Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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er wollte die Frauen und Männer, die für ihn arbeiteten, vor seinem Arbeitgeber schützen. Auch wenn die von Wladimir gelieferten Informationen für den KGB sehr wertvoll waren, störte es seine Vorgesetzten, dass sie keine Kenntnis davon hatten, wer die Informanten waren. Aber da sich Wladimir standhaft weigerte, die Namen seiner Informanten zu nennen, forderte ihn seine vorgesetzte Dienststelle auf, unverzüglich nach Moskau zurückzukehren. Kurz nach dieser Aufforderung bekam er von einem hohen KGB­Offizier, dessen Freilassung durch die Amerikaner er früher einmal „geregelt“ hatte, als Dank die Information, dass er ab sofort auf der Abschussliste des KGB stand. Nahezu zeitgleich erreichte ihn über Umwege die gleiche Warnung von einem hohen Mitarbeiter des englischen Geheimdienstes, den er früher einmal enttarnt und ihm auf der Grundlage des „Puschkinsen Systems“ die Gelegenheit gegeben hatte, nach England zu entkommen.

      Wladimir wollte noch seinem Vater persönlich zu dessen 75. Geburtstag gratulieren und sich anschließend in das westliche Ausland absetzten. Er besaß mehre hervorragende Pässe aus verschiedenen Ländern auf verschiedene Namen, eine kleine Wohnung in London und mehrere gut gefüllte Bankkonten in verschiedenen Metropolen Westeuropas. Aufgrund der Warnungen und aus Gewohnheit inspizierte er einige Stunden vor Beginn der Geburtstagsfeier seines Vaters, zu der auch viele ehemaligen Weggenossen seiner Eltern eingeladen waren, die Umgebung des Hauses, in dem seine Eltern seit vielen Jahren wohnten. Er trug eine Verkleidung, in der er wie ein alter, gebrechlicher Mann aussah. Schnell entdeckte er die Kollegen vom KGB, die betont unauffällig das Haus seiner Eltern beobachteten und abschirmten. Ihm war sofort klar, was dies bedeutete. Der KGB wollte ihn hier und heute festsetzten. Er ging zurück zu seinem Hotel, wo er unter falschem Namen und mit einem dazu passenden Ausweis eingecheckt hatte. Den Ausweis hatte er sich ohne Kenntnis des KGB in Warschau besorgt. Von einer Telefonzelle rief er seinen Vater an:

      „Ja, bitte?“

      „Guten Tag, Vater, ich möchte dir gerne zu deinem 75. Geburtstag gratulieren.“

      „Kommst du denn nicht zu meiner Feier, Ullrich? Deine Mutter und ich freuen uns sehr auf dich, denn wir haben dich schon sehr lange nicht mehr gesehen.“

      „Lieber Vater, du warst vielleicht ein guter Diplomat und bist auch heute noch ein loyaler Bürger der kommunistischen Sowjetunion, aber als Mitarbeiter des KGB taugst du nicht. Ich werde dich weder heute noch in Zukunft besuchen. Bitte bestelle meinen Kollegen vom KGB, dass ich fristlos kündige. Bitte grüß meine Mutter von mir.“

      Wladimir legte auf und starrte durch die Scheibe der Telefonzelle nach draußen. Das Verhältnis zu seinen Eltern war nie sehr eng, denn sie hatten sich immer nur sehr oberflächlich um ihn gekümmert. Für sie gab es nur die Kommunistische Partei, die immer ihr Leben bestimmt hatte und auch bis zu ihrem Tod bestimmen würde. Trotzdem machte ihn der Gedanke traurig, dass er seine Eltern mit hoher Wahrscheinlichkeit nie mehr wiedersehen würde. Er blieb die nächsten beiden Tage die meiste Zeit in seinem Zimmer und beobachtete die Umgebung des Hotels. Als er sich sicher war, dass der KGB nicht wusste, wo er sich gerade aufhielt, verließ er Dresden. Über Warschau und Budapest reiste er zu seiner Londoner Wohnung. Von dort informierte er zuerst die Frauen und Männer, die für ihn arbeiteten und anschließend den englischen Kollegen, der ihn gewarnt hatte, davon, dass er nicht mehr für den KGB tätig war. Das spontane Angebot des Engländers, für den britischen Geheimdient zu arbeiten, lehnte er dankend ab. Dann tauchte er erstmal für längere Zeit unter, hielt aber weiterhin Kontakt zu seinen ehemaligen Informanten.

      Zum Ende des Warschauer Paktes hielt Wladimir den Zeitpunkt für gekommen, nun wieder den Kontakt zu ehemaligen Kollegen vom KGB aufzunehmen, die unter den neuen Machthabern in Russland keine Chance hatten, ihre Arbeitsstelle zu behalten und erst einmal ohne Perspektive waren. Unter ihnen waren etliche exzellente Fachleute aus den unterschiedlichsten Gebieten. Er bot diesen Männern und Frauen an, für ihn zu arbeiten. Denn er plante, eine Personalagentur der besonderen Art ins Leben zu rufen. Die meisten der angesprochenen Ex­KGB­Mitarbeiter sagten nicht nur mangels Alternative zu, für ihn zu arbeiten, sondern auch, weil sie gute Erinnerungen an ihren ehemaligen Kollegen hatten und ihm vertrauten.

