Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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und nahm den Spiegel wieder in die Hand. Es wusste, dass es gerade sein Gesicht sah, denn es hatte sein Spiegelbild schon mehrmals gesehen, wenn sich sein Gesicht im Wasser spiegelte. Der weiße Fleck auf seiner Stirn leuchtete hell und pulsierte stark. Das Mädchen gab den Spiegel zurück. Die Frau hatte die Höhle verlassen und kam mit einer Schale zurück, die sie neben das Mädchen stellte. Das Sonnenkind sah, dass die Schale verschiedene Früchte enthielt, die ihm aber alle unbekannt waren. Es nahm eine Frucht in die Hand und biss hinein. Die Frucht schmeckte sehr gut. Das Sonnenkind vergaß, dass es sich in einer völlig fremden Umgebung befand und konzentrierte sich nur auf das Essen. Danach fühlte es sich besser und richtete sich auf, um die beiden Fremden besser sehen zu können. Jetzt sprach der Mann mit dem Mädchen. Das Sonnenkind fand, dass er eine sehr angenehme Stimme hatte, aber wieder verstand es kein Wort. Kurz darauf entfernten sich die beiden Menschen und ließen das Mädchen allein. Das Sonnenkind fühlte sich durch den Verzehr der Früchte gestärkt. Da es keine Angst vor den Fremden hatte und sich hier sicher fühlte, beschloss es, wieder zu schlafen, um schnell wieder zu Kräften zu kommen.

      Der Mann und die Frau unterhielten sich den ganzen Abend über das Mädchen. Der Mann konnte seine Begeisterung kaum zügeln:

      „Hast du gesehen, dass ihre schwarze Haut in der Sonne einen leicht bläulichen Schimmer hat? Mir ist nicht bekannt, dass es auf der Welt ein vergleichbares Phänomen gibt. Ich hätte nie gedacht, dass an den Erzählungen der alten Männer in den umliegenden Dörfern etwas dran ist, aber jetzt bin ich mir sicher, dass es sich bei dem Mädchen um ein Sonnenkind handelt.“

      Das Sonnenkind machte am nächsten Tag mit Hilfe der Frau die ersten Gehversuche und konnte schon bald das Zimmer verlassen. Alles, was es sah, war neu. Der Mann und die Frau ließen ihm ausreichend Zeit, alle Eindrücke zu verarbeiten.

      Mehrere Stunden, nachdem das Sonnenkind in der Nähe des Waldes in Ohnmacht gefallen war, wurden vier Männer eines Stammes, die in einem Dorf in der Nähe lebten, auf das Mädchen aufmerksam. Die Vögel, die in großer Zahl über dem Mädchen kreisten und einen Höllenlärm machten, hatte ihr Interesse geweckt. Die Männer näherten sich vorsichtig der Stelle, die die Vögel umkreisten und hofften auf leichte Beute. Als der Anführer der Vier nur noch wenige Schritte von dem Mädchen entfernt war, blieb er abrupt stehen und wartete, bis die anderen zu ihm aufschlossen. Dann zeigte er auf die Stirn des Mädchens, auf der eine kleine Sonne schwach leuchtete und sehr stark pulsierte. Er ging vorsichtig näher, ging neben dem Mädchen auf die Knie und berührte es mit der Hand leicht am Arm. Das Mädchen reagierte nicht, aber die Sonne leuchtete jetzt ganz hell und die Vögel kamen bedrohlich näher. Der Mann erhob sich und drehte sich zu seinen Stammesbrüdern um.

      „Seht euch die Sonne auf der Stirn des Mädchens an. Das muss ein Sonnenkind sein. Mein Großvater hat mir als Kind von einem Stamm erzählt, der auf der anderen Seite der Wüste wohnt. Sie scheint sehr krank zu sein. Was sollen wir tun?“

      Auch die anderen Männer hatten schon von ihren Eltern oder Großeltern von den Sonnenkindern gehört. Die pulsierende Sonne auf der Stirn des Mädchens machte einen tiefen Eindruck auf die abergläubischen Männer. Sie hatten völlig vergessen, dass sie von einer leichten Beute ausgegangen waren. Voller Ehrfurcht starrten sie auf das Mädchen und keiner der drei hatte eine Idee, was zu tun sei. Da fasste sich der Anführer ein Herz.

      „Wir bringen sie zu dem weißen Arzt, der hinter dem Wald lebt. Der kann ihr bestimmt helfen.“

      Da er sehr kräftig war, fiel es ihm nicht schwer, das Mädchen vorsichtig aufzuheben. Gemeinsam machten sich die vier Männer auf den Weg. Abwechselnd trugen sie das Mädchen und erreichten das Haus des Arztes nach vier Stunden. Es war schon Nacht und im Haus des Arztes brannte kein Licht mehr. Die Männer legten das Mädchen vorsichtig auf die Veranda und verschwanden in der Dunkelheit. Am nächsten Morgen entdeckte die Frau das Mädchen, trug es ins Haus und legte es auf ein Bett. Das Mädchen atmete ruhig. Die Sonne auf der Stirn strahlte hell und pulsierte nur leicht. Am Mittag kam der Arzt zurück. Er hatte die Nacht bei einem kranken Nachbarn verbracht.

