E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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      "Oder hat er eingesehen, dass es unsinnig ist, sich gegen den Nationalsozialismus zu stemmen?"

      "Schön geglaubt, aber nicht originell."

      "Bei über sechs Jahren Haft?"

      "Reichlich milde für einen, der unter anderm im Zuchthaus Sammlungen für die mit lebenslänglich bestraften Herren Genossen organisiert hat."

      "Ich hielte es für nützlich, solch einen Fanatismus umzuschmelzen für unsere Bewegung."

      Taege lachte amüsiert. "Umschmelzen? - Der hasst uns wie die Pest. Bei der erstbesten Gelegenheit steht er gegen uns."

      Larsch zog zweifelnd den Kopf zwischen die Schultern.

      "Möglich, dass er uns noch hasst. Aber nach einem Selbstmörder sieht er mir nicht aus. Der bildet sich nicht ein, mit dem Leben davonzukommen, falls er noch ein einziges Mal bei hochverräterischer Tätigkeit gefasst wird."

      "Die Sorte hält sich für klüger; die denken, sie werden nicht gefasst."

      "Seine bisherigen Erlebnisse müssten eigentlich dagegen sprechen." Er kann dir nichts, trotzte es in Larsch, da ist die Verfügung. Dennoch fragte er beherrscht: "Und warum dann diese ?fast unbegreifliche Milde' des Reichssicherheitshauptamtes, wenn bei Born Hopfen und Malz verloren ist?"

      Taege lächelte verletzend nachsichtig. "Die alte Gefühlsduselei aus der Gymnasiastenzeit steckt Ihnen noch immer in den Knochen. Denen im RSHA glücklicherweise nicht. Umerziehung? Humanistischer Kohl."

      "Dann wüsste ich wirklich nicht ... " Der vorsichtige Beamte Larsch konnte nun doch eine leichte Erregung nicht verbergen und hielt ein wenig erschrocken im Satz inne.

      Ungeniert freute sich Taege seiner Überlegenheit. "Versuchsballon. Unter diesem Gesichtswinkel sind solche probeweisen Entlassungen zu betrachten."

      Larsch legte sich nachdenklich in seinen Sessel zurück. "Gewissermaßen ein Katze-und-Maus-Spiel?"

      "Gut kombiniert", spottete Taege.

      "Dabei ist manchmal schon eine Maus entschlüpft."

      "Wenn schon", Taege entfernte liebevoll die Bauchbinde von seiner teuren Zigarre, "der Effekt ist immer für uns."

      Larsch unterdrückte den aufsteigenden Ekel und erwiderte höflich: "Welche Gründe das RSHA auch haben mag, ich glaube nicht, dass der Born so unbesonnen sein wird, noch einmal gegen uns zu arbeiten."

      "Glaub's der Deibel!" polterte Taege, und sein Ärger war nicht gespielt. "Leider kann ich ihm sein unverdientes Glück erst versalzen, wenn wir ihn wieder geschnappt haben."

      Das Telefon läutete. Larsch lauschte in den Hörer und fragte den Oberkommissar. "Kann er kommen?"

      Taege nickte. Larsch sagte "Ja" und legte den Hörer auf. Um einen versöhnlichen Abschluss zu finden, wiederholte er: "Ich denke, die sechs Jahre werden ihm eine Lehre sein."

      Gerade das reizte Taege, und er sagte mit drohendem Unterton: "Ihr Optimismus grenzt an Defätismus."

      "Ich bin Strafvollzugsbeamter. Schließlich hat unser Strafvollzug einen Sinn."

      "Jawohl", triumphierte Taege, "kuschen müssen sie lernen."

      Larsch flüchtete hinter den schützenden Schild der Verfügung. "Ich verstehe unter der Anordnung, dem Bestraften eine letzte Gelegenheit zu geben, in der Freiheit seine Loyalität zu beweisen."

      Taege hielt dem Direktor die Hand hin. "Wetten, dass wir dem noch den Kopf vor die Füße legen?"

      Von Taeges plötzlicher Geste erschrocken, zuckte Larsch unwillkürlich zurück. Er hatte viel erlebt; im Dritten Reich viel zu viel. Aber irgendwie war es ihm stets gelungen, alles Unangenehme hinter einem Nebel zu halten. In diesem Augenblick trat ihm das Schreckliche nackt entgegen. Der da wettete um Menschenleben wie spielende Knaben um Murmeln. Larsch lachte hüstelnd. "Sie haben - äh - wirklich - Humor."

      Im Genuss echter Vorfreude rieb sich Taege die fleischigen Hände. "Und nun werden wir mal den Burschen ein bisschen zwiebeln. Die goldene Freiheit wird ihm nach 'nem Abschiedsfeuerwerk um so wertvoller sein." Er stand auf, reckte sich und zog die kneifende Hose nach unten.

      Larsch schaute von seinem Stuhl aus scheinbar gleichmütig aus dem Fenster. Hast du zu viel gesagt? grübelte er. Wenn es zur Pensionierung reichte, wäre es gut. Kommt es dicker, werde ich mich ducken müssen.

