E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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Danach im Lederwarengeschäft als Laufjunge. Jeden Tag vier Stunden Pakete schleppen. Für drei Mark die Woche. Der Zehnjährige verdient Vater, Mutter, Schwester die Margarine aufs Brot, zu ihren Pellkartoffeln den Salzhering, Festbraten der Armen. Der kindliche Ausgebeutete wächst heran, arbeitet länger, schafft mehr. Zwölf Mark vom Dreizehnjährigen an jedem Wochenende der Mutter auf den Tisch. Aber was kann man im dritten Kriegsjahr noch dafür kaufen?

      Doch da gibt es auch Helles, Kindhaftes. Eines Tages steht der Lachende mit einer großen Kiste vor der Mutter. Was er damit anfangen wolle? Kaninchen halten. Zu einem Einzigen erschmeichelt er die Erlaubnis. In einem Jahr sind es zweiundzwanzig; Kellerzoo der Hinterhauskinder. Alle schaffen Futter heran, alle helfen Ställe zimmern, alle hegen und pflegen. Sie lieben die Tiere und mögen den Karnickeljungen, der hilft und gern schenkt, der gern Spaß macht, um ihnen Spaß zu machen.

      Am hellsten schimmern die Stunden mit Vater. Er erzählt, wie er als junger Schneidergeselle aus mecklenburgischer Dorfenge ausbrach, sich Erfahrungen erwanderte, wie er sein Wissen erlangte von der einzigen Kraft gegen die Ausbeutung. An die zehn Jahre ist er in der Partei und ebenso lange ein treuer Gewerkschafter, als der Sohn geboren wird. Vater scheut keine Parteiarbeit. Wird er auf einer Arbeitsstelle entlassen, so bleiben von ihm gewonnene Verbandskollegen zurück. Zwei flinke, stille Hände sind dem Vater eigen, die immer wissen, was zu tun ist. Sie verstehen, Dreiangel fast unsichtbar zu flicken, aus alten Sachen neue Kleider zu zaubern und nähen im Vorbeigehen einen Knopf an, hurtig, fast wie im Märchen.

      Der höchste Feiertag der Familie ist der 1. Mai. Geschenk des Vaters: Der Sohn darf zum ersten Mal mit demonstrieren. Krönung des Geschenks: ein Paar neue Schuhe. Zu ihrem Festtag sparte Vater sich die große Ausgabe vom Mund ab. Hand in Hand gehen sie. Die Straßen sind lang, der Tag ist heiß, ungewohnt den Füßen das harte Leder. Blasen, Schmerzen, verstohlene Tränen. Der Kleine mag den Großen nicht enttäuschen. Bis der es merkt, sich lächelnd niederbeugt und die Schuhe ausziehen hilft. Die Schuhe über der Schulter, kommt der Sohn mit dem Vater nach Hause, verstaubt, müde, glücklich. Von Vaters Schultern hat er über ein Meer von Köpfen geblickt, in Gesichter, alle ähnlich dem des Vaters. Und weil Vater gut ist, ist das Meer gut, und es macht stark, wenn man darüber hinschaut, wie es wogt und sich in eine Richtung vorwärts bewegt.

      Schulentlassung. Auf drei Mark ist die wöchentliche Arbeitskraft eines Lehrlings veranschlagt, vom Lehrherrn und vom Gesetz. Erstes Lehrjahr, viertes Jahr des Kriegs der großen Räuber gegen die großen Räuber. Auf Verordnung werden den Lehrlingen vom Almosenlohn Zwangsspargelder einbehalten, erpresste Kriegsanleihe von den Kleinsten der Kleinen. Der Eisengebadete muckt auf, höhnt vor den Mitgenarrten über das Zerrbild Vaterland, senkt den Keim der Unbotmäßigkeit in ihre Herzen. Der Lehrherr ermahnt, verwarnt. Umsonst. Hinauswurf aus der Schlosserlehre. Wochenlang läuft der Vater um eine neue Lehrstelle. Der Sohn soll ein ordentlicher Schlossergeselle werden; wer sein Fach beherrscht, steht besser seinen Mann im Klassenkampf. Zweite Lehrstelle, mit etwas milderen Bedingungen. Das Jahr achtzehn bricht an. Erdbeben der Oktoberrevolution rollt um die Welt. Warnung für die Herren Deutschlands: die großen Januarstreiks. Der Reifende saugt die Lungen voll von der Luft, in der Funken kommender Entladungen knistern.

      Erlebnis der Novembertage. Nieder der Krieg, nieder der Kaiser - Frieden, Freiheit, Brot! Der Geprügelte, der Gehetzte, der Hungernde schreit es heraus mit Tausenden andern Drangsalierten. Er demonstriert, er denkt und fragt. Der Vater ist an seiner Seite. Klasseninstinkt wächst zum Klassenbewusstsein. Verrat sozialdemokratischer Demagogen macht ihn nicht irre, vertieft seinen Klassenhass. Schreien ist nicht viel, handeln ist mehr. Er tritt in Karl Liebknechts Freie Sozialistische Jugend ein. Je stärker die Linke, desto schwieriger der Verrat für die Rechten. "Der Sozialismus marschiert!" schreiben die an die Litfaßsäulen, aber auf den Straßen lassen sie die Generalssöldner gegen die Revolution marschieren. "Freie Bahn dem Tüchtigen!" sagen sie in den Arbeiterversammlungen, doch in der Wirtschaft verschaffen sie den alten Räubern freie Bahn zu neuer Ausbeutung. Hellwach sieht es der Sechzehnjährige, sieht, wie die Gestrigen wiederkommen, wie die alten Demagogen mit neuer Macht die Feuer der Revolution umzingeln, sie zu ersticken und auszutreten versuchen.

