E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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erschrak, weil er plötzlich so finster aussah. Um ihn wieder in guter Laune zu sehen, fragte sie mit einem Blick schräg von unten herauf: "Vorhin haben Sie du gesagt."

      Seine Stirn glättete sich wieder. "Es war wohl nicht angebracht."

      "Aber jetzt fände ich es angebracht."

      "Na, also dann, Dagmar, wollen wir Mittagessen gehen?"

      Kameradschaftlich gab er ihr die Hand, und sie machte sich schwer, als er sie hochzog. Sie gingen schweigend bis zur großen Dorfdüne, wo sich der schmale Weg gabelte. Anton blieb stehen. "Ich muss hier hinunter. Tschüs denn, Dagmar, bis ... "

      Sie blinzelte ihn an. "Bis ...?"

      "Sagen wir bis morgen Vormittag, beim Ballspiel?"

      Sie überhörte die Anspielung, tat trotzig und druckste: "Ach, und heute Nachmittag schlafen Sie wohl wegen - wegen der Strapaze?"

      "Nee, das nicht", er kratzte sich das feucht verwuschelte Haar, "aber nachmittags gehe ich immer spazieren. Ich liebe Kiefern, bin in Berlin geboren. Weiter weg ist auch Buchenwald." Sie tat sehr erstaunt.

      "Tatsächlich? Und ich dachte, hier gibt' s bloß diese langweiligen Kiefern."

      Das ist die Bitte um eine Einladung, dachte er und tat ihr den Gefallen. "Wenn du Lust hast, können wir uns auch die dicken Buchen ansehen, aber unter einer Bedingung."

      "Oho."

      "Du und Sie, das ist so ein komischer Mischmasch. Entweder beide Sie oder beide du."

      "Ich bin für du." Übermütig warf sie die Haare nach hinten.

      "Um drei dann, am Dorfausgang."

      "Einverstanden." Sie gab ihm die Hand und ging rasch davon. Mehrmals noch schaute sie sich um und winkte.

      Kurz vor drei Uhr saß Anton auf einem bemoosten Findling am Dorfausgang und betrachtete einen Ameisenhaufen. In seinem Kopf wimmelten die Gedanken. Seine Gutmütigkeit hatte sich von Dagmar provozieren lassen, sie einzuladen. Erwartete sie etwa einen Flirt? Sie war ein nettes Mädel, intelligent, verwöhnt, aber offenherzig. Er würde sie enttäuschen müssen. Anders als in der Einsamkeit der Zelle, aber ebenso stark empfand Anton, wie sehr Elsbeth in all seinen Gedanken war.

      Dagmar verspätete sich um zehn Minuten. Anton tat, als höre er sie nicht kommen.

      Sie stand eine Weile hinter ihm und sagte dann: "Studien getrieben?"

      "Ja, über Unpünktlichkeit als Laster."

      "Du bist aber streng, Toni."

      "Wahrscheinlich der erste strenge Mensch in deinem Leben."

      "Da kennst du unsern Studienrat Leske nicht. Der sagt zum Beispiel, eins von beiden müsste abgeschafft werden, entweder die Mathematik oder die Frauen."

      Ihrem Selbstbewusstsein einen Dämpfer zu geben, sagte er: "Von mir aus könnte beides abgeschafft werden."

      "Du bist ja zynischer als Leske."

      Er lenkte ein. "Wenn ich das ernst gemeint hätte, wäre ich dir dann nachgeschwommen?"

      Sie schien wirklich traurig. "Du machst dich über mich lustig, und ich - ich benehme mich heute dauernd falsch."

      "Bis auf eben, wo du es offen zugibst."

      Ein wenig hoffnungsvoll hob sie den Kopf. "Du willst mich nur trösten."

      "Das auch."

      "Du bist nämlich ein sehr weichherziger Mensch."

      "Nanu?"

      "Heute Vormittag, als ich so albern war, hast du mich bei den Kindern noch entschuldigt. Obwohl ich mich um deine Warnung nicht gekümmert habe, bist du mir nachgeschwommen. Und als ich mit dir spazieren gehen wollte, hast du zugesagt. Dabei bin ich dir viel zu jung und zu grün."

      Anton war betroffen von ihrer Beobachtungsgabe und antwortete nicht gleich.

      Sie bereute, zu viel gesagt zu haben. "Dieses Nest hier ist stinklangweilig, und darum war alles so - so dumm."

      "Dafür bist du doch intelligent."

      Ihr Näschen krauste sich verächtlich. "Schönen Dank, edler Herr." Sie wandte sich um und ging zurück.

      "Dagmar!"

      Sie ging nur noch schneller.

