Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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von Tante Erna und Onkel Nils vorgestellt habe.“

      Er nahm vorsichtig ihre kleine Hand und drückte sie leicht.

      „Willkommen Hans, schön, dass du da bist.“

      Mehr bekam sie nicht heraus, denn die ganze Situation überforderte sie doch sehr.

      Die beiden unternahmen viele gemeinsame Spaziergänge. Anna zeigte ihm die Tiere und die Pflanzen und Hans erzählte ihr von seiner Heimat und der Nordsee. Besonders von der Nordsee konnte sie nicht genug hören. Sie roch förmlich das Salz der See und träumte davon, einmal am Strand der Nordsee zu stehen, das Rauschen der Wellen zu hören und den Geruch der Gischt einzuatmen.

      Die Wochen vergingen viel zu schnell. Beim Abschied versprach Hans Anna, ihr regelmäßig zu schreiben und seinen nächsten Urlaub wieder in Afrika zu verbringen. Als der Wagen losfuhr, um Hans zum Bahnhof zu bringen, stand Anna auch noch auf der Veranda, als der Wagen schon lange nicht mehr zu sehen war. Sie war glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil sie Hans kennenlernen durfte, und traurig, weil eine innere Stimme ihr sagte, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

      Hans hielt Wort und schrieb ihr fast jede Woche einen Brief, und darin befand sich mindestens eine Karte, auf der die Nordsee zu sehen war. Hans war wie geplant zur Marine gegangen. Dann kam eine Weile kein Brief, weil er auf See war.

      In Afrika rumorte es. Seitdem 1960, dem Afrika­Jahr, viele ehemalige Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen worden waren, kam es in vielen Regionen dieses Kontinents immer wieder zu Unruhen. Verschiedene Stämme kämpften um Macht und Einfluss. Bewaffnete Schwarze wollten Rache an den ehemaligen Kolonialherren nehmen und töteten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte.

      Anna saß wieder einmal mit ihrem Zeichenblock im Gras und zeichnete verschiedene Gräser, die ihr besonders gut gefielen. Da veränderte sich die Luft. Es roch nach Rauch. Sie stand auf und sah, dass dort, wo sie gemeinsam mit Nils und Erna wohnte, Flammen zu sehen waren. Sie legte den Block und die Stifte ins Gras und rannte los. Als sie das Haus sehen konnte, stockte ihr der Atem. Mehrere große schwarze Männer verprügelten laut grölend Nils und Erna. Andere Männer warfen leicht brennbares Material in die Flammen. Sie schrie laut und rannte auf die Männer zu. Als der Anführer sie bemerkte, kam er ihr langsam entgegen. Sie rannte an ihm vorbei und stieß die Männer zur Seite, die Nils und Erna mit Fußtritten traktierten. Anna beugte sich zu den beiden runter und sah sofort, dass jede Hilfe zu spät kam. Die beiden waren bereits tot. Sie stand auf und ging wie in Trance auf den Anführer zu.

      Der hatte sein Gewehr erhoben und zielte auf ihren Kopf. Da zeigte einer der anderen Männer auf Annas Stirn und rief laut: „Ein Sonnenkind“. Sofort bildeten alle Männer einen Kreis um Anna, um sie genauer zu betrachten. Der Anführer wurde wütend und forderte seine Männer auf, aus der Schusslinie zu gehen. Aber seine Untergebenen reagierten nicht. Er stieß zwei seiner Männer zur Seite und hob erneut die Waffe. Da zog der Mann, der laut „Ein Sonnenkind!“ gerufen hatte, seinen Revolver und erschoss seinen Anführer. Dann verbeugte er sich vor Anna, gab den anderen ein Zeichen, worauf alle die LKW bestiegen, mit denen sie gekommen waren, und wegfuhren. Anna bückte sich, um den Anführer zu untersuchen. Auch er war tot. Sie setzte sich zwischen Nils und Erna und weinte. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont und es wurde dunkel. Sie ging wieder auf, doch Anna saß immer noch an derselben Stelle. Sie weinte nicht, denn sie hatte keine Tränen mehr. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so leer und hilflos gefühlt, wie in diesem Moment. Das Feuer war mittlerweile erloschen. Nur vereinzelt gab es noch einzelne Brandnester.