      Die Reaktion erhebt überall ihr Haupt. Auch im Fortbildungsschulwesen. Noch immer Unterricht außerhalb der Arbeitszeit, noch immer die alten Lehrer des alten Systems mit den alten Methoden. Chauvinistische Bürgerkunde, vaterländische Lieder, monarchistische Geschichtsklitterei. Was hat die Kriegsmacher in die Knie gezwungen? fragen die Genossen der Freien Sozialistischen Jugend. Also Streik gegen die kaisertreuen Pauker, gegen jugendfeindliche Schulmethoden. Das ist die Waffe. Man muss sie aufheben, damit zuschlagen. Der Sechzehnjährige, einziger Jungkommunist in der Klasse, glüht vor Begeisterung, begeistert seine Klassenkameraden. Sie helfen ihm die Flugblätter vor der Schule verteilen, tragen das Wort Streik in alle Klassenzimmer. Es summt und brodelt in den Schulräumen. In der Pause diskutierende Gruppen, Ansammlungen, Zusammenrottungen. "Los, Anton, du musst sprechen!" Er klettert auf einen Sandhaufen, sieht von oben ihre entschlossenen Gesichter. Lehrer Musiol, Monarchist und übelster Pauker, kommt schnaufend.

      "Was wollen Sie da oben, Söhnchen?"

      Beklemmende Stille, erwartungsvolle Sekunde. "Zu meinen Schulkameraden sprechen, Vaterken!" Tosender Beifall, Johlen, Pfeifen. Das verknöcherte Herz voller Panik, flüchtet Musiol ins Lehrerzimmer. Beratung des verstörten Kollegiums. Bevor der junge Streikführer zu reden beginnt, schickt er Musiol einen Vertrauten nach. Der dreht zweimal leise den Schlüssel im Türschloss des Lehrerzimmers, bringt ihn triumphierend dem Sprechenden. Dessen flammende Worte reißen auch die Lauen mit, lassen sie den Forderungen der Freien Sozialistischen Jugend zustimmen. Nieder die Lehrlingsdressur und -ausbeutung, hoch die neue Zeit und ihre Arbeiterrevolution! Erlöst quellen sie auf die Straße, jubeln, als der Schlüssel in hohem Bogen ins Wasser des Engelbeckens fliegt, formieren sich zur Demonstration. In den Andreas-Sälen stoßen sie zu den streikenden Lehrlingen anderer Berliner Fortbildungsschulen.

      Den Eltern flattern Strafmandate ins Haus. Auf den Scheiterhaufen mit den papiernen Einschüchterungsversuchen! Die Schulreaktion wird kleinlaut, lenkt ein. Wichtige Forderungen werden anerkannt. Die "Rädelsführer" dürfen nicht bestraft werden. Der Junge aus der Kellerwohnung hat das Fegefeuer des Klassenkampfes bestanden. Andere mit ihm. Neueintritte in die Freie Sozialistische Jugend. Die Revolution ist nicht tot, sie organisiert sich. Sie wird noch viele Stationen bis zum Sieg durchlaufen müssen.

      Aus Spartakus und anderen linken Gruppen bildet sich in den letzten Tagen des Jahres achtzehn die Kommunistische Partei. Etwas später entwickelt sich ihre Jugendorganisation. Aus der Freien Sozialistischen Jugend geht der Kommunistische Jugendverband hervor. Organisator der Gruppe Südwest ist der Schlosserlehrling Anton. In der Alten Jakobstraße hat die Jugend sich ein Heim ertrotzt. Keine Gardinen, keine Teppiche, keine Sessel - ungehobelte Bänke, rohe Tische, aus Kisten gezimmerte Hocker. Zwei wurmstichige Schränke voller Bücher, herübergerettet aus einem sanft entschlafenen sozialdemokratischen Bildungsverein. Deutsche Klassiker der Poesie und Prosa. Klassiker des Marxismus. Sich die Welt erobern helfen durch das gedruckte Wort. Und bei alledem fröhlich sein, singen, spielen, musizieren. Die Gruppe wächst, erscheint auf Diskussionsabenden der Sozialistischen Arbeiterjugend, des Christlichen Vereins junger Männer, zieht dort die Besten an sich. Unvergessliche Fahrten voller Ausgelassenheit - oder mit zielstrebiger Agitation auf dem Dorf. Es gibt nichts, um das nicht gekämpft werden muss, es gibt nichts, um das nicht mit Elan gekämpft wird: um Herzen und Hirne der arbeitenden Jugend, um das Verständnis der Landbevölkerung, um das Recht auf Versammlung und Redefreiheit, um das Recht auf die Straße zu gehen. Nach allen größeren Veranstaltungen heranpreschende Überfallwagen, blitzende Tschakos, dreschende Gummiknüppel. Fahne vor, Achterreihe, unterfassen! Wenn die erste Reihe steht, steht der Demonstrationszug. Anton ist immer in der ersten Reihe, kennt bald viele Polizeireviere Berlins von innen.

      Der Schlosserlehrling lernt aus, der Schlossergeselle ist arbeitslos. Trotzdem sind die Tage nicht lang genug, die Nächte zu kurz. Er stürzt sich auf die Bücher, arbeitet unermüdlich für die Organisation. Er weiß um das Geheimnis des Antäus, wünscht sich stark zu sein wie Herakles und klug wie Odysseus. Dieser Listenreiche scheint unsichtbarer Pate des Arbeiterjungen mit dem verschmitzten Mutterwitz und einem heiteren Gemüt. Tag um Tag im Dienst der Arbeitersache, scheint er alles spielend zu bewältigen, seien es Schwierigkeiten der Organisation,