Franziska Hartmann

Das Tal der Feuergeister


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„Sie werden mich nicht durchlassen. Sie sind die Einzigen, die dich heimbringen können.“

      „Du hast mir versprochen, mich nach Hause zu bringen. Also wirst auch du derjenige sein, der das tut. Und solange weiche ich nicht von deiner Seite“, meinte ich und setzte mich auf den Boden. „Außerdem gibt es zu viele Dinge, die du mir nicht erklären könntest, wenn ich von dir getrennt wäre.“

      Er seufzte und setzte sich neben mich. „Was möchtest du wissen?“

      „Du bist zur Hälfte ein Feuergeist?“ Frage Nummer eins.

      Cuinn nickte.

      „Aida – oder Lilly – ist deine Schwester?“

      Cuinn nickte erneut.

      „Hast du noch mehr Geschwister?“

      Er schüttelte den Kopf.

      „Was meinte Aida damit, als sie sagte, du hättest sie verbrennen lassen?“

      Er antwortete nicht. Stattdessen fokussierte er sich auf seine Hände, die anfingen, das Gras aus dem Boden zu rupfen.

      „Cuinn, ich weiß, du willst nicht darüber reden. Aber jetzt wäre wirklich ein guter Zeitpunkt, mir zu erzählen, was in der Vergangenheit passiert ist. Bevor mein Kopf sich irgendwelche Horrorszenarien zusammenspinnt, in denen du das Monster bist, das seine Schwester verbrennt.“

      Cuinn sah endlich auf. Er sah mich direkt an und ich war mir sicher, niemals zuvor solch einen gequälten Ausdruck im Gesicht einer Person gesehen zu haben. Dann ließ er seinen Blick hinauf zum Wald in die Ferne schweifen. „Wir hatten nur uns“, begann er nach einer Weile. Seine Stimme war so leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Lilly, Doran und ich wurden über Wochen festgehalten. Wie Tiere mit anderen Halbbluten in einer Zelle eingepfercht. Wir sahen zu, wie andere unserer Art verdursteten und verhungerten, noch bevor sie zu ihrer Hinrichtung geführt wurden. Ich habe Lilly und Doran immer gesagt, dass alles gut werden würde, dass wir leben würden. Ich war ihr großer Bruder und ich würde sie beschützen. Das habe ich ihnen immer wieder eingeredet, damit sie die Hoffnung nicht verloren.“ Er atmete tief ein und wieder aus und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Ich spürte, wie schwer ihm jedes Wort über die Lippen kam. „Am Tag der Halbblutfeuer waren die beiden so schwach, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Sie haben leider nicht den gleichen stabilen Körper geerbt wie ich. Wir wurden in Pferdewagen zum Marktplatz transportiert, wo die Verbrennung stattfinden sollte. Ich hatte Angst. Ich wusste, das war der Tag, an dem alles enden würde. Und als ich Lilly und Doran ansah, wusste ich, dass auch sie nicht mehr an eine Rettung glaubten. Ich hatte damals noch keine Ahnung, wie ich meine Kräfte richtig nutzen konnte. All die Wochen hatte ich es nicht geschafft, uns aus dieser Zelle zu befreien. Doch als wir dort dicht an dicht im Pferdewagen standen und ich wusste, dass ich nur noch eine allerletzte Chance hatte, sengte ich ein Loch in den Holzwagen. Ich befahl den anderen Halbbluten, aus dem Wagen zu springen und zu laufen, so schnell sie konnten. Ich sorgte dafür, dass Lilly und Doran vor mir sprangen und folgte ihnen. Ich nahm sie an die Hand, zog sie hinter mir her, obwohl ich wusste, dass sie gar keine Kraft mehr zum Laufen hatten. Wütende Rufe und verzweifelte Schreie hallten uns hinterher und ich wusste, dass die Menschen uns verfolgten und versuchten, uns wieder einzufangen. Ich bekam Panik und rannte immer schneller. Doran verlor ich als erstes. Lilly wenige Augenblicke später.“ Mit offenem Mund starrte Cuinn zum Wald hinauf. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. Als Cuinn sein Gesicht daraufhin zu mir drehte, waren seine Augen gerötet. Seine Stimme zitterte, als er weitersprach. „Ich habe ihnen versprochen, auf sie aufzupassen. Aber ich bin einfach ohne sie weitergelaufen. Ich war nicht mehr als ein von Angst gejagter Feigling. Und wahrscheinlich der Einzige, der entkommen ist.“

      Das darauf folgende Schweigen war erdrückend. Ich wollte etwas Aufmunterndes sagen, aber mir fiel nichts ein. Mein Kopf konnte kaum einen klaren Gedanken zustande bringen, weil ich zu erschüttert war. Niemals hatte ich damit gerechnet, dass Cuinn mit solchen Schuldgefühlen zu kämpfen hatte. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. Und vermutlich ging es Cuinn ebenso, mehr noch als mir. „Wie ging es dann weiter? Wie konnten sich Doran und Lilly retten?“, fragte ich schließlich.