      Unfassbar, kaum vorstellbar wäre das. Wieder durch die Straßen gehen. Das Leben sehen, hören, riechen und fühlen. Die Welt, jetzt streng umgrenzte acht Quadratmeter, würde plötzlich weit, so weit sein.

      Der Gefangene von Zelle 4 im Block A stand unter dem Fenster und starrte in den Morgenhimmel. Durch das fünfzig Zentimeter hohe, etwa einen Meter breite Fenster sah er das Blau des Himmels. Fünf schwarze, senkrechte Eisenstäbe zerschnitten es in sechs gleichmäßige Felder.

      Tag der Entlassung. Nach sechs Jahren Marter, Hunger, Hohn. Würden sie ihn entlassen?

      "Haben Sie uns etwas zu sagen?" Nicht nur einmal war ihm die Frage gestellt worden, drohend gebrüllt, erpresserisch gezischt oder säuberlich zu Papier gebracht.

      Die Versuchung schlief nie, und Verrat war eine der Säulen dieses Staates. Schon deswegen musste die Antwort jedes Mal lauten: "Nein." Und dafür Marter, Hunger, Hohn. Und deswegen würden sie ihn nicht entlassen.

      Er weiß genau, wie es kommen wird. An diesem Vormittag werden sie ihn nach vorn befehlen. Ordnungsgemäße Aushändigung seiner Habseligkeiten, ordnungsgemäßer Umtausch der Gefängniskluft gegen die eigene Kleidung, ordnungsgemäßes Unterschreiben der Entlassungspapiere, und dann - zwei Herren in Zivil werden auf ihn zutreten und sagen: "Kommen Sie mit, Herr Born!" Und alles wird wieder von vorn beginnen: Vernehmungen, Schläge, Brüllen, Foltern, Bunker, Einzelhaft, strenge Isolierung, neue Versuchung und, falls die wieder abgewehrt ist, das Ende: an einem Fleischerhaken aufgehängt, "auf der Flucht erschossen" oder einfach zu Tode geprügelt.

      Anton Born atmete mehrmals tief ein und aus. Diesmal nützte es nichts. Sein Körper kam ihm vor wie aus Glas mit zu hoher Spannung. Er begann seinen wohl zehntausendsten Rundgang. Sieben kleine Schritte hin, sieben kleine Schritte zurück. Es war ihm jetzt nicht möglich, Vokabeln zu pauken oder Stenografie zu üben.

      Wenn sie ihn nun doch freiließen? Rechtlich durften sie ihn nicht festhalten. Lächerlich, was bedeutete denen Recht und Gesetz. Sie pfiffen darauf, wenn es ihnen hinderlich war, sie machten es zum Fetisch, wenn es ihnen passte, das Volk damit zu blenden.

      Wenn es ihnen passte? Konnte dieser Glücksumstand nicht eintreten? Sie schienen auf der Höhe ihrer Macht zu sein, auf schwindelnder Höhe. Jedwede Arbeiterorganisation aufgelöst, zerschlagen, ihre Besten gefangen, umgebracht oder außer Landes. Das Volk draußen schien restlos befriedigt und befriedet. Jeder hatte seine Arbeit, war satt. Und noch mit fünfzig Pfennig Stundenlohn durfte er sich als Angehöriger einer siegreichen Nation fühlen, hatte es doch die englische Diplomatie dem Herrn Kanzler in München ausdrücklich bescheinigt. Österreich, Tschechoslowakei, jeder außenpolitische Coup war ihm bisher geglückt. Schließlich entscheidet der Erfolg, und der war bei den Fahnen des Führers. Wer wollte nicht auf der Seite des Erfolgs sein? Da sollten "kleinliche Kritikaster" lieber schweigen.

      Schwiegen alle? Das Weltgewissen schwieg nicht. Die Unbeirrbaren rüttelten es immer wieder wach. Das waren Wermutstropfen im Freudenbecher des Führers. Das kratzte ihm unentwegter in der Kehle als seine Heiserkeit vom Radiogebrüll. Um es nicht mehr zu spüren, war er bereit, dafür zu zahlen. Da ließ man reiche Juden über neutrale Konsulate sich vom KZ-Tod freikaufen, da gestattete man dem Internationalen Roten Kreuz Besuche von Zuchthäusern, ausländischen Journalisten Studienfahrten durch Konzentrationslager. Alles wurde akkurat vorbereitet, und es sah manchmal so aus, als ließe sich das Weltgewissen Sympathien abkaufen - bis dann wieder irgendeine "Gräuelgeschichte" die bieder gekochte Suppe verdarb. Trotzdem gab es der Hitler nicht auf. Seine Ausbaldowerer mussten andere Manöverchen ersinnen, mussten immer aufs neue versuchen, jenen Sand in die Augen zu streuen, die nicht blind zu machen waren, die sehr klar wussten: Ein grundsätzlich