E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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      "Nein", sagte Anton wütend, "ich möchte ein Essen haben. Bringen Sie bitte Eisbein mit Sauerkohl."

      Die Molle Helles dazu schmeckte nach so langer Zeit. Er zahlte und sah auf die Uhr. Zu Fuß würde er zur rechten Zeit auf der eben vermittelten Arbeitsstelle sein, einer Großgarage in der Nähe des Kottbusser Tors. Solche Spaziergänge waren ihm Bedürfnis, bedeuteten Wiedersehen mit der Heimatstadt und Neuerkunden.

      Alles war anders geworden. Jener Begriff von vor dreiunddreißig, "Das rote Berlin", war keine Phrase gewesen. Wo gab es damals Stadtgegenden gänzlich ohne Zeichen roter Gesinnung? In den engen Mietskasernen hatte die proletarische Solidarität gelebt. Was war aus dieser streitlustigen, vitalen Stadt geworden? Blicklos taten Millionen "ihre Pflicht", emsig, verbissen, böse. Aus Furcht vor den braunen Aufpassern, die überall herumwimmelten, zeigte niemand sein wahres Gesicht und wagte kein offenes Wort.

      Und wo waren die Genossen? Aber sah man ihm denn an, dass er einer war? Je unauffälliger man sich gab, desto sicherer für die Sache. Tarnung war unbedingte Voraussetzung für jede illegale Arbeit. Anton zweifelte nicht daran, dass noch viele rote Herzen in der braun getünchten Stadt schlugen. Man musste sie nur finden. Es galt zu sammeln, zu sichten, gerissene Verbindungen neu zu knüpfen, erschlagene Kämpfer zu ersetzen. Wer anders als die Partei konnte dem Gegner Schläge zufügen? Das Geheimnis hieß Organisation, hieß straffe Kampfpartei. Gewiss, die Arbeit war schwer und gefährlich, besonders für ihn, den eben aus dem Kerker Entlassenen. Aber er hatte noch nie kapituliert und würde es auch jetzt nicht tun.

      Den Kopf voller Pläne, erreichte Anton den Michaelkirchplatz. Ernst hob die Michaelkirche ihre Halbbögen aus dem Grün der parkähnlichen Anlage ringsum, krönte ihr dunkles Steinmassiv mit der freundlich blinkenden Patina der romanischen Kuppel. Anton setzte sich unter den Bäumen auf eine Bank. Während der Jahre der Wirtschaftskrise waren die Anlagen ein Tummelplatz der Arbeitslosen gewesen, hatten hier die Skatbrüder gesessen und die Schachfanatiker mit ihren Kiebitzen, und die Halbwüchsigen ohne Lehrstellen. Die hier früher so viel Zeit gehabt hatten, waren jetzt im Landjahr, beim Arbeitsdienst, in der Wehrmacht, oder sie bauten Waffen. Das waren die hitlerschen Methoden zur versprochenen "Beseitigung der Arbeitslosigkeit".

      An Stelle des verrosteten Geländers, das den "Engelbecken" genannten kleinen Hafen mit seinem stinkenden Wasser umgeben hatte, war dort jetzt eine stabile Mauer aus Verblendsteinen aufgeführt. Anton schlenderte hinüber, lehnte sich über die Mauer und genoss das Idyll inmitten der grauen Häuser. Ein Teich mit Schwanenhäuschen und Schwänen. Sanft hob sich das grüne Ufer, begrenzt von einem gelben Kiesweg. Rund um den Teich, an die Mauer gelehnt, ein Pergolengang, bewachsen mit Kletterrosen. Die Anlage war das Ergebnis einer parlamentarischen Fehde im Jahre achtundzwanzig, erinnerte sich Anton. Die kommunistischen Stadtverordneten hatten eine Badeanstalt gefordert. Doch die Zentrumsleute, Monsignore Pacelli gehorchend, dem Nuntius in Berlin und nachmaligen Papst Pius XII., hatten Einspruch erhoben. Eine Badeanstalt dicht vorm Portal eines Gotteshauses verstoße gegen die guten Sitten. Die Kommunisten im Stadtparlament hatten gekämpft, die Sozialdemokraten klein beigegeben, und - Pacelli hatte gesiegt. Erich Weinert hatte es in einem Spottgedicht glossiert. Anton kannte noch die beiden Anfangszeilen: "Pacelli wandelt durch Berlin, lässt seine Weihrauchschwaden ziehn ..."

      Immerhin war dank des entschlossenen Vorgehens der Kommunisten ein schöner Park entstanden. Und er war wohl nicht zuletzt deswegen so prächtig angelegt worden, die um eine Badeanstalt betrogenen Berliner zu versöhnen. Ein Stück hin zum Oranienplatz gab es sogar einen Goldfischteich mit Springbrunnen. An der kleinen Ausbuchtung des Schwanenteiches aber wölbte sich eine malerische Holzbrücke. Hier standen dauernd Krumenstreuende, die farbenprächtigen Enten verwöhnend. Schwärme von Karpfen machten den Enten das Futter streitig. Sie standen so dicht, dass man versucht war, sich hinzuknien, um einen Mehrpfünder mit bloßen Händen zu fangen.

