Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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      Und dann erläuterte der Indianer den beiden, wie er vorgehen würde. Wladimir konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Indianer hatte wirklich Potenzial. Der Inder wollte nicht zurückstehen und brachte auch noch einen Vorschlag ein. Rising Suns Gesichtsausdruck änderte sich vollkommen. Er sah die beiden an und schmunzelte.

      „Jonathan, Wladimir, ich bin jetzt davon überzeugt, dass die Konferenz ein voller Erfolg wird. Das müssen wir feiern.“

      8 Wladimir Puschkin

      Ullrich Walter erblickte ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als einziges Kind seiner Eltern Karl und Rosa L. Walter in Ostberlin das Licht der Welt. Karl und Rosa L. waren überzeugte Kommunisten und bekämpften mit Gleichgesinnten Ende der zwanziger Jahre den immer stärker werdenden Faschismus in Deutschland. 1932 emigrierten die beiden nach Moskau, studierten dort Politikwissenschaften und durchliefen anschließend eine Ausbildung für den diplomatischen Dienst. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges kämpften sie an verschiedenen Einsatzorten gegen Nazideutschland. Nach der Kapitulation wurden sie nach Deutschland entsandt, um dort darüber zu wachen, dass die Interessen der Sowjetunion im Nachkriegsdeutschland jederzeit gewahrt blieben. Ende der 40er Jahre wechselten die Walters als Diplomaten für vier Jahre an die russische Botschaft nach Peking. Dort erlernte Ullrich die in China am weitesten verbreitete Sprache Mandarin. Anschließend lebten die Walters vier Jahre in Nordkorea, wo Karl und Rosa L. maßgeblich an den Vorbereitungen des Waffenstillstandsabkommens im Koreakrieg beteiligt waren. Nach den vier Jahren beherrschte Ullrich die koreanische Sprache. Dann kehrten die Walters zurück nach Moskau, denn die Eltern wollten, dass Ullrich in der Sowjetunion das Gymnasium besuchen und auch später dort studieren sollte. Ullrich hatte in China, in Nordkorea und dann in der Sowjetunion verschiedene Facetten des real existierenden Kommunismus und Sozialismus kennengelernt und seine Eltern gaben sich die größte Mühe, um aus ihrem Sohn einen überzeugten Kommunisten zu machen. Aber Ullrich hatte schon als kleiner Junge ein großes Problem damit, permanent seine eigenen Gefühle, Interessen und Wünsche einer autoritären Obrigkeit unterzuordnen. Mit der Zeit taten ihm seine Schulkolleginnen und Schulkollegen leid, die aus seiner Sicht ohne eine persönliche Perspektive zu haben, Tag und Nacht alles taten, um der Obrigkeit zu gefallen und zu dienen. Jegliche Art von Eigeninitiative war unerwünscht und wurde mit brutaler Gewalt unterdrückt.

      Ullrich lernte sehr schnell, sich so zu verhalten, dass er zum einen in der Masse nicht auffiel und zum anderen in der Lage war, seine eigene Persönlichkeit zu wahren.

      Nachdem Ullrich erfolgreich sein Abitur bestanden hatte, trennten sich die Wege der Walters. Die Eltern gingen zurück nach Deutschland und wohnten fortan in Dresden, wo sie jetzt für den russischen Geheimdienst tätig waren.