      Das Ende des Kalten Krieges führte dazu, dass sich an vielen Stellen dieser Welt neue Machtblöcke mit neuen Mächtigen und neuen Bündnissen bildeten. Das hatte zur Folge, dass diese neuen Mächtigen in ihren Ländern professionelle Unterstützung von außen benötigten, um ihre frische Macht zu sichern. Da dadurch die Nachfrage nach genau den Fachleuten und Spezialisten sehr groß war, die Wladimir vermittelte, wurde er schnell zu einem sehr wohlhabenden Mann.

      Wladimir hatte sich vor fünf Jahren dazu entschieden, in den Ruhestand zu gehen. Aber er war sich darüber im Klaren, dass er diesen nur würde genießen können, wenn der Übergang perfekt vorbereitet und durchgeführt wurde. Er traf sich mit dem einzigen Menschen, dem er wirklich vertraute, einem Engländer namens Tom. Ihn informierte er über sein Vorhaben.

      „Das ist deine Entscheidung, Wladimir, die ich respektiere, auch, wenn ich sie bedaure.“

      „Hast du Interesse daran, meine Firma zu übernehmen und in meinem Sinn weiterzuführen?“

      „Interesse schon, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mir deinen Laden leisten kann.“

      „Ich habe da eine Idee.“

      Die nächste Stunde hörte Tom aufmerksam zu.

      Zwei Monate später stellte Wladimir Tom seinen Mitarbeiter(innen) als seinen potenziellen Nachfolger vor und einen Monat später verunglückte der Russe auf mysteriöse Weise tödlich. Obwohl der Tod ihres ehemaligen Chefs offiziell bestätigt wurde, gaben seine Mitarbeiter(innen) nie die Hoffnung auf, dem Chamäleon irgendwann irgendwo noch einmal zu begegnen. Wenn nicht auf dieser Welt, dann vielleicht in einer anderen.

      Seitdem wohnte Wladimir alias Bill Bush in New York unerkannt und unbehelligt in einem großen Apartment in der Nähe des Central Park. Ein Bekannter, der ihm noch einen großen Gefallen schuldig war, hatte ihm dabei geholfen, dass sein Lebenslauf in den USA lückenlos bis zu seiner Geburt in einem kleinen Ort in New England zurückverfolgt werden konnte.

      Sein Tagesablauf lief immer nach dem gleichen Schema ab: Um 6.00 Uhr aufstehen, eine Stunde joggen, kleines Frühstück, anschließend eine Massage und danach eine Stunde entspannen. Dann ging Wladimir zum nächsten Kiosk, kaufte alle interessanten Zeitungen und setzte sich in eines der zahlreichen New Yorker Cafés, um die Zeitungen in aller Ruhe und sehr intensiv zu lesen. Regelmäßig telefonierte er mit Tom, der als einziger Mensch wusste, wo er lebte. Der Engländer führte das übernommene Unternehmen in seinem Sinne weiter und baute es sogar noch aus.

      Eines Tages meldete sich der Engländer außerplanmäßig bei ihm.

      „Hallo Wladimir, es würde mich nicht wundern, wenn du Langeweile hast. Ich hätte da einen Job für dich, natürlich nur, wenn du Lust hast. Es handelt sich um eine interessante und gut dotierte Aufgabe. Du müsstest einen Mann unter die Lupe nehmen und alles Wichtige über ihn herausfinden, besonders seine Stärken und Schwächen. Ich weiß bis heute nur sehr wenig über diese Person und möchte gerne herausfinden, warum das so ist.“

      „Du hast Recht, Tom, es kribbelt mir wieder in den Fingern. Ich schlage vor, dass wir uns in zwei Tagen in New York treffen. Sagen wir, um 12.00 Uhr.“

      Danach folgte eine genaue und verschlüsselte Beschreibung des Treffpunkts.

      „Ich werde pünktlich sein und freue mich, dich wiederzusehen“. Tom betrat aus alter Gewohnheit den Central Park schon um 11.00 Uhr und sondierte die Umgebung des Treffpunkts. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, konnte aber niemanden entdecken, der ein besonderes Interesse an seiner Person zeigte. Um Punkt 12.00 Uhr setzte er sich auf die vereinbarte Bank. Es dauerte nur wenige Sekunden und Wladimir stand wie aus dem Nichts vor ihm und lächelte ihn an. Tom stand auf und umarmte seinen Freund.

      „Du siehst gut aus, mein Freund. Die Langeweile und die New Yorker Luft scheinen dir gut zu bekommen.“

      „Danke für das Kompliment, Tom. Ich fühle mich auch sehr gut.“

      Die beiden setzten sich. Tom holte einen dünnen großen Umschlag aus seiner Jackentasche und übergab ihn an