      Allmählich werde ich wieder Berliner, dachte Anton, als er vom Oranienplatz die Dresdener Straße hinunter schritt.

      Donnernd fuhr am Kottbusser Tor ein Zug ein. Mit der Hochbahn muss ich auch wieder mal fahren, nahm er sich vor.

      Wenige Minuten später stand er vor der künftigen Arbeitsstelle. Die elektrische Uhr über der Tür des Bürohäuschens zeigte fünf Minuten vor drei. Sie war das prächtigste Stück des ganzen Grundstücks. Unbarmherzig enthüllte das grelle Sonnenlicht Gerümpel in allen Ecken, und den bröckelnden Mauerputz. Es stank nach Benzin, Schmiere und Öl. In dem von der Sommerhitze weich gewordenen Asphalt des Platzes hatten sich Wagenspuren eingedrückt. Ein schmächtiger, käsegesichtiger Lehrling besprengte ihn. Ein langer Schlaksiger meckerte: "Wagenwaschen sollste!"

      "Pluster dir nicht uff!" Der Kleine lenkte rasch den Wasserstrahl zu dem Langen, der sich hinter die Plane eines Schnelllastwagens rettete.

      Anton verkniff sich ein Schmunzeln und ging langsam über den Platz. In der Mitte sechs Tanksäulen, rechts die Werkstatt, links die Garagen. Anton trat in das enge Büro. "Guten Tag", sagte er, doch die hinter dem Schreibtisch sitzende Frau telefonierte weiter, als sei niemand eingetreten. "Nicht doch, nicht doch, bester Herr, wir sind ein Betrieb mit allen Schikanen. Und als Dauerkunde können sie keine bessere Garage finden. - Na, großartig! - Wann sind Sie hier? - Gut, ich notiere. - Heil Hitler!" Sie legte den Hörer auf und betrachtete Anton ungeniert. "Vom Arbeitsamt?"

      "Ja", sagte Anton und gab ihr die Vermittlungskarte.

      Die legte sie achtlos beiseite und fragte: "Führerschein?"

      Anton nickte. "Allerdings wurde mir gesagt, ich soll als Wagenwäscher anfangen."

      "Sollen Sie. Aber mit Führerschein ist alles einfacher, können Sie sich vorstellen."

      "Meine Vorstellungskraft ist unbegrenzt. Viel begrenzter scheint mir der Tarif für Wagenwäscher."

      Sie lachte und wurde Anton sympathisch, trotz der frechen Bemalung. "Sie sind ein ganz gewiefter. Wenn Sie als Wagenwäscher gehn, ist mir manches klar. Aber Ihre Sache - interessiert mich nicht. Nur einen guten Rat: Wenn der Alte hier ist, grüßen Sie lieber immer 'Heil Hitler!'"

      "Ich bin ja noch gar nicht eingestellt."

      "Doch. Unterschreiben kann Herr Höhler. Und jetzt kommen Sie mal mit." Auf ihren Stöckelschuhen trippelte sie voraus und warf die Hüften. In der Garage bezeichnete sie drei Wagen. "Die fahren Sie solange raus. Um halb vier kommt der, mit dem ich eben telefoniert habe. Wenn er verschwunden ist, fahren Sie die Wagen wieder rein. Das machen Sie jeden Tag um halb neun, wenn er wegfährt, und um halb vier, wenn er kommt."

      "Und wenn mal einer der drei andern Wagenbesitzer unangemeldet aufkreuzt?"

      "Da werden wir schon eine Ausrede wissen, wie?"

      Sie gingen wieder zurück. Auf dem Hof hielt sie der Käsegesichtige an. "Frau Bräutigam, der Roderich sagt, erst muss ick die drei Wagen waschen, ehe ick die Kupplung von dem Mercedes in Ordnung bringe."

      Die Bräutigam rief in eine bestimmte Richtung, als hätte sie Röntgenaugen: "Herr Halpope, wenn der Mercedes bis Feierabend nicht fahrfertig ist, bumst es."

      Der Schlaksige tauchte hinter einer hochgestellten Kühlerhaube auf. "Sind Sie der Gefolgschaftsführer?"

      "Nein - genauso wenig wie Sie. Bloß, dass ich besser weiß, was notwendig ist."

      "Und Prokura haben Sie auch", bekräftigte der Käsegesichtige.

      "Halt deinen Mund, Nitte", fuhr ihn Frau Bräutigam an, "und mach dich an den Mercedes."

      Beim Weitergehen sagte sie leise zu Anton. "Meine Kragenweite, dieser Herr Roderich Halpope. Schon zweimal durchgefallen bei der Gesellenprüfung. Aber weil sein Bruder ein hohes SS-Tier ist, darf er auch das dritte Mal."

      "Wenn er nun wieder durchfällt?"

      "Hoffentlich. Wenigstens ein Grund zum Rausschmiss."

      "Untergehen wird er trotzdem nicht. Als KZ-Bewacher beispielsweise braucht man nichts zu können."

      Sie blickte Anton an. Jetzt sah er einige Linien und Fältchen in ihrem hübschen Gesicht. "Sie wissen ja allerhand."

      "Sogar aus eigener