Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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und ging mit ihm zur Weisen Mutter. Neugierig blickte der Junge von der einen Frau zur anderen. Aber als keine der beiden Frauen Anstalten machte, mit ihm zu sprechen, ging er zurück zu den anderen Jungen, um weiterzuspielen.

      „Was meinst du, Weise Mutter?“

      „Du hast Recht, Weise Alte. Ich spüre, dass der Junge der ist, auf den wir warten. Er ist der Weise Sohn aus der Prophezeiung. Aber wie soll ich ihn erziehen? Ich habe mit der Erziehung eines Weisen Sohnes keine Erfahrung.“

      „Wenn du nichts dagegen hast, übernehme ich die Erziehung des Weisen Sohns.“

      Die Weise Mutter reagierte erleichtert und stimmte sofort zu.

      Am nächsten Tag zog der Junge bei der Weisen Alten ein. Unter den Sonnenkindern verbreitete sich das Eintreten der Prophezeiung wie ein Lauffeuer, denn die Weise Mutter sah jetzt keinen Grund mehr, den Teil der Prophezeiungen, der den Jungen betraf, weiter zu verschweigen.

      Die Weise Alte holte ihre alten Bücher aus einer der Kisten und unterrichtete den Weisen Sohn zuerst in der deutschen Sprache und lehrte ihn zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Später machte sie ihn mit der französischen Sprache vertraut. Er begriff sehr schnell und sein Wissendurst war von der Weisen Alten kaum zu stillen. In Lernpausen widmeten sich die beiden den Zeichnungen, für die sich der Junge im Gegensatz zu den anderen Sonnenkindern sehr interessierte.

      „Weise Alte, ich möchte alle Tiere und Pflanzen im Wald und in der Wüste kennenlernen.“

      Die Weise Alte sprach mit der Weisen Mutter.

      „Gehe mit ihm in den Wald. Ich muss wissen, wie die Bewohner auf den Weisen Sohn reagieren, und ob sie genau wie wir beiden in ihm den zukünftigen Weisen Vater erkennen.“

      Neugierig und aufgeregt ging die Weise Alte am nächsten Morgen mit dem Jungen weit in den Wald hinein. Als sie die ersten Bäume erreichten, leuchtete der weiße Fleck auf dem Bauch des Jungen hell und pulsierte stark. Als kurz darauf der Geräuschpegel im Wald sprunghaft anstieg, um den Jungen zu begrüßen, war sich die Weise Alte endgültig sicher, dass er der Auserwählte war, der entsprechend der Prophezeiung die Rolle des Weisen Vaters übernehmen sollte. Die Weise Mutter reagierte auf die Nachricht der Weisen Alten abermals mit großer Erleichterung.

      Als der Junge älter wurde, kam er immer wieder auf die Lebensweise der Andershäutigen zu sprechen.

      „Weise Alte, ich möchte alles über diese fremden Menschen dort draußen wissen, wie sie denken, leben und miteinander umgehen.“

      „Ich kenne nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Welt der Andershäutigen persönlich. Das andere weiß ich nur aus den Erzählungen meiner Adoptiveltern und den Büchern. Was ich weiß, will ich gerne an dich weitergeben.“

      Sie erklärte ihm die Umgangsformen, die sie von Nils und Erna kennengelernt hatte.

      „Wenn ich ein Andershäutiger wäre, wie würde ich dann heißen?“

      „Das kommt darauf an, in welchem Land du geboren worden wärst und welcher Namen deinen Eltern gefällt.“

      „Kannst du einen Namen für mich aussuchen, denn, wenn ich mal einen Andershäutigen treffe und er mich nach meinem Namen fragt, möchte ich gerne antworten können.“

      Spontan antwortete die Weise Alte:

      „Wie findest du den Namen Hans?“

      „So wie der junge Mann hieß, der bei Nils und Erna zu Besuch war und nie wiedergekommen ist, weswegen du sehr traurig warst?“

      Das leise „ja“ war kaum zu hören.