      „Ein paar Feuergeister hatten es geschafft, sich unerkannt unter die Menschen zu mischen. Sie haben die beiden in letzter Sekunde vor den Flammen gerettet. Das habe ich aber erst Wochen später erfahren. Eine ganze Weile bin ich allein durch den Wald geirrt, bis Kayla mich aufgelesen hat. Kayla war diejenige, die mich schließlich auf die Idee brachte, zum Tal der Feuergeister zu ziehen. Sie hatte gehofft, sie würden mich dort als einen von ihnen aufnehmen und mir eine neue Familie geben. Doch stattdessen wurde ich abgewiesen. Niemand erklärte mir warum. Es hieß einfach nur, ich sei dort nicht erwünscht. Ich dachte, es läge daran, dass ich nur ein Halbblut und kein reiner Feuergeist bin. Es ist kein schönes Gefühl, sowohl mit Menschen und Feuergeistern blutsverwandt zu sein und gleichzeitig zu keinem von beiden zu gehören. So habe ich gedacht, bis ich im Wald zufällig auf Doran gestoßen bin. Es war eine bizarre Begegnung. Bis dahin hatte ich gedacht, ich hätte Doran und Lilly für immer verloren. Ich war überrascht und glücklich, hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen und wusste, dass ich meinen Fehler nie wieder würde gut machen können. Und ich hatte damit gerechnet, dass Doran wütend auf mich sein würde. Stattdessen hat er wohl beschlossen, mich größtenteils zu hassen und mit einem kleinen Teil trotzdem zu tolerieren. Jedenfalls habe ich von ihm erfahren, was mit ihm und Lilly geschehen war. Die Feuergeister hatten sie ins Tal gebracht, ihre Wunden versorgt und ihnen angeboten, dort unter dem Schutz von Herrin Honora zu leben. Während Lilly eingewilligt hat, hat Doran sich dagegen entschieden. Er kann die Feuergeister genauso wenig leiden wie die Menschen. Seiner Meinung nach sind sie alle Schuld daran, dass er das ist, was er ist: ein Halbblut, ein Ausgestoßener, ein Gejagter. Und natürlich hat er auch mein Angebot, bei mir und Kayla zu wohnen, ausgeschlagen.“ Ein trostloses, müdes Lächeln schlich sich auf Cuinns Lippen. „Da hatte ich ihn wieder, meinen kleinen Bruder. Er stand direkt vor mir und war gleichzeitig so weit entfernt wie nie zuvor. Also hoffte ich, zumindest Lilly zurückzubekommen und machte mich erneut auf den Weg zu den Feuergeistern. Ich erzählte dort, dass ich von Lilly wüsste und meine Schwester wiedersehen wollen würde. Nach langem Betteln wurde es mir sogar erlaubt. Ich sah sie wieder, Monate nach dem Tag der Halbblutfeuer. Ich sah ihre Narben, die eingebrannte Angst in ihren Augen und wusste, dass das alles meine Schuld war. Als ich versuchte, mich für alles, was geschehen war, zu entschuldigen, schrie sie mich an. Sie sagte, dass sie mir nie verzeihen würde, mich hasse und nie mehr wiedersehen wolle. Schließlich sorgte Gerit dafür, dass man mich wieder vor das Tor setzte, das ich seitdem nicht mehr durchschritten habe.“ Cuinn schien einen Moment lang die Erinnerungen durch seinen Kopf ziehen zu lassen. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich bin ein entsetzlich schlechter großer Bruder. Ein entsetzlich schlechter Beschützer.“

      Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass er bei den letzten Worten nicht nur an seine Geschwister, sondern auch an Lou dachte. Ich fühlte mich, als hätte ich Steine im Magen. Eigentlich hatte ich gehofft, dass mir mit der Zeit noch passende Worte einfallen würden, stattdessen hatten Cuinns Erlebnisse mir immer mehr die Sprache verschlagen. Doch irgendetwas musste ich tun. Ich wollte für Cuinn da sein und ihn trösten. Deshalb umarmte ich ihn einfach und drückte ihn fest an mich. Als er sich nicht wehrte und wir eine gefühlte Ewigkeit so verharrten, hatte ich das Gefühl, damit genau das Richtige getan zu haben.

      Erst als ein Räuspern neben uns ertönte, lösten wir uns voneinander. Vor uns stand Rowan. Er hielt ein Tablett in den Händen. „Ich bringe euch Suppe und heißen Freudentrunk. Der wird euch das Warten sicherlich erleichtern.“ Er stellte das Tablett vor uns ab. Darauf standen zwei Schalen mit einer grünen Suppe und jeweils einem Löffel darin, einem halben Laib Brot, zwei dampfenden Bechern und einer Kanne mit Wasser. Dann verschwand Rowan wieder, noch ehe wir uns bedanken konnten.

      Ich beschloss, das Thema tragische Lebensgeschichten für heute zu beenden und nahm einen der Tonbecher in die Hand. „Freudentrunk?“ Ich schnupperte an dem Getränk. Es roch süß-fruchtig. Nachdem ich ein paarmal zum Abkühlen in den Becher gepustet hatte, nahm ich einen Schluck und hustete, als die Flüssigkeit in meinem Hals brannte. „Das ist ja Alkohol“, krächzte ich.

      Cuinn schmunzelte und griff nach dem anderen Becher.