Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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      „Bitte schicken Sie mir den Inder Jonathan Confused, Madame Luxuriant. Er erwartet Ihren Anruf.“

      Fünf Minuten später betrat ein dünner kleiner Mann den Raum.

      Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine große schwarze Fliege und schwarze Lackschuhe. Eine Brille mit sehr großen Gläsern, eingerahmt von einer breiten weißen Fassung bedeckte fast sein ganzes Gesicht. Er hatte eine dunkelbraune Hautfarbe und sein kurzes schwarzes Haar war sorgfältig frisiert. Der Inder schien sehr nervös zu sein, denn er zuckte permanent mit den Augen. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte er sich neben Rising Sun.

      „Rising Sun, das ist Jonathan Confused, Mister Confused, neben Ihnen sitzt Rising Sun, mit dem Sie die nächsten Wochen eng zusammenarbeiten werden. Ich bin mir sicher, dass Sie beide gut harmonieren werden, ein brauner und ein roter Inder.“

      Monsieur Représentant schien der Meinung zu sein, einen guten Witz gemacht zu haben und lachte laut. Rising Sun zeigt nach Indianerart keine Reaktion und Jonathan Confused machte den Eindruck, als ob er seinem Chef überhaupt nicht zugehört hatte. Als Monsieur Représentant registrierte, dass sein Witz nicht die positive Resonanz auslöste, die er erwartet hatte, hielt er kurz inne und sagte dann missmutig:

      „Das wäre es für heute, meine Herren. Mister Confused, bitte zeigen Sie Ihrem neuen Kollegen sein Büro. Au revoir, Messieurs.“

      Ohne ein Wort zu sagen, stand der Inder auf und verließ das Büro seines Chefs. Rising Sun folgte ihm. Als die beiden das gemeinsame Büro erreicht hatten, zeigte der Inder auf den freien Platz, setzte sich auf seinen Stuhl und widmete sich sofort seinem Computer. Rising Sun blieb erst einmal stehen, sah sich in dem Büro um und genoss den Ausblick durch die großzügige Fensterfront. Er wusste nicht so recht, was er von dem Verlauf der letzten Viertelstunde halten sollte. Aber er war hier bei der UNO, um etwas zu bewegen und hielt es deshalb für angebracht, sofort die Initiative zu ergreifen. Er ging um den Schreibtisch herum, stellte sich hinter seinen neuen Kollegen, bückte sich und zog den Stecker des Computerkabels aus der Steckdose. Jonathan wollte aufspringen, aber Rising Sun drückte ihn sanft in seinen Stuhl zurück.

      „Jetzt höre mir mal gut zu, mein Freund. Ich bin hier, weil ich den Wunsch habe, die Menschen auf der Erde wachzurütteln, damit sie endlich erkennen, dass sie ihr tägliches Verhalten überdenken und ändern müssen, um wieder das Wohlgefallen Manitus zurückzugewinnen. Und falls du nicht weißt, wer Manitu ist: Er hat diese Welt nach seinen Vorstellungen erschaffen und uns Menschen beauftragt, gut auf sein Werk aufzupassen.“

      Der Inder nahm seine Brille ab und sah seinen neuen Arbeitskollegen mit großen Augen an. Dann folgte ein Redeschwall, von dem Rising Sun kein Wort verstand. Jonathan setzte seine Brille wieder auf und nahm seinen Computer wieder in Betrieb. Dann glitten seine Finger mit einer Geschwindigkeit über die Tastatur des Computers, die Rising Sun noch nie gesehen hatte und ihn faszinierte. Der Indianer konzentrierte sich jetzt auf den Bildschirm und las mit:

      „Indianer, ich habe ein Problem mit dem Sprechen. Deswegen ist es anfänglich besser, du sprichst und ich antworte per Computer.“

      „Ich verstehe nicht, was du meinst, Jonathan.“

      Der Inder holte tief Luft, entspannte sich merklich und wandte sich wieder der Tastatur seines Computers zu:

      „Wie du weißt, heiße ich Jonathan Confused. Mein Familienname scheint mein Schicksal zu sein. Solange ich denken kann, bin ich konfus und verwirre die Menschen, mit denen ich zusammenkomme. Das wird dich jetzt wahrscheinlich verwirren, Indianer. Also fange ich am besten am Anfang an, nämlich bei meiner Geburt. Ich wurde vor 40 Jahren in Kalkutta in Indien geboren, wo ich auch meine Kindheit verbracht habe.