      Der Arzt war ein Deutscher namens Nils Nilsen. Er erblickte in der Nähe von Jever das Licht der Welt. Nach dem Medizinstudium in Paris entschied er sich, als Arzt nach Afrika zu gehen. Er fand eine Anstellung in einem Krankenhaus, das sich in einer großen Stadt befand, die zu einer französischen Kolonie gehörte. Die einheimischen Menschen, ihre Lebensart und die Landschaft faszinierten ihn von der ersten Minute an. Einige Jahre später bekam er die Chance, eine verlassene Arztpraxis in einer abgelegenen Gegend zu übernehmen. Er sagte sofort zu. Die Bewohner der umliegenden Dörfer fassten schnell Vertrauen zu ihm, und es gelang ihm, vielen Kranken zu helfen. Nils lebte jetzt schon fast 40 Jahre in Afrika. Er beherrschte mittlerweile die Dialekte, die in den umliegenden Dörfern gesprochen wurden und die Häuptlinge hatten ihn als Medizinmann anerkannt. Vor zehn Jahren bekam er Besuch von seiner jüngeren Schwester. Erna Hansen hatte kurz zuvor ihren Mann bei einem Unfall verloren und hoffte in Afrika den nötigen Abstand zu finden, um ein neues Leben beginnen zu können. Da sie gelernte Krankenschwester war, half sie Nils bei der Arbeit. Es dauerte nicht lange und auch sie wurde vom „Afrikavirus“ befallen und entschloss sich zu bleiben.

      Nils und Erna gaben dem Sonnenkind den Namen Anna. Das Mädchen lernte schnell, sich in ihrer neuen Umgebung zurecht zu finden. Es dauerte nicht lange, und sie konnte die ersten Sätze in der Sprache der Hellhäutigen sprechen. Anna lernte lesen, schreiben, rechnen und später auch von Nils die französische Sprache und die Dialekte, die in den umliegenden Dörfern gesprochen wurden. Zu Anfang weigerte sie sich, ihr Kleid aus Pflanzen abzulegen, aber irgendwann gab sie ihren Widerstand auf und zog die Kleidung an, die Erna aus der Stadt mitgebracht hatte. Aber sie ließ sich nicht dazu überreden, Schuhe anzuziehen. Immer seltener dachte Anna an das Volk der Sonnenkinder, und Nils und Erna waren sensibel genug, das Mädchen nicht auf ihre Vergangenheit anzusprechen. Anna fühlte sich in ihrer neuen Umgebung sehr wohl und entwickelte sich zu einer hübschen jungen Frau. Sie kannte mittlerweile alle Tiere, die es in der Umgebung gab, und Nils und Erna staunten jedes Mal, wenn Anna von einem Schwarm Vögel oder Insekten nach Hause begleitet wurde. Nach zwei Jahren fuhr sie erstmals mit Nils und Erna in die große Stadt. Sie wollte erst nicht mitfahren, aber Nils ließ nicht locker. Auf der Fahrt eröffnete der Arzt der jungen Frau, dass er mit ihr zum Gericht gehen wollte, um sie zu adoptieren. Anna war darüber sehr glücklich. Sie trug ein Stirnband, damit ihr weißer Fleck auf der Stirn nicht zu sehen war. Es war Nils‘ Wunsch, denn er befürchtete, dass Anna eine zu große Aufmerksamkeit zuteil wurde, was zu eventuellen Nachfragen führen konnte. Die Stadt bot dem Mädchen viel Neues und es benötigte noch mehrere Tage, um alle Eindrücke zu verarbeiten.

      Hin und wieder kamen Gäste aus der Stadt oder von den umliegenden großen Gütern zu Besuch. Es handelte sich ausschließlich um Franzosen. Die meisten von ihnen hatten ihre Heimat verlassen, um in den Kolonien zu Wohlstand zu kommen. Anna lernte dadurch gleichaltrige Jungen kennen, die sich auch sehr für sie interessierten. Aber sie machte allen sofort klar, dass sie nicht an einer engeren Freundschaft interessiert war.

      Nils nahm Anna immer häufiger mit zu seinen Patienten in den umliegenden Dörfern, denn er hatte schnell bemerkt, dass die junge Frau eine gute Diagnostikerin war und viele Kräuter kannte, von denen er noch nie gehört hatte, die aber eine erstaunlich positive Wirkung entfalteten. Die Dorfbewohner ließen sich gerne von Anna berühren, denn sie waren davon überzeugt, dass das Sonnenkind heilende Hände hatte. Nils ließ sie in dem Glauben, denn besonders in der Medizin versetzt der Glaube Berge und heilt.

      Wenn Anna nicht mit Nils unterwegs war, nahm sie einen Zeichenblock und Stifte, beides hatte sie in einem Schreibtisch entdeckt, ging hinaus in die Natur und zeichnete Tiere, Pflanzen und Blumen.

      Eines Tages holte Erna gemeinsam mit Nils ihren Neffen vom Bahnhof ab, der einige Wochen zu Besuch kam. Hans Hansen lebte in der Nähe von Sankt Peter-Ording und hatte gerade sein Abitur gemacht. Er wollte nach dem Urlaub bei seiner Tante zur Marine gehen. Anna erwartete die drei auf der Veranda. Als Hans aus dem Auto ausstieg, war es um Anna geschehen. Der sehr große junge Mann mit den hellblonden Haaren und den hellblauen Augen gefiel ihr sofort. Ihr Herz klopfte laut und die Sonne auf ihrer Stirn pulsierte heftig, als Hans auf sie zukam, um sie zu begrüßen.

      „Guten Tag, Anna, ich heiße Hans und freue