Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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philosophiert wie einer von uns, hat uns ein Wörterbuch geschenkt und, was am meisten zählt, unsere Frauen mögen ihn. Sag ihm, dass er jederzeit bei uns willkommen ist.“

      Zurück in New York suchten die beiden als erstes ihr Stammlokal auf. Nach dem Essen erhob der Inder feierlich sein Guinnessglas und sagte, wieder ohne ein Wort aus einer anderen Sprache zu vermischen, in der Sprache der Namenlosen:

      „Die letzten Tage waren die schönsten in meinem Leben. Dafür danke ich dir, Indianer. Als kleines Dankeschön werde ich dir in einer Woche an dieser Stelle einen Vorschlag präsentieren, wie wir deinem Ziel, die Menschen auf der Erde wachzurütteln, damit sie endlich erkennen, dass sie ihr tägliches Verhalten überdenken und ändern müssen, einen Schritt näherkommen. Ich denke da einen Konflikt im Pazifikraum, den wir so lösen müssen, dass alle beteiligten Staaten freiwillig von ihren Positionen abrücken und zu Gunsten der Natur zurückstecken. Aber das wird eine harte Nuss.“

      Bei dem Wort „freiwillig“ kniff Jonathan Rising Sun vertraulich ein Auge zu.

      Eine Woche später trafen sich die beiden auf Wunsch des Inders schon zur Mittagszeit in ihrem Stammlokal. Jonathan kam etwas später, denn er musste noch ein paar Details in seine Präsentation einpflegen, die er für den Indianer vorbereitet hatte. Nach einer reichlichen Mahlzeit für den Inder und einem doppelten irischen Verdauungswhiskey für den Indianer erläuterte Jonathan Rising Sun zuerst die spezielle Konfliktsituation im Pazifikraum. Er benutzte zur Unterstützung wieder seinen Computer, denn der Wortschatz der Namenlosen reichte bei weitem nicht aus, um die komplizierten politischen Zusammenhänge und Spitzfindigkeiten auszudrücken.

      „Es gibt eine Inselgruppe im Pazifikraum, genauer gesagt im Nordwest-Pazifischen Becken. Die Inseln dieser Gruppe sind vulkanischen Ursprungs und werden immer wieder von leichten bis mittelschweren Erbeben und damit verbundenen Stürmen und Überschwemmungen heimgesucht. Die Inseln sind für Menschen unbewohnbar, aber sie beheimaten eine einmalige Tier- und Pflanzenwelt, die sich den Naturgewalten angepasst hat. Viele der vorkommenden Pflanzen- und Tierarten gibt es nur dort. In der Vergangenheit hat sich außer dem einen oder anderen Forscherteam kein Mensch und kein Staat für diese Inseln interessiert. Aber seit es vor zwei Jahren die ersten Meldungen gab, dass es in den Gewässern rund um diese Inseln riesige Gas- und Erdölvorkommen und auf den Inseln selbst zahllose Bodenschätze geben soll, melden immer mehr Länder Ansprüche auf den Besitz dieser Inselgruppe an. Niemand weiß, wer diese Meldungen vor welchem Hintergrund in die Welt gesetzt hat. Obwohl mittlerweile belastbare Untersuchungen von verschiedenen anerkannten Spezialisten belegen, dass, falls es dort überhaupt Bodenschätze gibt, diese nur unter größten und lebensgefährlichen Anstrengungen und absolut unwirtschaftlich gewonnen werden können, streiten sich die Chinesen, Japaner, Koreaner und Vietnamesen um diese Inselgruppe. Und seit vor einigen Monaten auch noch die Amerikaner Ansprüche auf die Ausbeutung der Bodenschätze dieser Inselgruppe angemeldet haben, ist der Ton zwischen den beteiligten Ländern zusehends rauer und aggressiver geworden. Ich habe deshalb vor einigen Wochen von unserem Chef die Aufgabe bekommen, eine Konferenz mit den beteiligten Staaten vorzubereiten, mit dem Ziel, die Wogen zu glätten, was bei dem Sturm, der dort herrscht, nicht sehr leicht sein wird. Zuerst hatte ich keine Lust, viel Energie in die Vorbereitung dieser Konferenz zu investieren, aber seit ich dich, deine Freunde und deinen Stamm kennengelernt habe, spüre ich, dass mit mir eine von mir nicht für möglich gehaltene Veränderung vorgeht. Ich werde dich deshalb ab sofort aus vollem Herzen und mit allen mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei der Erreichung deiner Ziele unterstützen und habe gestern unserem Chef mitgeteilt, dass du dich dieses Konfliktes annehmen und auf deine Art eine Lösung herbeiführen möchtest. Er hat sofort zugestimmt, denn er ist neugierig, wie der ‚Naturbursche‘, wie er sich ausdrückte, dieses Thema angeht. Uns stehen wie immer, wenn ich mich in der Regel erfolglos um die Lösung eines Konfliktes bemühe, nahezu unbegrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung. Allerdings erwartet unser Chef dafür auch immer ein positives Ergebnis. Das hört sich auf den ersten Blick widersprüchlich an, aber ‚positives Ergebnis‘ bedeutet für unseren Chef, wenn er in der Presse liest: ‚Die UNO hat alles Mögliche getan, um den Konflikt zu lösen. Aber zurzeit stehen sich die einzelnen Konfliktparteien noch unversöhnlich gegenüber. Trotzdem lässt die UNO auch weiterhin nichts unversucht, um mit den Konfliktparteien in einem intensiven und fruchtbaren Dialog zu bleiben.‘ Und wenn es mal den unwahrscheinlichen Konflikt gibt, auf den noch nicht einmal diese Phrase zutrifft, habe ich mit den Redaktionen der Zeitungen, die der Chef regelmäßig liest, die Vereinbarung getroffen, dass die jeweiligen Verlage mindestens ein Extraexemplar für meinen Chef drucken, in dem der vorgenannte Wortlaut: ‚Die UNO scheut weder Mühen noch Geld, um mit den Konfliktparteien in einem fruchtbaren und intensiven Kontakt zu bleiben‘ als Schlagzeile zu lesen ist. Dafür bin ich den Redakteuren ab und zu einen Gefallen schuldig.“