       Ich war das einzige Kind meiner Eltern, die, als ich zehn Jahre alt war, Indien verließen, um in New York für die UNO zu arbeiten. Ich war ein sehr schüchternes Kind und bin auch heute noch kontaktarm. Wenn andere gleichaltrige Kinder in ihrer Freizeit gespielt haben, bin ich in die Bibliothek gegangen und habe mir Wörterbücher ausgeliehen, mit denen ich mich in jeder freien Minute beschäftigt habe. Ich hatte und habe eine sehr gute Auffassungsgabe. Schon nach wenigen Monaten beherrschte ich die jeweilige Sprache, mit der ich mich beschäftigt habe, allerdings mit einer Einschränkung: Ich war in der Lage, die Sprache zu lesen und zu schreiben, hatte aber Schwierigkeiten, sie zu sprechen. Denn in meinem Kopf herrschte bald ein Wörterchaos, dass ich nicht in den Griff bekam und mit der Zeit noch schlimmer geworden ist. Ich kann folgende Sprachen lesen und schreiben: Bengali, Hindi, Englisch, Russisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Chinesisch, Vietnamesisch und Japanisch. Zurzeit beschäftige ich mich intensiv mit Koreanisch und einigen afrikanischen Sprachen. Wenn ich aus meiner Sicht normal spreche, versteht mich niemand, weil ich alle Sprachen durcheinanderwerfe. Deshalb sage ich lieber gar nichts mehr und korrespondier lieber per Computer. Mein Vater war ein guter Bekannter von Monsieur Représentant und hat mich ihm als Back Office Mann empfohlen. Der Monsieur hat schnell meinen Wert für seine Karriere erkannt und mich eingestellt. Seitdem übersetzte ich für meinen Chef den ganzen Schriftverkehr und alle wichtigen und unwichtigen Nachrichten. Und nicht nur das. Ich bereite auch seine Reden vor und bin für die Verteilung und Überwachung des Budgets in seinem Bereich zuständig. Da es in der Vergangenheit nie Anlass zur Kritik an meiner Arbeit gab, lässt er mir absolut freie Hand.“

      „Warum erzählst du mir das alles, Jonathan?“

      „Ich bin kein religiöser Mensch, bin aber genau wie du der Meinung, dass wir alles tun müssen, um unseren Planeten Erde vor dem Untergang zu retten. Dazu müssten wir allerdings den Verantwortlichen auf dieser Welt klarmachen, dass wir Menschen uns unserer Verantwortung für alle Menschen, Tiere und die Natur bewusstwerden und unser tägliches Handeln schnellstens ändern. Hier bei der UNO denken die meisten Beschäftigten nur daran, wie sie möglichst stress- und unfallfrei ihren Feierabend erreichen, ihre reichlich vorhandene Freizeit sinnlos gestalten und ihre Altersvorsorge optimieren können. Ich habe nicht die Power und das Charisma, um hier etwas zu ändern. Aber du hast beides, Indianer, und deshalb das Potenzial, etwas zu bewegen. Lass uns zusammenarbeiten.“

      Nachdem er den letzten Satz geschrieben hatte, stand er auf und streckte Rising Sun seine rechte Hand entgegen. Ohne zu zögern, ergriff der Indianer die angebotene Hand und drückte sie.

      Den restlichen Arbeitstag zeigte der Inder dem Indianer auf seinem Computer, an welchen Stellen in der Welt es zurzeit aus der Sicht der UNO Konfliktherde gab und welche Konflikte als nächstes in der Abteilung von Monsieur Représentant zur Lösung auf der Agenda standen.

      Um 17.00 Uhr verließen die beiden neuen Arbeitskollegen das Bürogebäude der UNO, und zwei Stunden später traf sich Rising Sun mit seinem Freund Karl zum Bier. Karl merkte sehr schnell, dass sein Freund mit den Gedanken woanders war und die beiden trennten sich nach einer Stunde. Zum Abschied klopfte Karl dem großen Indianer aufmunternd auf die Schulter.

      „Wenn du Probleme hast, dich in dem UNO­Dschungel zurecht zu finden, rufe mich an. Ich kann dir vielleicht weiterhelfen.“

      Rising Sun bedankte sich, war sich aber sicher, Karls Hilfe nicht in Anspruch nehmen zu müssen, denn er hielt Jonathan Confused für einen absoluten Dschungelprofi. Und er sollte mit dieser Einschätzung Recht behalten.

      Die nächsten Tage und Wochen nutzte Jonathan damit, dem Indianer die räumlichen, organisatorischen und politischen Strukturen der UNO näher zu bringen. Rising Sun zeigte für alle drei Strukturen kein großes Interesse, denn er hatte das Gefühl, dass sie keinen Beitrag dazu leisten konnten, dass er die Ziele erreichen konnte, wegen derer er Mitarbeiter der UNO geworden war.

      An einem Abend trafen sich die beiden in einem einfachen Restaurant, das seit mehreren Jahren das Stammlokal des Inders war. Zu Rising Suns Überraschung gab es dort neben deutschem und holländischem auch irisches Bier. Er konnte sich gut vorstellen, dass sich hier auch Brian wohl fühlen würde. Die beiden setzten sich an einen Tisch in der Ecke, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Der Inder hatte seinen Computer so auf den Tisch gestellt, dass der Indianer den Bildschirm gut sehen konnte. Rising Sun bestellte nach Rücksprache mit seinem Arbeitskollegen zwei Pint Guinness.

      „Ich danke dir,