      „Ich bin einverstanden, Weise Alte, und verspreche dir, dass ich dem Namen keine Schande machen werde.“

      Die Jahre gingen ins Land und der Weise Sohn wuchs weiter, bis er eine Größe von 1,90 m erreicht hatte und somit seine Brüder und Schwestern um mehr als 40 Zentimeter überragte. Er übernahm jetzt immer mehr Verantwortung, und auch die älteren Männer ordneten sich ihm bedingungslos unter. Die Weise Alte sah jetzt den Zeitpunkt gekommen, mit dem jungen Mann bis zum gegenüberliegenden Ende des Waldes zu gehen, um ihm den nördlichen Zugang zum Wald, das Grab und den besonderen Termitenhügel zu zeigen. Der Weise Sohn nahm die Existenz des weiteren Zugangs und der kleinen Steinpyramide ohne großes Interesse zur Kenntnis, beschäftigte sich aber sofort intensiv mit der Lebensweise der Termiten und der Moskitos. Bei einem weiteren Besuch äußerte er den Wunsch, einen Teil dieses Termitenvolkes auf der südlichen Seite des Waldes im Dorf der Sonnenkinder anzusiedeln, um sie besser beobachten zu können und von ihnen zu lernen. Viele große Moskitos halfen als Transportmittel und entschlossen sich zur großen Freude des Jungen, ebenfalls im Dorf der Sonnenkinder zu bleiben, denn sie fühlten sich in der Nähe der Weisen Mutter sehr wohl und reihten sich gemeinsam mit den Termiten in die Reihe der Beschützter ein.

      Seit einiger Zeit spürte die Weise Mutter, dass mit ihr eine Veränderung vorging, die sie aber nicht genau in Worte fassen konnte. Besorgt suchte sie die einzige Person auf, mit der sie darüber sprechen konnte.

      „Weise Alte, ich freue mich sehr über die positive Entwicklung des Weisen Sohnes, aber das ist nicht der Grund meines Besuchs. Ich möchte dir eine Frage stellen: Fällt dir irgendetwas an mir auf ?“

      Die Weise Alte überlegte einen Augenblick und lächelte dann.

      „Ich weiß, was du meinst. Du hast das Gefühl, dass mit deiner körperlichen Entwicklung etwas nicht stimmt. Dir geht es genau wie mir. Auch dein Alterungsprozess hat sich deutlich verlangsamt und zwar genau von dem Zeitpunkt an, seit du weißt, dass das Matriarchat dem Ende zugeht. Das bedeutet, dass du unser Volk noch lange regieren kannst und wirst und der Weise Sohn genügend Zeit bekommt, um sich auf seine Rolle als erster König der Sonnenkinder und der Tiere im Wald vorzubereiten. Denn die Prophezeiung sagt nichts darüber aus, zu welchem Zeitpunkt du dein Amt an einen männlichen Nachfolger übergeben musst.“

      7 Hungriges Braungesicht

      Rising Sun meldete sich an seinem ersten Arbeitstag vereinbarungsgemäß bei Monsieur Représentant.

      „Herzlich willkommen bei der UNO, Rising Sun. Bleibt es dabei, dass Sie sich für den Schutz bedrohter kleiner Völker engagieren wollen?“

      „Ja, das ist weiter meine Absicht.“

      „Gut. Da wir aber gerade eine Umstrukturierung vornehmen, müssen Sie sich erst in der Abteilung Konfliktlösungen allgemeiner Art einbringen. Dort herrscht sowieso immer akuter Personalmangel, weil sich die Konflikte allgemeiner Art in den letzten Jahren häufen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass es keine Region mehr auf dieser Welt gibt, die konfliktfrei ist. Sind Sie damit einverstanden?“

      Rising Sun nickte zustimmend, denn er war sich sicher, dass die Lösung von Konflikten einer seiner Stärken war. Monsieur Représentant schien nichts anderes erwartet zu haben. Er griff zum Telefonhörer und rief seine Sekretärin Madame Camille Luxuriant, eine junge Frau von der Elfenbeinküste, an.

      Der Indianer hatte sie bereits kennengelernt. Als er das Sekretariat betrat – er war wie gewöhnlich mit einer blauen Jeans und einem blauen Baumwollhemd bekleidet und barfuß – und sich auf Französisch vorstellte, hatte sie ihn, ohne ein Wort zu erwidern, erst einmal in aller Ruhe von oben bis unten gemustert. Man sah ihr an, dass sie nicht zu einem abschließenden Ergebnis kam, denn Rising Sun passte in keine der Schubladen, in die sie sonst alle Männer sofort einsortierte.

      „Sie sprechen sehr gut Französisch, Indianer, und scheinen einen sehr ausgefallenen Modegeschmack zu besitzen.“

      Dann brachte sie ihre reichlich vorhandenen körperlichen Vorzüge in die richtige Position und fragte ihn, ob er am Abend schon etwas vorhabe. Er bejahte die Frage, denn er hatte wirklich schon eine Verabredung. Er beabsichtigte, sich mit Karl zu treffen, der für eine Woche bei Freunden in New York zu Besuch weilte und unbedingt wissen wollte, wie Rising Suns erster Arbeitstag bei der UNO verlaufen war. Mit einem ‚Vielleicht ein andermal.‘ hatte