      Da hörte sie, wie sich ihr von hinten mehrere Frauen und Männer näherten. Unter ihnen war der Häuptling des nächsten Dorfes. Als er sah, dass der Arzt und seine Schwester tot waren, fing er an, ein Klagelied anzustimmen. Eine ältere Frau starrte Anna mit weit aufgerissenen Augen an und deutete auf ihre Haare. Anna nahm ihre Haare in die Hand und wusste jetzt, was das Entsetzen bei der Frau ausgelöst hatte. Ihre wunderschönen schwarzen Haare waren über Nacht schneeweiß geworden. Sie ging ins Haus und suchte nach dem Spiegel. Als sie hineinsah, glaubte sie, in das Gesicht einer alten Frau zu blicken. Aber seltsamerweise störte sie das nicht weiter. Sie ging wieder hinaus und bat den Häuptling, ihr bei der Beerdigung von Nils und Erna zu helfen. Mehrere Männer des Stammes trugen die beiden Weißen auf das Feld und bauten aus Steinen eine Pyramide. Den Anführer wollten sie nicht anrühren, aber Anna forderte die Männer auf, den Schwarzen neben Nils und Erna zu legen und ebenfalls mit Steinen zu bedecken. Ihre Augen blitzten und die Sonne auf ihrer Stirn funkelte und pulsierte sehr stark. Die Männer fürchteten sich vor Anna und gehorchten.

      Als der Häuptling und die Männer und Frauen seines Stammes wieder im Wald verschwunden waren, ging sie durch das Haus und suchte nach noch brauchbaren Sachen. Aber sie fand nicht viel. Nur die Geldkassette, in der neben dem Geld auch alle wichtigen Dokumente verwahrt wurden, hatte das Feuer unbeschadet überstanden. Sie nahm die Kassette mit nach draußen. Das Haus war nicht mehr bewohnbar. Sie ging zu dem Schuppen, der etwa 50 Meter vom Haus entfernt stand und völlig in Ordnung zu sein schien. Sie ging hinein. Nils Wagen stand dort unberührt. Sie hatte gelernt, den alten Land Rover zu steuern und beschloss, am nächsten Tag in die Stadt zu fahren, um den Überfall und den Tod von Nils und Erna zu melden.

      Als sie am nächsten Tag die Stadt erreichte, fuhr sie zuerst zur Post, um nachzusehen, ob dort Briefe für Nils, Erna oder für sie lagerten. Es war nur ein Brief aus Deutschland für Erna im Postfach. Sie nahm den Brief heraus und ging hinaus auf den Bürgersteig, um den Brief zu lesen. Der Absender war der Vater von Hans Hansen, der ebenfalls Hans Hansen hieß. Der Brief enthielt nur wenige Zeilen, die sie erstarren ließen.

       Liebe Erna,

       ich habe keine guten Nachrichten. Mein Sohn Hans ist aus bisher nicht geklärter Ursache mit seinem Schiff untergegangen. Die Suche nach Überlebenden wurde auf Grund der schlechten Witterung eingestellt. Es gibt leider keine Hoffnung mehr.

       Ich bin unendlich traurig und weiß nicht mehr weiter.

       Bitte bringe Anna diese Nachricht möglichst schonend bei und sage ihr, dass Hans sie sehr gerne hatte.

       Gruß Hans.

       P.S.: Bitte grüß deinen Bruder ganz herzlich von mir.

      Sie las den Brief zweimal, faltete ihn dann zusammen und steckte ihn in ihre Jacke. Dann ging sie in den Park und setzte sich auf eine Bank. Es dauerte nicht lange und die ersten Vögel setzten sich neben sie auf die Armlehne. Sie spürten, wie unglücklich Anna war, und sangen wunderschön, um sie etwas aufzumuntern. Aber Anna fand heute keinen Trost in dem Gesang ihrer Freunde. Nach einer Stunde stand sie auf, ging in ein Geschäft und kaufte Briefpapier und einen Stift. Dann setzt sie sich in ein Café, bestellte einen Kaffee und schrieb an Hans‘ Vater.

       Sehr geehrter Herr Hansen,

       Ihre Nachricht macht mich sehr traurig. Ich habe Ihren Sohn auch sehr gern gehabt und davon geträumt, einmal mit ihm gemeinsam am Strand der Nordsee spazieren zu gehen, um die frische, salzhaltige Seeluft einzuatmen.

       Leider habe auch ich keine guten Nachrichten. Erna und Nils sind von einer Horde schwarzer Mörder erschlagen worden.

       Jetzt habe ich innerhalb von wenigen Tagen die drei Menschen verloren, die mir am meisten bedeutet haben. Ich fühle mich so alleine.

       Anna

      Sie verschloss den Umschlag und brachte den Brief zur Post. Als sie anschließend zum Rathaus gehen wollte, um den Tod von Nils und Erna zu melden, war die Tür verschlossen. Anna ging zurück zum Auto und fuhr nach Hause.

      Als sie mitten in der Nacht dort ankam, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie wollte zurück zu den Sonnenkindern und hoffte, dass sie dort wiederaufgenommen würde. Am Morgen füllte sie den Tank des Wagens auf und ging zum nächsten Dorf, um sich von dem Häuptling zu verabschieden. Er war sehr betrübt darüber, nach Nils und Erna jetzt auch noch Anna zu verlieren. Sie ging zurück und legte sich schlafen, denn sie wusste, dass ihr anstrengende Tage bevorstanden.

      Am