E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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lügt man über sie."

      "Sonst würde man sie doch nicht einsperren."

      "Immer versucht die Lüge Gewalt gegen die Wahrheit zu setzen. Die Kommunisten zeigen den Irrweg Hitlers. Sie beweisen, dass er in den Krieg führt."

      "Der Führer will keinen Krieg."

      Anton musste aufsteigenden Zorn über so viel naive Leichtgläubigkeit niederkämpfen und raunte sich zu: Geduld, Geduld. Ich kann ihr jetzt keinen politischen Vortrag halten. Ich muss versuchen, ihr menschliches Empfinden wachzurütteln, ihr Gefühl für Gerechtigkeit. "Dagmar«, sagte er eindringlich, "in einer Stunde könnte ich dir klarmachen, dass Hitlers Politik zum Kriege führen muss. Aber selbst wenn die Kommunisten das wären, was man dir über sie beigebracht hat - findest du es richtig, dass man sie so behandelt, wie du es vorhin selbst erlebt hast?"

      "Wie viel Jahre warst du im KZ?" Ihre Frage hieß: Du lebst doch noch.

      "Ich bin mehrere Tode gestorben", sagte er. "Als ich im Bunker im KZ Dachau kurz vorm Zusammenbruch stand, holten sie mich nach Hamburg, um mich für kommunistische Betätigung im KZ abzuurteilen. Sie diktierten mir Zuchthaus zu. Dort geht es relativ ordnungsgemäß zu. Nur dadurch bin ich noch am Leben."

      "Bunker, was ist das?" fragte sie und unterdrückte ein Schütteln.

      "Am Rand meiner Begleitpapiere stand rot unterstrichen: Rückkehr unerwünscht, streng isolieren! Das hieß bei meiner Einlieferung in Dachau, sofort in Dunkelarrest, hinab in den Bunker, einer Zementzelle unter der Erde, mit einem zugenagelten Fenster, einer Holzpritsche darin und einem stinkenden Marmeladeneimer für die Notdurft. Den ganzen Tag hatte ich gegenüber dem Guckloch aufrecht zu stehen, die Hände in Stahlfesseln. Machten sie plötzlich Licht und stand ich nicht vorschriftsmäßig, dann schlugen sie so lange mit Ochsenziemern auf mich ein, bis ich bewusstlos liegen blieb. Aber das geschah nur ein paar Mal, denn ich sollte langsam sterben. Schlimmer waren die andern Strafen. Jeden Tag bekam ich einen Liter Wassersuppe, alle drei Tage ein Stück trocken Brot. Entweder sie entzogen mir das Brot oder taten so viel Salz in die Suppe, dass ich vor Durst Fieber bekam. Einmal schütteten sie mir den Marmeladeneimer ins Gesicht, ein andermal schlossen sie mich eine Woche lang auch noch mit den Füßen an eine Kette in der Wand. Am schlimmsten war es abends und nachts. Immer hatten sie einen oder mehrere Bunkerinsassen 'weichzumachen'. Das heißt, sie wollten von ihnen Aussagen erzwingen. Dabei ließen sie die betreffenden Zellentüren weit auf, damit wir andern uns vor Grauen auf unsern Pritschen krümmten. Ich habe nie gewusst, wie entsetzlich Gemarterte brüllen können. Als ich ..."

      "Hör auf!" schrie sie.

      Sachlich fuhr er fort: "Als ich aus dem Bunker geholt wurde, um nach Hamburg gebracht zu werden, wog ich achtundneunzig Pfund. Ich konnte nicht mehr aufrecht stehen. Leidensgenossen mussten mich zur Kommandantur schleppen. Der Kommandant sagte: 'Dich haben wir leider zu sanft behandelt, Freundchen, sonst wären die Barettonkels aus Hamburg zu spät gekommen. Ab heute marschiert keiner mehr lebend aus dem Bunker.'"

      Dagmars Gesicht war weiß, sie presste den Kopf an die Birke, ihre geballten Fäuste schlugen das Moos. "Nein, nein, nein - Menschen können so etwas nicht tun!"

      "Doch", sagte er, "sie rotten ihre wehrlosen Gegner in solcher Anzahl aus, dass die großen KZs Krematorien benötigen, weil auf den Friedhöfen der Umgebung kein Platz für die vielen Toten ist."

      Sie lag, den Kopf auf den Arm gedrückt. Er saß zusammengesunken und erschöpft. Wenn er sie nun falsch eingeschätzt hatte? Aber wann und wo gab es hundertprozentige Sicherheit? Wer die verlangte, sollte lieber Frieden mit dem Satan machen.

      Lange lag Dagmar da, das Gesicht ins Moos gepresst. Der Rücken bebte vor Schluchzen. Dann richtete sie sich langsam auf und betupfte gedankenverloren das Gesicht mit dem Taschentuch. "Toni - ich glaube - du hast viel durchgemacht, aber - aus dir spricht der Hass."

      "Was für ein Jämmerling, der sie dafür nicht hassen würde."

