E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


Скачать книгу

Ihnen vertraue. Aber auch dem besten Fahrer kann ein Verkehrsunfall zustoßen."

      Anton verstand. "Wenn einmal", fuhr Sendler fort, "dann bitte möglichst so, dass ich dabei nicht mit unter die Räder komme."

      Anton drückte ihm die Hand. Jedes beteuernde Wort hätte den Eindruck bei Sendler nur abschwächen können.

      Mit einem lachenden und einem weinenden Auge erkannte Anton, dass sich die Dinge des Berufs - auch im Hinblick auf künftige illegale Arbeit - schneller geregelt hatten als der Anschluss an die Partei. Vor zehn Jahren hatte er noch einen großen Bekannten- und Freundeskreis in Berlin gehabt. Darunter gab es kommunistische Reichstags- und Landtagsabgeordnete, mittlere und höhere Parteifunktionäre, Kommunalpolitiker und Gewerkschaftsleute. Die saßen jetzt in Konzentrationslagern, Zuchthäusern, hatten emigrieren müssen oder waren umgebracht worden. Es blieben Antons Angehörige und damals weniger hervorgetretene Genossen. Die Mutter war tot, Schwester und Schwager kamen nicht in Betracht. Alle früheren Bemühungen Antons, aus der Schwester eine Genossin zu machen, waren fehlgeschlagen, und dem Mann, den sie dann heiratete, mangelte es ebenfalls an Klassenbewusstsein. Damals wie heute lebten beide kleinbürgerlich "unpolitisch". Bei ihnen vorerst zu wohnen und gemeldet zu sein, war günstig. Aber der Schwesternliebe und seiner Sicherheit wegen musste Anton dort den "Vernünftiggewordenen" spielen. Der Vater hatte Verbindung zu einer Gruppe gehabt, durch die er hin und wieder Material bekam. Nach einer Verhaftung war der Kontakt jäh abgebrochen, und es blieb ratsam für Emil Born, sich nach dieser Seite hin tot zu stellen. Jetzt hatte der Vater auf die Bitte Antons begonnen, systematisch und vorsichtig all jene Genossen unter die Lupe zu nehmen, von denen er annehmen konnte, sie hätten noch Verbindung zur Partei. Bisher ohne Erfolg. Bei einigen war es ihm ähnlich ergangen wie bei der Suche nach Elsbeth, einige waren passiv geworden, und vom Rest stand Endgültiges noch aus, weil es oft Tage brauchte, ehe es gelang, ihnen an einem sicheren Ort unter vier Augen "auf den Zahn zu fühlen". Unter diesen Umständen war es für Anton tröstlich, an Nitte zu denken.

      Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er sich sehr sputen musste, wollte er den vor dem Kino wartenden Nitte nicht enttäuschen. Er kam dennoch zu spät, und sie versäumten die Wochenschau. Als sie nach der Vorstellung durch die abendlichen, still werdenden Straßen gingen, war Nittes Groll über die Verspätung seines Freundes längst verraucht. Anton setzte - immer die Handlung des Films zum Ausgangspunkt nehmend - die politische Schulung des Jungen fort, die er vor Kurzem begonnen hatte. Nitte, ein dankbarer Zuhörer und kritischer Frager, wuchs hinein in politische Einsichten. Er wäre erstaunt gewesen, hätte ihm jemand gesagt, er erhalte Unterricht im Abc des Marxismus, ohne die von den Nazis gehassten marxistischen Termini zu hören. Sie hätten den Unerfahrenen bei irgendwelchen Zufällen nur in Gefahr gebracht. Auch in dieser Hinsicht hätte er kaum einen besseren Lehrer finden können. Sechs Jahre hinter Mauern für die Partei wirkend, hatte Anton gelernt, "die verfluchte Sklavensprache" zu gebrauchen.

      An diesem Abend spürte Nitte, dass sein älterer Freund weniger konzentriert antwortete als sonst.

      "Schon 'n paar tausend Jahre", räsonierte Nitte, "und warum haben's die vielen nich erkannt?"

      "Welche vielen?" Anton fuhr auf aus seinem Grübeln.

      "Die nischt haben."

      "Was nicht erkannt?"

      "Dass sie von den wenijen, die allet haben, unten jehalten werden!"

      "Ich hab' dir doch von Spartakus erzählt und vom deutschen Bauernkrieg."

      "Na ja, aber meistens haben sie's nich erkannt."

      "Zwei-, dreitausend Jahre sind für die Weltgeschichte ein Jahr, ein Menschenleben ein Tag. Wissen wächst langsam."

      "Aber nu weeß man's doch endlich, und immer noch sind die Meisten so dämlich."

      "Unwissenheit hat viele Wurzeln, man kann sie sogar züchten."

