E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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an die unbekümmerten Streiche! Ob Knubbel noch daran denkt, wie sie im Kopfsprung vom Geländer der Waisenbrücke in die Spree sprangen, hart an der Gefahr vorbei, sich das Rückgrat zu brechen, nur um den Haufen zeternder Zuschauer aufzuregen? Wie sie beide auf dem dünnen Eis der Spree tanzten, zum Gaudium der Freunde und zum Ärger der Polizisten, bis Knubbel einbrach, von Anton ans Ufer gezerrt und dann ins Kino gelotst wurde, damit er dort trockne und die Eltern nichts merkten? Oder die stillen Sonnenstunden auf dem flachen Dach ihrer Mietskaserne, wo sie eifrig das Kommunistische Manifest studierten. Wie viel Sommerabende der Gruppe im Köllnischen Park, mit Liedern, Musik und Hunderten Zuhörern, denen der Unermüdliche stets eine politische Rede aus dem Stegreif obendrauf gibt, bis ein Warnpfiff die nahende Polizei angekündigt. Herrlich, im Lunapark die überschüssige Kraft am Haut-den-Lukas auszutoben, kreischend die Wasserrutschbahn hinabzuscbießen, im bayerischen Bierzelt zu jodeln und zu schuhplatteln, wie er es auf der Walze gelernt hat. Oder die Winterabende auf dem Weihnachtsmarkt. Reizen Raritätenkabinett und Zerrspiegel nicht, Allotria zu treiben? Wo ein leerer Stand ist, stellt sich der Spaßvogel hinter den Ladentisch, bringt wie ein Ausrufer in witzigen Sätzen die Politik der Partei an den Mann. Sein lachendes Publikum bedauert es nur, wenn dem Pseudoausrufer die Puste ausgeht. Ja, so war es, und es ist gut, dass es so war. Lachend kämpft es sich besser, und die Jugend mag jene Grämlichen nicht, die ihre Last sichtbar vor sich hertragen mit der Miene des Märtyrers. Das Leben ist Kampf, das des erwachten Proletariers Klassenkampf. Lebt man ihn vor, überzeugt man; lebt man ihn heiter vor, reißt man mit. Wie kann einer traurig sein, wenn er weiß, dass die Arbeiter siegen! Niemand kämpft, wenn er nicht an den Sieg glaubt, am allerwenigsten die Jugend. Wer ihr das rechte Verhältnis bietet zwischen Lehre und Tat, der ist ihrer Taten sicher, der ist ihrer Treue auch in Niederlagen gewiss. Ja, sie haben manche Schlappe in jenen Tagen eingesteckt, aber gegen jeden Misserfolg stand auch ein Sieg. Nie wird der Besitzer der Oranien-Lichtspiele die Aktion der Arbeiterjugend gegen einen antisowjetischen Film vergessen, die Antons Gruppe organisiert hat. Es wimmelt an diesem Abend in der Flimmerbude von farbenfrohen Mädchenkleidern, von Windjacken und Manchesterhosen und - von Uniformen. Die Polizei hat Wind bekommen. Die Sipos stehen mit heruntergelassenem Sturmriemen vor dem Eingang, am Durchlass und in den Kinogängen. Reklame, Kulturfilm, Wochenschau. Harmlos beginnt das Machwerk, plötzlich kommen die Krallen aus den Sammetpfötchen, unverhohlene Tendenz gegen die Sowjetunion, gegen alles Fortschrittliche. Die ersten Protestrufe, Warnungspfiffe der Polizisten, Gummiknüppelklatschen. Im Kino wird es hell. Die Polizei drischt, eingekeilte Besucher protestieren, Tschakos poltern zu Boden, die Jugend ruft in Sprechchören, die Jugend singt! Auf der Straße Fortsetzung. Jugendliche werden auf die Flitzer gestoßen. Der Haupttrupp marschiert, mehrmals auseinandergeschlagen, mit Gesang über den Oranienplatz; zum Heim in der Alten Jakobstraße. Manch einer hat von den Gummiknüppelhieben Striemen auf Schultern und Rücken, aber alle haben blitzende Augen: "So müssen wir es immer machen!"

      Ja, singend widerstehen. Wer vorn geht, muss singen können, und wer immer vorn ist, wird bald bekannt: Anton wird in die Bezirksleitung des Jugendverbandes gewählt.

      Arbeitererhebung, Mitteldeutschland zusammengeschossen, Hamburger Aufstand niedergeschlagen. Düstere Zeit der Illegalität. Partei verboten, Jugendverband verboten, Zentralorgan verboten. Die "Rote Fahne" erscheint trotzdem. Der auf Herz und Nieren Geprüfte ist einer von denen, die es möglich machen. Vor der Parteidruckerei stehen die Sipos. Nachts transportiert Anton mit andern Draufgängern die Zeitungspacken über die Dächer. Die Sipo besetzt die Maschinenräume. Druck in einer befreundeten Druckerei. Wie die Stereos aus der Parteidruckerei dort hinbringen? Alle aus- und einfahrenden Gefährte werden kontrolliert. Die Verwegenen binden sich die Platten über den Leib, verlassen das Haus als harmlose Besucher. Auch diese List wird eines Tages entdeckt. In kleinerem Format erscheint das Zentralorgan dennoch. Diesmal hilft der verbotenen Partei ein sympathisierender Druckereibesitzer. Er "weiß von nichts", falls die Sache platzt, überlässt er den Eingeweihten einen zweiten Schlüssel seiner kleinen "Quetsche" auf dem Hinterhof in der Gitschiner Straße. Spätabends huschen dort Schatten durch die Toreinfahrt, die illegale Schicht beginnt. Die kleine Presse spuckt Bogen auf Bogen aus mit einem Inhalt, der sich verteufelt anders liest als der, den sie brav des Tages von sich gibt. Der an Eisen Gewöhnte ist schnell heimisch im Reich der Bleibuchstaben. Sein Wissen um diese Dinge wird ihm noch öfter zustattenkommen. Sechsundzwanzig Zeichen, harmlos und winzig, bergen revolutionäre Sprengkraft - wenn man sie zu den richtigen Sätzen zusammenfügt. Er hilft, wo flinke Hände gebraucht werden: beim Bogenfangen, Abzählen, Abpacken. Vor Morgengrauen erscheinen neue Schatten, lautlos, auf die Sekunde. Kuriere der einzelnen Unterbezirke holen die fertigen Packen. Die "Rote Fahne" erscheint, die Partei lebt!

