Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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ebenso anstrengenden wie abwechslungsreichen New Yorker Wochenende hingeben konnten, um dann am darauffolgenden Freitag zur gleichen Zeit und am gleichen Ort die Konferenz mit dem gleichen Ergebnis fortzusetzen. Während sechs Konferenzteilnehmer auf den bequemen und sehr exklusiven Designerstühlen Platz nahmen, setzte sich der siebte auf einen bereitstehenden Hocker.

      Auf der einen Seite des Konferenztisches saßen mit dem Rücken zum aus Sicherheitsgründen nur aufgemalten Kellerfenster die beiden UNO­Verwaltungsbeamten und ihnen gegenüber die im UNO­Dschungelkrieg sehr erfahrenen Vertreter der fünf Möchtegernbesitzer der Inselgruppe im Nordwest-Pazifischen Becken. In einem Punkt waren sich diese fünf einig: Sie konnten mit dem ihnen gegenübersitzenden sehr großen Indianer mit der in Diplomatenkreisen unüblichen Kleidung absolut nichts anfangen. Und genau dieser Mann eröffnete die Sitzung.

      „Meine Herren, ich möchte Sie ganz herzlich zu dieser Konferenz begrüßen. Ich bin mir sicher, dass wir uns gut austauschen und anschließend mit einem zufriedenstellenden Kompromiss vor die Presse treten werden.“

      Rising Sun machte einen Augenblick Pause, um zu sehen, wie die fünf auf der anderen Seite des Tisches auf seine einleitenden Worte reagierten. Die Reaktion war bei allen gleich. Spätestens bei dem Wort „Presse“ waren alle hellwach und schenkten ab sofort dem Indianer ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, die bei dem Adjektiv „zufriedenstellend“ von einem spontan einsetzenden Misstrauen begleitet wurde. Der Indianer fuhr fort:

      „Ich möchte mich zuerst kurz vorstellen. Mein Name ist Rising Sun, und ich arbeite seit mehreren Wochen für die UNO in der Abteilung Konfliktlösungen aller Art. Den Herrn zu meiner Linken, Jonathan Confused, kennen Sie sicher.“

      Natürlich kannten die fünf den Inder gut. Er hatte in der Vergangenheit noch nie ernsthaft versucht, einen Konflikt zu lösen. Das Misstrauen schwand wieder, und die Asiaten setzten jetzt schnell ihr grimmiges und wilde Entschlossenheit ausdrückendes Konferenzgesicht auf. Der Amerikaner entschied sich für die Kombination aus arrogantes und wilde Entschlossenheit ausdrückendes Konferenzgesicht.

      „Kommen wir nun zum Ablauf der heutigen Konferenz. Als erstes fasst mein Kollege alle zurzeit bekannten Informationen über die Inselgruppe im Nordwest­Pazifischen Becken für Sie zusammen. Sie brauchen sich keine Notizen machen, denn Sie bekommen sofort im Anschluss ein Handout, in dem Sie alle Fakten komprimiert und sehr übersichtlich aufbereitet finden. Dann überreiche ich jedem von Ihnen eine kleine Mappe, die Herr Confused für jeden Einzelnen mit großer Sorgfalt vorbereitet hat. Ich bin mir sicher, dass der Inhalt dieser Mappen sofort Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit finden wird. Sie haben dann solange Zeit, alle Ihnen vorliegenden Unterlagen sorgfältig zu prüfen, bis ich das Zeichen gebe, dass wir mit dem nächsten Programmpunkt unserer heutigen Konferenz fortfahren. Ich meine damit die sicherlich sehr fruchtbare und erfolgreiche Diskussion über die Ihnen dann vorliegenden und von Ihnen sorgfältig geprüften Unterlagen. Im Anschluss daran schließt sich ein gemeinsames Mittagessen an. Es handelt sich um eine besondere Spezialität meines Stammes, die Herr Confused extra für Sie ausgewählt hat, damit Sie sich selbst ein Urteil bilden können, welche interessanten Rezepte bis heute von der Haute Cuisine links liegen gelassen worden sind. Nach dem Essen sehen wir dann noch einen kurzen Film, den unser Kollege, der Forscher David Chercheur, unter Einsatz seines Lebens auf den Inseln gedreht hat, um dann pünktlich gegen 15.00 Uhr das Abschlusskommuniqué zu unterzeichnen. Von meinem Kollegen weiß ich, dass Sie alle befugt sind, das Kommuniqué für Ihr jeweiliges Land rechtsverbindlich zu unterschreiben. Für die UNO unterzeichnet Herr Confused. Als krönender Abschluss treten wir gemeinsam vor die wartende Presse und verkünden das positive Ergebnis dieser Konferenz. Ich gehe davon aus, dass es bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Fragen Ihrerseits gibt und erteile deshalb meinem Kollegen das Wort.“

