Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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UN­Generalsekretärs hat. Ich habe einen Auftraggeber, der gerne mit diesem Mann in Kontakt kommen und ihn näher kennenlernen möchte. Aber bis jetzt ist jeder Versuch gescheitert.“

      Wladimir wusste, was Tom mit „näher kennenlernen wollte“ meinte. Er hielt zwar nicht sehr viel von der UNO und hatte in der Vergangenheit keine Kontakte zu dieser Organisation aufgebaut. Aber die Bedeutung der UNO hatte in den letzten Jahren zugenommen und es war immer gut, zu wissen, was die Verantwortlichen dieser Organisation dachten und ihre Stärken und Schwächen zu kennen.

      „Das hört sich nicht sehr schwierig an. Aber um der Langeweile zu entfliehen, nehme ich den Auftrag an.“

      Die beiden unterhielten sich noch eine Stunde über private Dinge und trennten sich dann.

      Wladimir studierte intensiv die Unterlagen, die der Umschlag enthielt und besuchte am nächsten Abend das Restaurant, das als Stammlokal des Mitarbeiters der UNO galt. Als er das Lokal zwei Stunden später nach einem guten Essen und zwei Guinness wieder verließ, hatte er sich einen ersten Eindruck von der Zielperson verschafft. Es handelte sich um einen kleinen Inder, der sehr viel essen konnte und sich ansonsten sehr intensiv mit einem Buch, anscheinend einem Wörterbuch, beschäftigte. Die nächsten Tage verbrachte Wladimir damit, den genauen Tagesablauf des Inders zu dokumentieren. Den Samstag verbrachte der Mann im Central Park. Er saß an einem Holztisch, der von vier Holzbänken eingerahmt war, und beschäftigte sich sehr intensiv mit seinem Computer. Wladimir beschloss, sofort direkten Kontakt aufzunehmen, setzte sich ebenfalls an den Tisch und beobachtete fasziniert, mit welcher Virtuosität der Inder die Tastatur seines Laptops bearbeitete. Es sah so aus, als ob die Finger die Tasten gar nicht berührten. Der Inder nahm sein Gegenüber erst nach einer Viertelstunde wahr, als er kurz seine Arbeit unterbrach, um etwas zu trinken. Aber der fremde Mann schien ihn nicht weiter zu interessieren. Da klingelte das Handy des Inders. Er nahm das Gespräch entgegen, hörte kurz zu, sagte einige unverständliche Sätze und legte dann verärgert auf. Wladimir sah den Inder mit einer Mischung aus Erstaunen und Neugier an. Dieser Gesichtsausdruck schien dem Inder nicht zu gefallen.

      „Was starren Sie mich so an, und wieso sitzen Sie überhaupt an meinem Tisch?“

      „Es tut mir leid, aber ich wusste nicht, dass dies hier Ihr Tisch ist. Ich habe mich ursprünglich hier hingesetzt, weil mir der Platz gefällt. Ich gebe zu, dass ich hier sitzengeblieben bin, weil Sie mich faszinieren. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schnell auf der Tastatur eines Laptops schreiben kann.“

      Der Inder betrachtete den Fremden jetzt ganz genau.

      „Haben Sie verstanden, was ich gerade zu Ihnen gesagt habe?“

      „Meinen Sie ‚Was starren Sie mich so an, und wieso sitzen Sie überhaupt an meinem Tisch?‘“

      „Genau das meine ich. Also, wieso haben Sie mich verstanden?“

      „Ich muss zugeben, dass es eine echte Herausforderung für mich war, Sie zu verstehen, denn Sie verwenden Wörter aus verschiedenen Sprachen. Aber es geht so gerade. Wenn Sie etwas langsamer sprechen würden, müsste es sogar ganz gut gehen.“

      Der Inder sah den großen Mann mit den stahlblauen Augen und den grauen Haaren mit einer Mischung aus Verwirrung, großem Respekt und Neugierde an. Er holte tief Luft und strengte sich an, sein Sprechtempo zu verlangsamen, was auch leidlich gelang.

      „Ich beherrsche viele Sprachen, das heißt, ich kann die Sprachen schreiben und lesen, aber, wenn ich spreche, werfe ich alle Sprachen, die ich kenne, durcheinander. Deswegen versteht mich auch normalerweise kein Mensch, und ich kommuniziere mit meinen Arbeitskollegen nur mit Hilfe meines Laptops. Sie sind der erste Mensch, der mich versteht und mit dem ich mich normal unterhalten kann. Wie kommt das?“

      „Sie verwenden Wörter von Sprachen, die ich mehr oder weniger gut sprechen kann.“

      Der Inder sah auf die Uhr.