      Eines Nachts ist die Polizei da. "Hände hoch!" Bullen umringen die kleine Schar. Handschellen klicken. "Abführen!" Der Trupp wird über den Hof gejagt, auf den vorfahrenden Flitzer gestoßen. Einer fehlt. Anton ist ein paar Minuten später gekommen und entgeht der Verhaftung. Er alarmiert die Partei, der illegale Apparat kann gesichert werden.

      Das ZK des Jugendverbandes weiß, dass Anton gefährdet ist. Er muss weg vom heißen Berliner Pflaster, wird als Kurier nach Bayern geschickt, um gerissene Fäden zu knüpfen. Nach einigen Tagen haben ihn die Häscher. Zufall, Verrat? In Nürnberg bekommt er drei Monate aufgebrummt wegen "Weiterführung einer verbotenen Organisation". Mit zwanzig Jahren ist er Strafgefangener, Verurteilter jenes Klassenstaates, der sich Weimarer Republik nennt. Nach der Entlassung erfragt Anton beim Jugendverband die Berliner Situation. Besser noch fortbleiben, lautet die Antwort, und so geht er mit einem Jugendgenossen auf die Walze durch Bayern und Württemberg.

      Endlich kehrt er zurück in die Heimatstadt. Die Gruppe empfängt ihn mit Liedern, Blumen, Musik; die Familie strahlt. Partei und Jugendverband sind noch immer verboten, doch es gibt legale und halblegale Möglichkeiten. Da ist das proletarische Jugendkartell mit seinen Wander- und Sportorganisationen. Ein weites Feld, ein gutes Feld, wenn recht geackert wird. Die Besten sind nicht nur bereit, den Marxismus zu studieren, sie lernen auch begierig das Abc des bewaffneten Aufstands. Es wird wieder eine revolutionäre Situation geben, man muss vorbereitet sein.

      Am 21. Januar 1924 stirbt Lenin. Tiefe Trauer in allen Arbeiterherzen. Schmerz wird Ansporn und Tat. Wenn der Größte fällt, müssen tausend andere in die Bresche springen.

      Die Sowjetmacht ist in sicheren Händen, das Vaterland aller Werktätigen festigt sich. Noch im Jahre einundzwanzig hat Anton mitgeholfen bei Solidaritätsaktionen für das vom Interventions- und Bürgerkrieg geschüttelte Land. Jene überfüllte Kundgebung im Sportpalast: "Hände weg von Sowjetrussland! - Helft den Sowjetmenschen!", war auch sein Werk. Jetzt wird er eingeladen, ist einer der Delegierten des Jugendverbandes zum V. Weltkongress in Moskau. Voll unvergesslicher Erlebnisse kehrt der junge Delegierte zurück. Er wurde Ehrensoldat eines Schützenregiments. Von nun an betrachtet er sich für immer als Soldat der Roten Armee.

      Bald darauf heiratet Anton. Er war ein Arbeiter, und sie hatte auch nichts, umreißt proletarischer Galgenhumor solche Ehestandsgründungen. Aber was tut' s? Gemeinsam kämpft es sich besser. Er wird in die Partei aufgenommen, und an die Stelle des Wirkens unter der Jugend tritt jetzt Gewerkschaftsarbeit und füllt das Leben des Berufsrevolutionärs aus.

      Am 1. März 1924 war das Verbot der Partei aufgehoben worden. Die Bourgeoisie fühlt sich stark. Die Beendigung der Inflation ist der Auftakt zur "Epoche der relativen Stabilisierung", wie die Partei es einschätzt. Mit dem Dawesplan fließt amerikanisches Kapital nach Deutschland. Die Betriebe werden rationalisiert, die Ausbeutung wird verschärft. Aber die Reformisten faseln vom "Silberstreifen am Horizont", wollen "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" sein. Anton, einer der jüngsten Kollegen im Deutschen Metallarbeiterverband, enthüllt unermüdlich den Verrat der Bonzen, zerstört die Illusionen vom "friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus". Das Vertrauen der Kollegen entsendet ihn als Delegierten zum Verbandstag. In Bremen, der Stadt stählerner Schiffsleiber, ragender Kräne und rußiger Werftschmieden, hämmert er seine Sätze in den Saal, spricht die Sprache der Männer vom Eisen. Jetzt schlagen die Gewerkschaftsbürokraten zu. Statuten, Mehrheitsbeschluss, parlamentarische Spielregeln? Naives Geschwätz. Demokratie ist, was uns nützt. Diese Demokratie ist für uns und für unsere Partner, die Herren des Stahls. Anton wird gleich vielen Aufrüttlern aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. Keine leichte Situation für die Partei. Was soll mit den Ausgeschlossenen geschehen? Man muss sie zusammenfassen