwartet wurden. Rising Sun hatte seine Freunde darauf vorbereitet, dass der Inder es bevorzugte, per Computer zu kommunizieren und auch den Grund dafür verraten. Auch Suzette war fasziniert, als sie sah, wie virtuos Jonathan die Tastatur des Laptops beherrschte und von einer Sekunde auf die andere vom Englischen ins Französische und umgekehrt wechselte.

      Nach einem kleinen Imbiss und einem großen Glas Guinness verabschiedeten sich Rising Sun und Jonathan Confused und gingen weiter zum Dorf der Namenlosen. Vor dem Kakteenwald wurden die beiden schon von Häuptling Diogenes und seiner Frau Strahlende Sonne erwartet. Rising Sun hatte die beiden vor einer Stunde angerufen, und für seine Eltern war es selbstverständlich, den Arbeitskollegen ihres Sohns am Dorfeingang persönlich in Empfang zu nehmen. Aber sie waren nicht alleine gekommen. Listiger Fuchs, seine sehr schlanke und sehr große Frau Liebliche Kaktee und seine weniger große, sehr vollschlanke und sehr liebliche Tochter Duftende Blume hatten sich den beiden angeschlossen. Rising Sun machte alle miteinander bekannt. Auf dem Weg durch den Kakteenwald zum Häuptlingszelt ließ Duftende Blume den Inder nicht aus den Augen. Man sah ihr deutlich an, dass ihr der Arbeitskollege ihres Cousins sehr gut gefiel. Und wie Rising Sun amüsiert beobachtete, schien das auf Gegenseitigkeit zu beruhen.

      Als sie das Zelt des Häuptlings erreichten, war Scheues Reh, die Zwillingsschwester von Strahlende Sonne, noch dabei, das Essen für die Gäste vorzubereiten. Die Zeit bis zum Essen nutzte Diogenes, um gemeinsam mit seinem Sohn dessen Gast das „Schlafzimmer“ zu zeigen. Der Häuptling hatte eine weitere Tonne besorgt, denn Jonathan wollte unbedingt genau wie Rising Sun und dessen Vater erst philosophieren und danach in einer Tonne schlafen. Als die drei vor der „Gästetonne“ standen, wandte sich der Häuptling an den Inder:

      „Ist das Braungesicht zufrieden mit seiner Schlafstelle?“

      Jonathan war nicht nur zufrieden, sondern begeistert. Er stellte seinen kleinen Koffer neben der Tonne ab und folgte dann den beiden Indianern zurück zum Häuptlingszelt. Mittlerweile war das Essen fertig. Es gab die Spezialität der Zwillingsschwestern: Pemmikan nach Art des Stamms der Namenlosen. Jonathan aß mehrere Portionen, lobte das vorzügliche Essen und eroberte so die Herzen der Schwestern im Sturm.

      Nach dem Essen wollte Rising Sun Jonathan bei einem Verdauungsspaziergang die einmalige Flora und die Tiere in der näheren Umgebung des Dorfes zeigen. Aber bevor die beiden auf den Weg machen konnten, betrat Liebliche Kaktee gemeinsam mit ihrer geschminkt noch lieblicher aussehenden Tochter Duftende Blume das Häuptlingszelt. Mutter und Tochter galten als die besten Schneiderinnen des Stamms der Namenlosen. Liebliche Kaktee hielt ein Paar reich verzierte Mokassins in den Händen und Duftende Blume, die ihrem Namen jetzt wirklich alle Ehre machte, einen Lendenschurz in ihrer rechten Hand. Die beiden Frauen gingen auf den verdutzten Inder zu und forderten ihn unmissverständlich auf, diese Sachen anzuziehen. Leicht errötend sagte Duftende Blume:

      „Wenn sich das Braungesicht bei uns wirklich zuhause fühlen will, sollte es sich auch wie ein Mann unseres Stammes kleiden.“

      Ohne einen Augenblick zu zögern, nahm Jonathan den beiden Frauen den Lendenschurz und die Mokassins ab, verschwand hinter einer Decke, die vor der Zeltwand hing und kam wenige Augenblicke später als echter Indianer, jedenfalls was die Kleidung betraf, wieder zum Vorschein. Über dem linken Arm und in der rechten Hand trug er seine normale Kleidung und die Schuhe. Während Rising Sun, sein Vater und sein Onkel die größte Mühe hatten, ernst zu bleiben, waren die anwesenden Frauen begeistert. Jonathan strahlte mit Duftende Blume um die Wette, verbeugte sich und bedankte sich in der Sprache der Namenlosen, ohne auch nur ein Wort aus einer anderen Sprache zu vermischen. Dann drehte er sich um und verließ das Zelt, um seine Kleidungsstücke neben seiner Tonne ordentlich abzulegen. Rising Sun folgte ihm. Danach zeigte der Indianer seinem Gast die Umgebung des Dorfes. Jonathan genoss das Durchsteifen der Wildnis, wie er es nannte, und war von der Artenvielfalt in dieser für einen Fremden lebensfeindlich erscheinenden Wüstenlandschaft überrascht.

      Als die Sonne unterging, saßen Häuptling Diogenes, Rising Sun und Jonathan Confused vor ihren Tonnen, schauten in den wunderschönen Sternenhimmel und philosophierten noch einige Stunden, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.

      Am nächsten Morgen gab es zum Frühstück erneut Pemmikan und wieder verspeiste der Inder mit großem Genuss mehrere Portionen. Als Jonathan im Anschluss an das Essen gemeinsam mit Duftende Blume einen Spaziergang durch das Dorf machte, nahm der