      Die fünf Herren hatten nicht nur eine Frage, sondern viele. Aber diese Fragen standen für die fünf nicht im Vordergrund, denn sie hatten alle den kaum noch zu bändigen Wunsch, diesem amerikanischen Eingeborenen schnellstens klar zu machen, dass er mit seinem Ablaufplan vollkommen auf dem Holzweg war und ihn in den nächsten Papierkorb schmeißen konnte. Aber sie hatten weder die Chance, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen, noch irgendeine Frage zu stellen, denn Herr Confused ergriff sofort das Wort und ratterte alle bekannten Fakten über die Inselgruppe im Nordwest­Pazifischen Becken wie ein Maschinengewehr in seinem einmaligen Sprachenmischmasch herunter. Sein Redeschwall wurde durch viele Schautafeln und Bilder auf einer großen Leinwand untermalt, die direkt über Jonathan Confused und Rising Sun an der Wand angebracht waren. Die fünf Profidiplomaten sahen und hörten dem Inder mit weit aufgerissenen Augen und gespitzten Ohren ungläubig zu, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Nach einer überaus anstrengenden und frustrierenden halben Stunde stand Rising Sun auf, ging um den Konferenztisch herum und legte die fünf kleinen Mappen mit dem jeweils sehr persönlichen Inhalt vor den jeweiligen Konferenzteilnehmer hin. Der Text war in der Heimatsprache des jeweiligen Konferenzteilnehmers verfasst. Diese Mappen hatten es im wahrsten Sinn des Wortes in sich. Auf der ersten Seite standen Name, Geburtstag, Geburtsort und Geburtsland, Ausbildung und beruflicher Werdegang des jeweiligen Diplomaten, was weiter kein Geheimnis war. Richtig spannend wurde es für die fünf geneigten Leser ab Seite zwei. Diese Seiten enthielten neben vielen anderen Details auch Listen, auf denen stand, wo sich der jeweilige Leser in den letzten zwölf Monaten zu bestimmten Zeiten mit wem aufgehalten hatte. Interessant war auch ein kleiner gelber Aufkleber, auf dem mit einer Schreibmaschine die aktuellen Kontostände aller persönlichen Konten des Lesers in der Schweiz notiert waren. Rising Sun nahm wieder auf seinem Hocker Platz.

      „Meine Herren, ich bin mir sicher, dass Sie einige Zeit benötigen werden, um die interessanten Unterlagen, die jetzt vor Ihnen liegen, gewissenhaft zu studieren und auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Ich werde Ihnen ein Zeichen geben, wenn die Zeit gekommen ist, dass wir uns dem letzten Programmpunkt des heutigen Vormittags vor dem gemeinsamen Mittagessen zuwenden.“

      Die Herren auf der anderen Seite des Konferenztisches öffneten wie auf Kommando die Mappen und widmeten sich, spätestens als sie bei ihrer Lektüre zur zweiten Seite kamen, sehr intensiv der vor ihnen liegenden persönlichen kleinen Mappe. Schnell wurde ihnen abwechselnd heiß und kalt. Aber es dauerte nicht lange und das Hitzegefühl überwog, auch, weil Jonathan unbemerkt das Thermostat der Klimaanlage auf 32 Grad Celsius hochgedreht hatte. Dann verdunkelte sich das Licht im Raum etwas und ein blauer Sternenhimmel wurde an die Decke projiziert. Anschließend verriegelte der Inder von seinem Platz aus die Ausgangstür. Das in diesem Zusammenhang laut hörbare Knacken verstärkte noch das ungute Gefühl, welches die fünf Profidiplomaten seit dem ersten Blick in ihre persönliche Mappe beschlich. Jonathan und Rising Sun blickten sich zufrieden an und beschlossen, die nun eintretende Stille dazu zu nutzen, um nach bester Indianerart in aller Ruhe gemeinsam zu philosophieren. Die Minuten vergingen. Um 11.45 Uhr beendeten die beiden UNO­Beamten ihre philosophischen Betrachtungen. Die Raumbeleuchtung strahlte jetzt wieder in altem Glanz und der Sternenhimmel an der Decke erlosch. Die Tür wurde, begleitet von einem erneut gut hörbaren Knacken, wieder entsichert und das Thermostat der Klimaanlage stand jetzt auf 18 Grad Celsius. Rising Sun räusperte sich laut.

      „Meine Herren, ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Ich habe nicht erwartet, dass Sie sich so lange konzentriert und intensiv mit Ihren Unterlagen auseinandersetzen. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit müssen wir die Diskussionsrunde auf den Nachmittag verschieben, denn das Essen wird gleich serviert. Falls noch jemand kurz die Waschräume aufsuchen möchte, so ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen.“

      Fünf glasige Augenpaare, die in tiefen Höhlen in stark geröteten Gesichtern beheimatet waren, sahen den Indianer ängstlich und verständnislos an. Und da die fünf Profidiplomaten in den letzten Stunden fast ihren ganzen Flüssigkeitshaushalt ausgeschwitzt hatten, brauchte keiner von ihnen das Angebot des Indianers in Anspruch zu nehmen.

      Kurz darauf öffnete sich die Tür zum Konferenzraum und Madame Luxuriant schwebte mit einer großen Schüssel herein. Sie trug High Heels, weiße Shorts und ein weißes T­Shirt der Größe S. Sie lächelte den Indianer an, der ihr Lächeln mit einer leichten Bewegung seines Kopfes erwiderte. Als Madame Luxuriant die Schüssel auf die Mitte des für das gemeinsame Mittagessen vorbereiteten zweiten Tisch abgestellt hatte, widmete sie ihre Aufmerksamkeit nun den fünf Profidiplomaten. Der Anblick, der sich ihr bot, brachte sie leicht aus der Fassung. Die fünf