      „Ich muss noch einmal ins Büro. Mein Chef erwartet mich wegen einer angeblich dringenden Angelegenheit. Ich bin morgen um die gleiche Zeit wieder hier. Vielleicht treffen wir uns. Ich würde mich freuen.“

      Am Sonntag trafen sich die beiden wieder und unterhielten sich, bis es dunkel wurde. Der Inder schien den Fremden in sein Herz geschlossen zu haben und lud ihn noch zum Abendessen in sein Stammlokal ein. Als die beiden sich trennten, kannte Wladimir die ganze Lebensgeschichte des Inders. Sein neuer Bekannter hieß Jonathan Confused, stammte aus Indien, arbeitete bei der UNO in der Abteilung Konfliktlösungen aller Art und erledigte in der Hauptsache die Zuarbeit für seinen Chef Monsieur Représentant. Natürlich wollte auch der Inder mehr über seinen neuen Bekannten wissen.

      „Ich heiße Wladimir Puschkin und bitte Sie, mich Wladimir zu nennen. Seit ich Rentner bin, lebe ich in New York. Früher habe ich anderen Menschen dabei geholfen, ihre Probleme zu lösen. Im Augenblick bin ich damit beschäftigt, einem Freund einen Gefallen zu tun.“

      „Wenn ich Ihnen dabei helfen kann, lassen Sie es mich bitte wissen.“

      Bevor die beiden sich trennten, verabredeten sie, sich zweimal die Woche in diesem Lokal zu treffen. Wladimir war davon überzeugt, dass es ihm keine großen Probleme bereiten würde, den Inder für seine Zwecke anzuwerben. Aber zum ersten Mal in seinem Leben sträubte sich etwas in seinem Inneren dagegen. Er musste den Grund dafür herausfinden. Nachdenklich ging er nach Hause. Zuhause angekommen blieb er vor einem großen Spiegel im Flur seines Appartements stehen und musterte gewohnheitsmäßig sein Aussehen. Er sah in das Gesicht von Bill Bush. Im nächsten Moment schlug er sich mit der Innenfläche seiner rechten Hand vor die Stirn:

      „Ich Idiot. Ich habe mich dem Inder mit Wladimir Puschkin vorgestellt.“

      Ihm wurden sofort zwei Dinge bewusst. Die letzten fünf Jahre Müßiggang hatten anscheinend seine Konzentrationsfähigkeit deutlich beeinträchtigt und der kleine Inder konnte eine Gefahr für ihn bedeuten. Aber seltsamerweise war er nicht beunruhigt und sein Bauchgefühl hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Er beschloss, erst einmal den weiteren Verlauf seines Kontaktes mit Jonathan abzuwarten.

      Bei ihrem nächsten Treffen erzählte der Inder, dass er einen neuen Arbeitskollegen habe, einen Indianer vom Stamm der Namenlosen.

      „Der Mann ist etwas Besonderes, denn er hat eine klare Vorstellung davon, warum er bei der UNO angefangen hat und das Potenzial, etwas zu bewegen.“

      Wladimir wartete ab, dass Jonathan weitersprach, aber der starrte in Gedanken versunken vor sich hin. Etwas schien einen großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben.

      „Sie machen mich neugierig. Der Indianer hat Sie anscheinend sehr beeindruckt.“

      „Das stimmt. Ich zitiere meinen neuen Kollegen: ‚Jetzt höre mir mal gut zu, mein Freund. Ich bin hier, weil ich den Wunsch habe, die Menschen auf der Erde wachzurütteln, damit sie endlich erkennen, dass sie ihr tägliches Verhalten überdenken und ändern müssen, um wieder das Wohlgefallen Manitus zurückzugewinnen. Und falls du nicht weißt, wer Manitu ist: Er hat diese Welt nach seinen Vorstellungen erschaffen und uns Menschen beauftragt, gut auf sein Werk aufzupassen.‘“

      Wladimir sah den Inder verblüfft an. Damit hatte er nicht gerechnet. Sein erster Gedanke war, dass der Indianer zu den religiösen Fanatikern gehörte, die es überall auf der Welt gab.

      „Und wie war Ihre Reaktion, was haben Sie geantwortet?“

      „‚Ich bin kein religiöser Mensch, aber genau wie du der Meinung, dass wir alles tun müssen, um unseren Planeten Erde vor dem Untergang zu retten. Dazu müssten wir allerdings den Verantwortlichen auf dieser Welt klarmachen, dass wir Menschen uns unserer Verantwortung für alle Menschen, Tiere und die Natur bewusst werden und unser tägliches Handeln schnellstens ändern müssen. Hier bei der UNO denken die meisten Beschäftigten nur daran, wie sie möglichst stressfrei ihren Feierabend erreichen, ihre reichlich vorhandene Freizeit sinnlos gestalten und ihre Altersvorsorge optimieren können. Ich habe nicht die Power und das Charisma, um hier etwas zu bewegen oder zu ändern. Aber du hast beides, Indianer, und deshalb das Potenzial, hier etwas zu bewegen. Lass uns zusammenarbeiten.‘“

      Wladimirs Irritation nahm zu. War der