E.R. Greulich

Die Verbannten von Neukaledonien


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die meisten."

      Grousset fragte geradezu: "Bei welcher Gelegenheit sind wir uns eigentlich begegnet?"

      "Als kaum noch Hoffnung auf den Sieg bestand." Bapaume sagte es mit dem Groll des vom Unrecht Geschlagenen. "Du kamst zu unserm Stützpunkt hinter der Barrikade in der Rue de Rivoli, glaubtest Kervizic ist bei uns. Wenigstens hattest du das neueste Exemplar deiner Gazette mitgebracht - und wohl auch das letzte. Ich habe mit dir geschimpft, ihr Federfuchser seht die Sache zu rosig. - Leider habe ich Recht behalten."

      "Wer sah zu diesem Zeitpunkt noch richtig durch." Grousset ärgerte sich im selben Augenblick über seine lendenlahme Erklärung und stippte Bapaume freundschaftlich gegen die Brust. "Mangel an Verpflegung, Mangel an Munition, Mangel an Geschützen - sollten wir euch da noch das Herz schwer machen mit pessimistischen Artikeln?"

      Ein wenig verweisend, fragte Bapaume: "Trinkst du nicht auch lieber reinen Wein?" Da seine direkte Art Grousset betroffen gemacht hatte, wurde. Bapaume versöhnlicher: "Lass gut sein, ihr habt es nicht böse gemeint." Er berührte den Journalisten am Arm. "Gehen wir ein Stück."

      Bapaume erzählte, dass er den Namen Kervizic damals nicht zum ersten Mal gehört habe. Später habe er sich öfter gefragt, ob Grousset und Kervizic sich noch gefunden hätten.

      Grousset beschäftigten Fragen über Natalie Lemel. Gibt es noch Hoffnung für sie? Wird man sie der Auszehrung noch einmal entreißen können?

      Bapaume wiederholte die Frage, und Grousset entschuldigte sich für seine Geistesabwesenheit. Jene Tage wurden wieder in ihm lebendig. "Zu gern hätte ich ihn schon in Paris kennengelernt. Während ich Louise mehrmals inmitten des Kampfgeschehens fand und über sie berichten konnte, jagte ich dem legendären Roger Kervizic vergebens hinterher. Immer war er schon wieder woanders eingesetzt, um Feindeinbrüche abzudämmen, Ausfälle vorzubereiten. Erst hier auf Ducos trafen wir uns. Er kam mit demselben Transportschiff, das auch Louise und Natalie brachte. Wir Gefangenen standen am Strand, die Wachtposten hatten es aufgegeben, uns zurückzuscheuchen, es war schon schwierig für sie, den Landesteg frei zu halten. Dort legte immer nur eine Schaluppe mit Deportierten an, die Posten brüllten und stießen sie, als hätten sie Galeerensklaven, vor sich. Tausende Augen schauten aufmerksam, ob unter den Ankommenden ein Freund oder Bekannter sei. Zurufe suchten die sich Dahinschleppenden aufzurichten. Als letzter kam Roger Kervizic, er hatte schwächeren Kameraden aus dem Boot geholfen. Provozierend aufrecht ging er, und alle wussten, warum er es tat. Der Posten am Schluss wusste es auch. Mal ging er neben Roger, mal hinter ihm, behauptete, er trödle bewusst, und beschimpfte ihn unaufhörlich. Es gab eine kleine Stockung. Um seinen Vordermann nicht zu treten, blieb auch Roger einen Augenblick stehen. Es war ganz in meiner Nähe. Der Posten baute sich vor ihm auf und blökte aufreizend: 'Weshalb tanzt du dauernd deinen eigenen Tanz, du Dreckhaufen?' Ich sah, wie sich Rogers Faust ballte. Nur ein Gedanke beherrschte mich, der darf wegen einer Unbedachtheit nicht vor die Hunde gehen. Als Kervizic die Faust anhob, warf ich mich zwischen ihm und dem Posten auf die Erde, erhob mich sofort wieder und brüllte: 'Verzeihung, Monsieur Sergeant, mir ist mein Schneuztuch auf die Erde gefallen.' Der Kupon war einen Augenblick verdutzt, ich verschwand schnell in der Masse der Kameraden, und Kervizic folgte schon wieder seinem Vordermann, als habe ihn nie der Jähzorn gebeutelt."

      Bapaumes bärtiges Gesicht mit den leicht entzündeten Augen verzog sich in gutmütigem Spott. "Es war Lagergespräch, Kervizic war der Held des Tages. Eigentlich ungerecht, denn er hatte euch beide in Gefahr gebracht."

      Ein wenig verlegen strich Grousset sich über den Nasenrücken. "Die öffentliche Meinung honoriert mutiges Verhalten, ob es taktisch richtig ist oder nicht. Wer seinen Peiniger niederschlagen will, der ist ein Held, basta! Haben wir es ähnlich nicht oft genug in den Tagen der Kommune erlebt?"

