E.R. Greulich

Die Verbannten von Neukaledonien


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im Frauenklub auf dem Boulevard Rochechuart, begegnete ich ihr zum ersten Mal, als dort eben über die Gleichstellung der sogenannten illegitimen mit den legitimen Frauen der Nationalgardisten debattiert wurde. Manon sprach mit Verve für die "Illegitimen", besonders für die mit Kindern, die nicht einen Sou nach dem Tod des gefallenen Vaters erhielten, und sie nannte es ein Unrecht an Fleisch und Blut derjenigen, die ihr Leben für die Kommune hingaben. Es war, als seien die Frauen jahrhundertelangem Dornröschenschlaf entrissen worden. Ich sollte etwas zu dem Thema für Vermorels "Ami du Peuple" schreiben. Die feurige Louise Michel hatte ich mehr als einmal sprechen hören, ebenso die kluge Natalie Lemel und eine Reihe anderer gescheiter Weibsbilder. Keine hatte mich so beeindruckt wie Manon. Nicht nur wegen ihrer entzückenden Figur und des ebenmäßigen Gesichts. Sie sprach mit der Technik der Schauspieler, die eine Stimme so wohlklingend und weittragend macht. Manon bot das Bild bezaubernder Weiblichkeit, die mit beiden Beinen auf der Erde steht. Das schreibt sich jetzt so hin, damals spürte ich nur mit geheimem Prickeln, wie mich ihre körperliche Anmut anzog, dagegen einiges in ihrer Rede abstieß. Ich hatte so gut es ging mitstenographiert. Manche ihrer Sätze waren druckreif. Als sie zum Schluss kam, hatte ich Mühe, mich durch die lauschende Menge in ihre Nähe zu schlängeln. Mit Grazie raffte sie ihren Rock, als sie die Stufen des Podiums herabstieg, um sich dem Ausgang zuzuwenden. Erst auf der Straße holte ich sie ein. "Sie waren wunderbar, Mademoiselle Dupriaux."

      Lächelnd nahm sie das Kompliment zur Kenntnis, aber ihr Gesicht zeigte Distanziertheit. "Meinen Sie Form oder Inhalt meiner Rede?"

      Ich wich aus, indem ich mich vorstellte und bemerkte, dass ich über ihren Diskussionsbeitrag im "Ami du Peuple" schreiben würde. Dann fragte ich übergangslos: "Weshalb sieht man eine so überzeugende Schauspielerin auf keiner Pariser Bühne?"

      Sie blieb einen Augenblick stehen und sah mich nachsichtig an. "Die eigenständige Auffassung einer Schauspielerin von Dichtern und ihren Stücken ist in den Augen vieler Theaterleute Hochverrat. Ist Büchners 'Woyzeck' denn nur das blutige Schauerdrama eines Verlorenen oder nicht auch dramatische Anklage gegen eine Gesellschaft, die so etwas gebiert?"

      Sie sah mich fordernd an, ihre grauen Augen waren jetzt von blitzendem Blau. Von der mäßigen Übersetzung des "Woyzeck" hatte ich kaum mehr im Gedächtnis als den Mord an der Geliebten durch den armen Halbkretin. Deshalb sagte ich, wobei ich sie treuherzig anlächelte: „Ich glaub schon, dass es schwierig ist, mit Ihnen zu arbeiten."

      Enttäuschung huschte über ihr Gesicht, dennoch erklärte sie tapfer: "Ich weiß, dass ich unbequem bin."

      Diese Offenheit einem Fremden gegenüber war staunenswert, Nicht nur, um ihr etwas Gutes zu sagen, erklärte ich ehrlichen Herzens: "Wäre ich Spielleiter, ich würde mir die Bürde aufladen und mich mit Ihnen zusammenstreiten, fest überzeugt, am Tage nach der Uraufführung spräche Paris von einer großartigen Schauspielerin."

      Sie sah mich zweifelnd an, ob dies wohlfeile Schmeichelei oder meine wahre Überzeugung sei, wurde sich nicht schlüssig und scherzte: „Hat sich erst ganz Frankreich der Kommune angeschlossen, dann beginnt das menschliche Jahrhundert, also auch das Jahrhundert menschlicher Kunst. Dann nehme ich Sie beim Wort."

      "Ich bin kein Spielleiter, Mademoiselle."

      "Ein Mann der Zeitung ist mehr. Sie können Intendanten mit der Frage provozieren, warum sie es mit der Dupriaux nicht einmal versuchen."

      "Ausgezeichneter Plan", pflichtete ich bei, "falls ein Wunder geschieht und Frankreich sich seiner Hauptstadt anschließt."