      Kopfschüttelnd sah er ihr nach. Missmutig stapfte er den Weg mit den ausgefahrenen Wagenspuren hinab. Vor seinem inneren Auge nahm Elsbeth immer klarer Gestalt an, und er wurde heiterer. Sie ist schön, dachte er, und war sich der Schwärmerei nicht bewusst, natürlich gehört für mich dazu ihre Reife und Ausgeglichenheit. Diese und noch mehr gute Eigenschaften prägen sich in Elsbeths Gesicht mit der hohen Stirn aus. Ihr Haar ist mir ebenso einmalig wie die schmalen Hände, der schlanke Wuchs, der sichere Gang. Überdeutlich sah er sie vor sich. Er bemerkte, dass er regelrecht trabte. Alter Knastbruder, ermahnte er sich, der Wald ist keine Zelle. Er legte seinem üblichen Pensum noch einige Kilometer zu, in der Hoffnung, dann beim Abendbrot allein zu sein.

      Stillschweigend hatte man bisher auf Antons Eigenheiten Rücksicht genommen. Heute wartete die Schwester auf eine günstige Gelegenheit, Anton allein zu sprechen. "Kommenden Sonnabend ist im Nachbardorf Strandfest. Hättest du nicht Lust, mal wieder richtig zu tanzen?" Ungesagt klang ihr Unverständnis heraus, dass er keine Anstalten machte, sich einer Frau zu nähern. Verliebt sein hielt sie für das sicherste Mittel, einen Mann vor "politischen Dummheiten" zu bewahren.

      Anton bat, sie sollten sich nicht vom Vergnügen abhalten lassen, aber er könne keinen Gefallen an solchem Trubel finden. Ein wenig gekränkt, ließ die Schwester ihn allein.

      Kissen und Decken waren heute lästig heiß. Anton lag wach und sann. Die Erholung war notwendig. Weit schöner wäre dieser Urlaub gewesen, hätte er ihn mit Elsbeth gemeinsam erleben können.

      Jener Misserfolg quälte ihn in dieser Nacht besonders. Sein Brief aus dem Zuchthaus an Elsbeth war zurückgekommen mit dem Vermerk: "Empfänger unbekannt verzogen." War sie verhaftet worden? War sie emigriert?

      Vater Born hatte unter einem Vorwand die Portierfrau aufgesucht. Deren Erinnerung nach war Elsbeth mit ihrer Tochter in eine billigere Wohnung gezogen, wohin hatte sie vergessen. Auch die jetzigen Mieter der Wohnung wussten es nicht. Vater war kurz darauf zum Einwohnermeldeamt gegangen, hatte aber auch nur die alte Adresse erfahren können. Von einem Umzug Elsbeths war dort angeblich nichts bekannt. Anton wusste sowenig wie zuvor.

      Bald nach dem Frühstück am andern Morgen machte er sich auf den Weg zum Versteck in der großen Düne, um versäumten Schlaf nachzuholen. Wie meist erwies sich das stetige Rauschen als gutes Schlummerlied. Im Traum quälten sie ihn wieder. Revolverschulz warf sich auf ihn und schlug mit dem Pistolenschaft, Taege stand höhnend dabei, dazwischen geisterte Zuchthausdirektor Larsch mit Akten und Ordnungsbefehlen, und später wurde alles dunkel und undeutlich wie im Bunker. Eine lästige Fliege kroch ihm immer wieder über das Gesicht. Es ist Blut, dachte er und keine Fliege, aber Blut läuft ja nicht aufwärts. Dieser Gedanke führte ihn ins Bewusstsein zurück. Er gewahrte einen Grashalm, dessen Puschel in seinem Gesicht spazieren geführt wurde. Er ließ die Augen geschlossen, während er belustigt-ärgerlich überlegte, wer ihn hier aufgestöbert haben könnte. Faul sagte er: "Immer wieder der alte Witz."

      "Du hast aber Nerven", sagte Dagmar.

      Ich hab's beinah befürchtet, dachte Anton und bequemte sich, die Augen zu öffnen. Er federte sich hoch. "Komm, gehen wir wellenbrechen. Wer zuerst unten ist!" Ohne sich umzusehen, rannte er zum Strand und warf sich kopfüber ins Brodeln. Gleich darauf hörte er ihr Juchzen neben sich. Als sie ausgepumpt zurückkamen, warf er sich lang in die Kuhle.

      Sie hockte sich nieder und ließ gedankenverloren Sand durch die Hände gleiten. Nach einer Weile, zögernd: "Was bist du eigentlich von Beruf, Toni?"

      Er tat, als schliefe er, und malte sich ihr Erschrecken aus, wenn er antworten würde: Berufsrevolutionär.

      "Du, ich habe dich etwas gefragt."

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