      Bapaume spürte, dass Grousset es eilig hatte, und so stellte er nur noch eine Frage. Er, Bapaume, wolle sich mit einigen Kameraden eine ähnliche Erdhütte bauen, wie Grousset und Kervizic sie hätten. Ob Grousset einige Tipps dafür wüsste?

      Grousset bedauerte insgeheim, dass er nicht sagen konnte, spart euch die Mühe, in zwei Tagen könnt ihr unsre Hütte übernehmen. Andrerseits war Bapaume ein Kamerad, den man nicht leichtfertig vertröstete. Also erklärte Grousset dem Bärtigen einige Kniffe und Pfiffe, sodass der ahnungsvoll schmunzelte, und das hieß, dieser Journalist versteht von seinem weltbefahrenen Freund zu lernen. Denn man wusste im Lager, es war Kervizic, der den Gedanken gehabt hatte, der Höllenglut in den Baracken und Zelten zu entfliehen, indem er in den sanften Abhang zum Strand hin eine Erdhütte hineinbaute. Material dazu lieferte das Meer. Wer sich die Mühe machte, ständig den Strand von Ducos abzulaufen, fand angespülte Planken, Bretter, Bohlen, Stämme und Äste.

      Bapaume gab Grousset die Hand. "Eine Mühe, die sich auszahlt. Wer nicht jede Nacht zu Schweiß zerfließt, hat vielleicht Chancen, Ducos zu überstehen."

      Als Grousset in die Hütte trat, saß Kervizic wie abwesend vor dem vergilbten Kartenblatt. Landkarten hatten ihn schon als Knaben fasziniert, von ihrer, Betrachtung angeregt, konnte man sich die tollsten Abenteuer ausdenken.

      Grousset machte einen Scherz, der auf jene Jugendromantik anspielte, Kervizic erwiderte, wer Ducos ausgesucht habe, um Gefangene auf Nummer Sicher, zu wissen, sei ein verteufelt kluges Köpfchen gewesen.

      "Fundamentale Erkenntnis", spöttelte Grousset, "leider nicht neu."

      "Bis auf einige Einzelheiten", widersprach Kervizic, "die einem erst dann in aller Deutlichkeit klarwerden, wenn man die Karte studiert." Kervizic zeigte mit der Spitze des Klappmessers auf die buntbedruckte Leinwand. "Nehmen wir an, es gelingt, nachts schwimmend den Hafenkai zu erreichen. Dann sind wir auf der Hauptinsel Neukaledonien - aber der Heimat nicht näher als auf ihrer Halbinsel Ducos."

      "Allerdings mit dem Vorteil, weniger hungern zu müssen. Flora und Fauna Neukaledoniens sind gegen Ducos paradiesisch und bieten genug Nahrung."

      „Dafür wirst du gejagt wie ein wildes Tier, musst dich vor den Menschen verstecken, als seien sie Kopfjäger." Kervizics Falten auf der Stirn vertieften sich. "Ein Meer zwischen der Freiheit und den Gefangenen ist zuverlässiger als die dicksten Mauern. Gnädig überlässt man den Deportierten die Halbinsel; denn eine Flucht von Ducos scheint absurd. Aus dem Grund sind sich Maden und Wachhunde unserer so sicher."

      "Zum Glück wollen wir nicht nach Neukaledonien, sondern nach Europa, wohin uns die brave Viermastbark 'Plymouth' bringen wird."

      "Das ist unsere Chance", Kervizic murmelte es nicht gerade enthusiastisch. "Und wer Chancen nicht nutzt, ist sie nicht wert."

      Er legte das Kartenblatt zusammen und schob es in einen Brustbeutel, ähnlich dem Groussets. Sie beratschlagten, was sie beim Weggang mitnehmen wollten. Es galt, sich so wenig wie möglich zu belasten. Andererseits konnten Dinge wie Zündhölzer oder ein Klappmesser lebenswichtig werden. Was sie im vereinbarten Versteck zurückließen, würde Louise Michel unter den Gesinnungsfreunden verteilen. Grousset schlug vor, eine Nachricht an Louise ins Versteck zu legen, dass Emile Bapaume die Erdhütte bekommen sollte.

      "Wer ist Bapaume?" fragte Kervizic.

      "Ich hatte ihn beim Stützpunkt hinter der Barrikade in der Rue de Rivoli kennengelernt. Inzwischen legte er sich einen Vollbart zu und hat sich bislang dahinter versteckt. Heute hat er mir Grüße von Natalie übermittelt."

      "Deshalb soll er unsere Bude haben?"

      "Er ist ein erfrischend kritischer Kopf."

      "Kritische Köpfe gibt es mehr auf der Welt."

      "Trotz seiner skeptischen Ader hat Bapaume bis zum Schluss gekämpft. Dazu gehört mehr, als wenn ein Brausekopf in blindem Eifer mitrennt."

      Kervizic stand auf und trat vor die Hütte. Von See her wehte es frisch. Tief ein- und ausatmend reckte er sich. "Ja", sagte er, "dazu gehört mehr. Soll Bapaume die Hütte haben."

      ZWEITES KAPITEL

      Ertrinken wäre der bessere Tod

      Roger Kervizic stand regungslos und