      Sie schüttelte heftig den Kopf, sichtbare Äußerung der inneren Abwehr gegen dunkle Dinge, die auf ihr helles, heiteres Leben zukamen.

      "Toni, ich bin ganz unpolitisch und will es bleiben. Weil mir vieles nicht gefällt: Dieses ewige Heil-Hitler-Gegrüße, das Brimborium und die vielen Schlagwörter, unsere eingebildeten BDM-Rieken, die vielen, die mit dem Bonbon herumrennen, aber gar keine Nationalsozialisten sind. Das und noch so vieles andere gefällt mir nicht. Aber eins weiß ich genau: Der Führer meint es ehrlich. Er hat Schluss gemacht mit dem Parteiengezänk, er hat die Arbeitslosigkeit abgeschafft. Alle andern haben nur immer für sich gesorgt, er will Deutschland wieder groß machen. Darum - darum werde ich nie einen Kommunisten verstehen können."

      Sie hatte pausenlos gesprochen und hektisch. Es war ein Gemisch aus Angelerntem, echtem Glauben und instinktiver Abwehr gegen die Gefahren des "Politischseins".

      Unsicher stand sie auf, strich verlegen den Rock glatt. "Und, Toni, ich - ich möchte allein nach Hause. Sei nicht böse, aber ..." Sie zögerte, dann streckte sie ihm zaghaft die Hand hin.

      Er starrte zu Boden. Er sah das Mädchen nicht und ihre ausgestreckte Hand. Er war so müde.

      Traurig hob sie die Schultern, wandte sich um und ging langsam.

      Die Stille ließ ihn hochfahren. Sie war schon ein Stück von ihm fort. Er rief. Sie blieb stehen und wartete auf ihn. Er legte ihr sacht die Hände auf die Schultern. "Dagmar - es war wohl zu viel, du brauchst Zeit, um darüber nachzudenken." Er atmete tief. Die rechten Worte zu finden, war ihm selten so schwer geworden. "Ich habe dir Dinge gesagt, auf die der Tod steht. Sprich mit niemandem darüber."

      "Nein, Toni", sagte sie leise. Dann ging sie mit stockenden Schritten, als überlege sie, ob so alles recht war.

      Die Nacht und den Tag darauf schlug Anton sich mit dem Gedanken herum, abzureisen. Aus seinem Gewissensstreit erlöste ihn am nächsten Tag ein Brief. Anton ging in seine Kammer und riss den Umschlag auf. Das lila Blatt war bedeckt mit steilen, klaren Buchstaben.

      Lieber Toni,

      ich habe die ganze Nacht darauf nicht schlafen können. Mir ist so elend. Mutti will mir dauernd den Arzt auf den Hals schicken. Ich weiß, dass Du nicht gelogen hast. Aber ich kann auch nicht anders denken, als ich es sagte. Was soll man nur tun, die Welt ist so hässlich. Du bist tapfer. Und ich bin so feige, dass ich nicht einmal mehr zusammen mit Dir gesehen werden wollte. Ich heule, wenn ich daran denke. Ich werde nie darüber sprechen, und nicht nur, weil Du mir das Leben gerettet hast.

      Dagmar.

      Mehrmals las Anton die Zeilen, saß lange sinnend mit dem Schreiben in der Hand. Sie wird nie mehr mit Begeisterung von diesem System sprechen können. Sie wird kritischer hinsehen, aufmerksamer der geheimen Wahrheit lauschen und, hoffentlich, eines Tages den höllischen Spuk durchschauen.

      Den Rest der Ferien verlebte Anton, so oft es ging, allein und zurückgezogen. Es gelüstete ihn nicht nach neuen, ähnlichen Erlebnissen. Die Erholung war notwendig, trotzdem drängte es ihn, wieder nach Berlin zu kommen. Bei der Suche nach Elsbeth würde die Sehnsucht nach ihr leichter zu ertragen sein.

      KLEINE SCHRITTE

      Der Mann mit der Glatze schob die Karte durchs Schalterfenster. "Beachten Sie den Vermerk: Betriebsführer erst nach fünfzehn Uhr zu sprechen."

      Anton Born starrte auf die Karte und tat, als sei da so viel zu beachten, dass man alles andere vergessen könne, sogar den "deutschen Gruß". Rasch zog er die Tür auf und verschwand. Er überquerte den Hof des Arbeitsnachweises und holte erleichtert Luft. Wie oft würde er noch dem Hut auf der Stange Reverenz erweisen müssen? Unvorstellbare Überwindung kostete ihn jedes Mal das Armheben, wenn er sich auf dem Polizeirevier meldete. Leider musste es sein. Er hatte nicht wenige biedere Männer in den sechs Jahren kennengelernt, die wegen "Verweigerung des deutschen Grußes" und ähnlicher Lächerlichkeiten ins KZ gebracht worden waren.

      Eine Esskneipe machte auf zwei großen Tafeln neben dem Eingang Reklame für preiswerte "Eintopfgerichte". Er hatte Hunger und ging hinein.