      "Kapier ick nich."

      Anton vergaß das Grübeln. "Wovon lebt Höhler?"

      "Vom Beschiss."

      "Höflicher ausgedrückt, hauptsächlich von der Unwissenheit jener Menschen, die Auto fahren, aber keinen Dunst von einem Motor haben."

      "Ein Glück, sonst wär'n wir alle arbeitslos."

      "Lass die Witze. Wenn alle Autofahrer mit dem Motor Bescheid wüssten, müssten trotzdem Autos repariert werden, aber die Höhlers könnten sie nicht mehr so übers Ohr hauen."

      "Stimmt."

      "Warum kümmern sie sich also nicht um die Gesetze der Mechanik und Explosionskraft und lassen sich lieber betrampeln?"

      "Weil's bequemer is."

      "Da hast du selber die Antwort auf deine Frage, warum so viele nichts wissen über die Politik, das heißt Staatskunst. Sie sitzen im Wagen und scheren sich den Deubel, woher er kam, warum er fährt, wohin er fährt. Der Fahrer, heute genannt Führer, wird schon lenken. Der lenkt auch, bloß nicht für die vielen im Wagen, sondern für die Wenigen vorn erster Klasse, die ihm zuflüstern, wohin die Reise zu gehen hat."

      "Hm", Nittes Stirn bekam mehrere Falten, "also die Bequemlichkeit ist schuld."

      "Das ist eine Ursache. Es gibt noch tausend andere."

      "Sag mal eine."

      "Zum Beispiel reden die Erster-Klasse-Herren denen hinten dauernd ein, lenken sei so schwer, das könnten nur Auserwählte wie sie und ihr Führer."

      "Das is nu aber gar nich dämlich."

      "Eben. Würden nämlich die Dritter-Klasse-Brüder fahren lernen, möchten sie sich womöglich ans Steuer setzen und selbst bestimmen, wohin die Reise gehen soll."

      Dieses zwar primitive, aber für einen Autoschlosserlehrling handgreifliche Bild bereitete Nitte Vergnügen. "Nu kommt mir ooch 'n Ahnismus, weshalb Se mir schon die janze Zeit immer so viel ausnanderklamüsern."

      Anton knuffte den Jungen freundschaftlich. "Pass auf, Nitte, wir gehen jetzt Richtung Heimat, ich hab' noch allerhand zu überlegen, weil ich morgen kündigen will."

      "Nee." Der Junge war stehen geblieben und sah den Älteren verstört an.

      "Ich bleib' auf dem Hof", begütigte Anton, "werde an Stelle Balusiks Sendlers Horch fahren."

      "Denken Se, Sendler beschubst nich?" bockte Nitte.

      "Möglich", stimmte Anton zu, "aber wenn du mehr verdienen könntest, würdest zu verzichten?"

      Nitte knurrte und schnuffelte enttäuscht. Es zeigte Anton, wie stark der Junge sich ihm verbunden fühlte. Man muss ihm etwas Gutes sagen, dachte Anton. "An unseren Kinobesuchen und Unterhaltungen wird sich nichts ändern, Nitte. Im Gegenteil, wir werden noch bessere Freunde."

      Nitte schaute skeptisch.

      "Hand drauf, und von jetzt ab sagst du nicht mehr Sie, wenn wir unter uns sind."

      Anton hatte sich von Nitte getrennt, um die Kündigung zu überdenken, statt dessen beschäftigte ihn nun der Junge. In kurzen Wochen waren keine überzeugten Klassenkämpfer zu erziehen. Und da waren Millionen Nittes. Nitte war noch ein günstiger Fall. Von systematischer Verseuchung durch Jungvolk und Hitlerjugend konnte bei ihm kaum die Rede sein. Seine Misere des Umhergestoßenseins instinktiv ausnützend, hatte sich der Junge der NS-Dressur meist zu entziehen gewusst. Außerdem war Anton mit Nitte durch die Arbeit zusammengekommen, der günstigste Boden auf dem Freundschaft, Vertrauen und Überzeugung wachsen. Wie viel schwieriger war es schon bei den Dagmars. Ärgerlich spürte Anton, wie ihn diese Überlegungen nervös machten.

      Hoffentlich verlief mit der Kündigung alles reibungslos.

      Höhler würde nicht davon erbaut sein, noch weniger Frau Bräutigam. Was sie für ihn getan hatte, war nicht für den ehemaligen KZler Born geschehen. Sie hatte einen Blick für fähige Leute, und er hatte sie nicht enttäuscht. Wurde die Bräutigam verärgert, konnte sie ihm Schwierigkeiten bereiten. Wie musste er sich verhalten, um friedlich mit ihr auseinanderzukommen?

      Am andern Morgen ging Anton