      Rising Sun musste das Gehörte erst einmal verdauen. Er dachte an seinen Vater und an dessen Strategie der Konfliktlösung. Es musste einen Weg geben, wie er diese Strategie bei der UNO anwenden und seine persönlichen Ziele erreichen konnte.

      „Das hört sich alles interessant an, Jonathan. Lass uns also damit beginnen, die besagte Konferenz so vorzubereiten, dass unser Chef nicht von mir enttäuscht wird.“

      „Ich mache dir einen Vorschlag, Rising Sun. Wir essen erst etwas und bevor wir mit der Vorbereitung der Konferenz beginnen, stelle ich dir jemanden vor, der maßgeblich daran beteiligt war, die Voraussetzungen für die erfolgreiche Realisierung unseres Plans zu schaffen.“

      Während des Essens beobachtete der Indianer immer wieder unauffällig die Gäste im Lokal.

      „Kann es sein, dass wir schon länger von einem Mann beobachtet werden, der auch schon die letzten Male im Lokal saß, als wir uns hier getroffen haben, aber immer anders aussieht?“

      „Du hast gute Augen, Indianer. Ja, es kann sein. Aber du kannst mir vertrauen. In diesem Lokal verkehren nur die Guten.“

      „Ich vertraue dir, Bruder Hungriges Braungesicht.“

      „Hungriges Braungesicht?“

      „So nennen dich ab sofort die Brüder und Schwestern meines Stammes. Ich hätte nicht gedacht, dass dir unser Ältestenrat überhaupt und dann so schnell einen Namen verleiht. Normalerweise bekommen Fremde keinen Ehrennamen und selbst die Brüder und Schwestern unseres Stammes müssen meist Monate und Jahre auf einen Namen warten. Aber du hattest mächtige Fürsprecher. Die Frauen unseres Stammes haben ihren Männern solange Druck gemacht, bis der Ältestenrat nicht anders konnte, als dir den von den Frauen vorgeschlagen Namen zu verleihen. Bei deinem nächsten Besuch bei uns wird dir dein Name offiziell verliehen. Es gab übrigens noch einen Alternativvorschlag für deinen Namen: Braungesicht mit den schwarzen glänzenden Schuhen.“

      Hungriges Braungesicht nahm seine Brille ab und weinte vor Freude. Rising Sun bestellte zwei neue Guinness und ließ dann seinem Kollegen die nötige Zeit, um sich wieder zu sammeln.

      Nach dem Essen verließ der Inder seinen Platz und ging auf den Mann zu, den der Indianer beobachtete hatte. Die beiden wechselten einige Worte. Dann nickte der Fremde, stand auf, folgte dem Inder zum Tisch, an dem Rising Sun saß und stellte sich dem Indianer vor.

      „Mein Name ist Wladimir Puschkin und ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Rising Sun.“

      Rising Sun erhob sich und sah dem Mann, der fast genauso groß war wie er, lange in die Augen. Dann antwortete er auf Russisch.

      „Ich bin mir sicher, dass wir gut zusammenarbeiten werden, Wladimir.“

      Die drei setzten sich und begannen mit der Vorbereitung einer Konferenz der besonderen Art. Jonathan fasste noch einmal den Hintergrund der Konferenz zusammen. Anschließend erläuterte Wladimir den beiden UNO­Mitarbeitern, wie er vorgehen würde, um die Konferenz zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Der Indianer hörte interessiert zu, ohne eine Regung zu zeigen. Dann ergriff er das Wort:

      „Wladimir, ich bin davon überzeugt, dass dein Vorschlag sehr erfolgversprechend ist, auch wenn ich leichte moralische Bedenken habe. Aber wenn mein Vater Häuptling Diogenes jetzt hier am Tisch säße, würde er sagen: ‚Mein Sohn, wenn du dein hohes Ziel erreichen