      Ihre Augen konnten nicht nur blitzen, jetzt blickten sie verschleiert in geheimer Sorge. Wie ich wusste sie aus den Zeitungen, dass die Versuche, in Marseille, Lyon, Toulouse, Saint-Etienne und einigen anderen Städten Kommunen zu errichten, in den meisten Fällen schon wieder gescheitert waren. Sie wusste wie ich, dass Paris verzweifelte Anstrengungen machte, die Unterstützung des ganzen Landes zu erhalten, dass man zu diesem Zweck sogar Emissäre vermittels Montgolfieren aus Paris ausfliegen ließ. Das Schicksal unserer Kommune war so unsicher wie das dieser Heißluftballons und der Gondelinsassen, die zufrieden sein mussten, wenn sie heil über den Belagerungsring der Versailler hinwegkamen. Aber Manon gehörte zu jenen Menschen, die bei aller Gescheitheit eine immense Kraft des Glaubens einzusetzen haben. Eine wunderbare Charaktereigenschaft, doch für den praktischen Tag hinderlich. Trotzdem fand ich es rührend und liebenswert, wie sie in ihrem Schwanken zwischen Hoffen wollen und Wissen sollen angstvoll fragte: "Sie glauben nicht daran?"

      "Mir scheint es eine noch größere Illusion als jene, die Sie von der Gleichstellung der Illegitimen mit den Legitimen hegen", antwortete ich.

      "Ah, schau an, wieder ein Monsieur mit schlechtem Gewissen.“

      Sie hatte es zwar scherzend gesagt, aber unter ihrem forschenden Blick war mir nicht sehr wohl in meiner Haut, und ich antwortete ausweichend: "Moralisch gebe ich Ihnen recht, doch was ist Moral ohne materiellen Rückhalt? Woher soll die Kommune das Geld für die illegitimen Witwen und Waisen nehmen?"

      Manon überlegte nicht lange. "Fragte man zuerst die Buchhalter, ist das moralisch Richtige schon abgesetzt von der Tagesordnung. Doch macht man es zum Gesetz, dann kümmern sich die Buchhalter auch um den materiellen Rückhalt."

      Das war nicht nur praktisch gedacht, sondern auch glückliche Prophetie. Denn schon wenige Tage später, am 28. April, veröffentlichte das Zentralkomitee der Kommune jenes Dekret "Über die Aufhebung des Unterschieds zwischen den sogenannten illegitimen Frauen und Müttern und Witwen von Nationalgardisten hinsichtlich der Entschädigung." Es zeigte, wie ernst die Verantwortlichen der Kommune die Meinung der Frauen nahmen und wie andrerseits die Frauen eine immer größere Rolle im Leben der Kommune spielten.

      Ich merkte, dass sie sich verabschieden wollte, deshalb sagte ich rasch, trotz der bewegten Zeitläufe, in denen viele Restaurants eher Versammlungsräumen und Debattierklubs glichen, würde sich wohl ein ruhiges Bistro finden, um noch bei einem Vin Rouge etwas zu plaudern.

      Dagegen stehe die Pflicht, sagte Manon und wies mit der Spitze ihres zierlichen Schirms schräg über den Damm auf ein Gebäude. Dort befinde sich die Abendschule vom Komitee des elften Arrondissements, wo sie Rhetorik und Französisch unterrichte. Zwar hätte ich mich ihr anschließen können, denn die Abendschulen der Kommune standen jedem offen, doch befürchtete ich, sie würde mich für allzu aufdringlich halten. Ich drückte mein Bedauern aus: "Wie schade, zu gern hätte ich noch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft genossen. Darf ich Sie um ein Wiedersehen bitten?"

      "Besser nicht", erwiderte sie, "wie ich Sie einschätze, würden Sie des Geplauders mit einer braven verheirateten Frau rasch überdrüssig."

      „Sie sind verheiratet?"

      Meine Überraschung war echt, denn Manon trat derartig selbstverständlich emanzipiert auf, dass kein Gedanke an einen Gatten aufkam.

      "Weil ich für die Ledigen eine Lanze gebrochen habe, hielten Sie mich für ledig?"

      Ich schwieg etwas zu lange, betroffen nicht von der Berechtigung, sondern vom Spott ihrer Frage. Dann hatte ich mich gefangen. "Meine Begeisterung für die Lanzenführerin ist umso größer. Wer derart für die anderen eintritt, dem glaubt man seinen Idealismus, sieht man doch nicht wenige, die an der reinen Flamme nur das private Süppchen kochen."

      "Werden Sie nicht pathetisch. Ich versuche, meine Überzeugung mit meinen Mitteln zu vertreten. Tun Sie Ähnliches nicht mit Ihrer Feder?"

      Ihre Art verführte dazu, ebenfalls offen zu sein. "Ich habe manche Zeile der Eitelkeit zuliebe geschrieben. Mehr dunkle Seiten meines Charakters möchte ich auf offener Straße nicht enthüllen, gewähren Sie mir das Geschenk eines Wiedersehens.“

      Ihre Absage war so freundlich wie bestimmt: "Monsieur, Paris war nie voll größerer Unrast, da scheint es klug, sich nicht auch noch privat Unruhe zu verschaffen."

      "Unruhe ist die Mutter des Fortschritts!" entgegnete ich. Ein Versuch, wenigstens noch mit ihr im Gespräch zu bleiben, doch sie huschte schnellfüßig über den Damm, querte das Trottoir und war schon im Eingang jenes Gebäudes verschwunden.

      Eine derart konsequente Abfuhr hatte ich noch nicht erlebt, zornig schlenderte ich meiner Behausung zu.