      Ullrich überlegte, was er nach dem Abitur machen sollte. Die Armee interessierte ihn nicht, obwohl er davon überzeugt war, dass ein Land eine starke Armee benötigt, um sich wirksam verteidigen zu können. Da er dem Land, das seine Ausbildung ermöglicht und finanziert hatte, etwas zurückgeben wollte, bewarb er sich beim KGB, wo er die Offizierslaufbahn einschlug. Voraussetzung dafür war allerdings, dass er seinen Namen änderte. Ullrich Walter klang zu Deutsch. Er durfte sich einen neuen, russisch klingenden Namen aussuchen und entschied sich für Wladimir Puschkin. Seine Ausbilder bemerkten schnell, dass Wladimir über eine besondere Fähigkeit verfügte: Er konnte trotz seiner Größe von 1,95 Metern, der hellblonden Haaren und den stahlblauen Augen in Sekundenschnelle sein Aussehen derart verändern, dass er selbst von seinen Ausbildern und Kollegen nur schwer zu erkennen war. Dieses Talent erkannte schon während der Schulzeit seine Lieblingslehrerin, die neben ihrer eigentlichen Tätigkeit als Russischlehrerin das Schultheater leitete. Ullrich spielte ohne große Vorbereitung völlig verschiedene Charaktere und passte sein Äußeres der jeweiligen Rolle an. Nach dem Abitur entwickelte er diese Fähigkeit in seinen eigenen vier Wänden weiter. Er verbrachte an manchen Tagen Stunden damit, immer wieder in neue Rollen und die dazu passenden Kleider zu schlüpfen. Sein Ausbildungsleiter beim Geheimdienst nannte ihn später „unser Chamäleon“. Nach dem erfolgreichen Abschluss an der KGB­Hochschule arbeitete er als KGB-Offizier in der Abteilung Spionageabwehr. Wladimir war trotz seiner Ausbildung und der permanenten Versuche der Ausbilder, ihn zu indoktrinieren, ein völlig unpolitischer Mensch geblieben, der seine Arbeit in erster Linie unter sportlichen Gesichtspunkten sah. Da er die Gabe besaß, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen und so die nächsten Handlungsschritte „seines Opfers“ vorauszusehen, konnte er schon bald eine stattliche Erfolgsbilanz bei der Enttarnung feindlicher Agenten vorweisen. In einem Punkt unterschied sich seine Arbeitsweise von der aller anderen Geheimdienstkollegen auf dieser Welt. Wenn er einen feindlichen Agenten enttarnt hatte, lieferte er ihn oder sie nicht an den KGB aus, sondern ermöglichte ihm oder ihr nach der Enttarnung die Flucht, allerdings nur dann, wenn der Geheimdienst des Landes, für den seine Berufskollegen oder -kolleginnen arbeiteten, als Gegenleistung auf dem kleinen Dienstweg die Freilassung von inhaftierten Spionen der Sowjetunion garantierten. Das „Puschkinsche System“ war sehr erfolgreich und wurde besonders von den sowjetischen Agenten und Agentinnen, die durch dieses System schnell und unbürokratisch freikamen, sehr positiv gesehen. Auch bei den feindlichen Geheimdiensten stieg der Respekt vor Wladimir für dessen hochprofessionelle Arbeit und seinen fairen Umgang mit seinen Kollegen und Kolleginnen. Mehrfach versuchten andere Geheimdienste, ihn abzuwerben, aber er fühlte sich seinem Land und seinem Arbeitgeber gegenüber verpflichtet und hatte deshalb kein Interesse, die Seiten zu wechseln. Da er sich standhaft weigerte, nach den beim KGB und auch bei allen anderen namhaften Geheimdiensten geltenden Spielregeln zu arbeiten, forderten seine direkten Vorgesetzten seine sofortige Entlassung. Aber da es in der KGB­Führung erfahrene Männer gab, die das „Puschkinsche System“ zwar offiziell nicht guthießen, aber seine Effektivität zu schätzen wussten, wurde er nicht entlassen, sondern versetzt. Als Aufhänger dafür diente eine misslungene Austauschaktion in Berlin, bei der mehrere Menschen zu Tode kamen.

      Wladimir sollte fortan bei den kapitalistischen Feinden Agenten für den KGB rekrutieren. Schwerpunktmäßig wurde er in Westdeutschland, der Schweiz, in Frankreich, den Beneluxstaaten und in England eingesetzt. Er bekam von seiner neuen Abteilung eine umfangreiche Liste, in der die aus der Sicht des KGB wichtigen Zielobjekte (Unternehmen, Banken, Behörden, Ministerien) und mögliche Kandidaten (m/w) für eine Anwerbung verzeichnet waren. Er analysierte die Struktur der Zielobjekte vor Ort und beobachtete die vorgegebenen Zielpersonen über mehrere Wochen. Schnell kam er zu der Erkenntnis, dass zwar die Zielobjekte durchaus interessant, aber die Zielpersonen nicht die Richtigen waren. Er traf seine eigene Auswahl. Bei den weiblichen Kandidaten halfen ihm sein Charme und sein Einfühlungsvermögen. Seine Stärke war die Anwerbung von ledigen Frauen, die zwar gerne einen Mann näher kennenlernen wollten, aber Angst davor hatten, an den Falschen zu geraten und deshalb lieber alleine blieben und von verheirateten Frauen, die sich von ihren Männern vernachlässigt und nicht mehr als attraktiv wahrgenommen fühlten. Er suchte den Kontakt zu diesen Frauen und gab ihnen das Gefühl, begehrenswert zu sein. Es fiel ihm leicht, die Rolle des einfühlsamen Gentlemans zu spielen, denn er fand, dass alle Frauen begehrenswert waren, jede auf ihre Art. Wenn er die Frauen näher kennengelernt hatte und sie ihn, spielte er mit offenen Karten. Er erzählte, dass er für einen Geheimdienst arbeite – aber nicht für welchen – und sich für bestimmte Informationen interessiere. Die Frauen fanden es sehr aufregend und spannend, wenigstens für eine kurze Zeit von einer realen Ausgabe von James Bond begehrt und geliebt zu werden. Und so kam es, dass die von Wladimir angeworbenen Frauen sehr motiviert, äußerst effektiv und in den meisten Fällen sogar unentgeltlich für ihn arbeiteten.

      Bei den männlichen Zielpersonen fand er ebenfalls schnell eine erfolgversprechende Zielgruppe, die besonders geeignet für eine Anwerbung waren: Männer, die Probleme mit ihrer Partnerin, in ihrem beruflichen Umfeld oder sich hoch verschuldet hatten. Oft trafen auch zwei oder alle drei Gründe zu. Diesen Männern näherte er sich als verständnisvoller Zuhörer, Helfer in der Not und erfolgreicher Problemlöser.

      Nach weniger als einem Jahr verfügte Wladimir über eine ausreichende Zahl an Mitarbeitern, die alle sehr erfolgreich für ihn arbeiteten. Da die Berichte seiner Mitarbeiter oft auch Daten und Informationen enthielten, die zwar nicht für den KGB, aber für Dritte von großem Interesse waren, verkaufte er diesen