E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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hatte sich nach diesen Überlegungen etwas von dem unverhofften Schlag erholt. Er ging hinüber zur Telefonzelle und rief Jule an. Dessen Nachtdienst war in einer halben Stunde beendet. Sie verabredeten, sich in einer Stunde am Kottbusser Tor zu treffen.

      Unterwegs überlegte Anton die "erste Vereinbarung", konspiratives Gesetz für jeden Treff. Das hieß, für jedes Zusammenkommen harmlose Gründe parat halten, die sich auch beweisen ließen. Dass sich Jule und Anton als alte Kommunisten kannten, war heute kaum noch nachzuweisen. Solch eine Tatsache allein war der Gestapo meist Grund genug, illegale Tätigkeit anzunehmen. Deshalb würden sie ihre Freundschaft aus der Weimarer Zeit bei einem möglichen Verhör niemandem auf die Nase binden. Vielleicht war diese Geschichte brauchbar: Anton hatte Kerdelmann am Anhalter Bahnhof geholfen, einen Koffer auf die Karre zu laden. Nachdem waren sie ins Gespräch gekommen. Für das Gespräch gab es den Zeugen Bilbisch. Der hätte auch bestätigen müssen, dass der Fahrer Born forsch die offizielle Staatsmeinung vertreten hatte. Aus welchem Grund hatten sich Born und Kerdelmann danach wieder getroffen? Weil Born den Arbeitskameraden aus der Gaststättenbranche wegen einer Stellung ...? Keineswegs überzeugend. Nervös fuhr sich Anton durch das dichte Haar. Da musste man einen kleinen Roman erfinden, nur um das Zusammenkommen mit einem alten Freund abzusichern.

      Aber ging es umgekehrt nicht glaubhafter? Dem älteren Kerdelmann wurden Kofferschleppen, Nachtarbeit, überhaupt das aufreibende Hotelleben zu schwer. Darum hatte er den gefälligen Jüngeren gefragt, ob er nicht eine leichtere Arbeit für ihn wisse, vielleicht als Fahrer oder so. Der hatte versprochen, sich umzutun. Da sie neulich durch die Ankunft Bilbischs keine Zeit mehr dazu hatten, wollten sie heute besprechen, wie Kerdelmann ins Fahrerfach hinüberwechseln könnte. Das würden sie, entsprechend weitergeführt, noch bei künftigen Treffs verwenden. Es war unrationell, bei jeder Zusammenkunft einen neuen Roman erfinden zu müssen.

      "Jetzt haben die Banditen noch mehr Oberwasser", fluchte Jule, nachdem sie sich begrüßt hatten.

      "Ja", sagte Anton, "es werden viele an den Schwindel von der Freundschaft glauben."

      Sie gingen zum Café am Oranienplatz. Anton entwickelte Jule die erste Vereinbarung, und Jule war einverstanden. Der Vorgarten war jetzt am Vormittag völlig leer. Von ihrem Ecktisch aus hatten sie eine gute Übersicht. Die Serviererin verschwand, nachdem sie den Kaffee gebracht hatte. Jule kam ungeduldig auf das Thema zurück. "Mancher ehrliche Arbeiter und Genosse wird verwirrt sein, weil er die Taktik der Sowjetunion nicht begreift."

      "Die Sowjetunion ist unser Halt. Wäre sie nicht, wären wir einsame, hoffnungslose Ameisen."

      "Weil wir mehr sein müssen als ungefährliche Ameisen, sollten sie es uns nicht so schwer machen."

      "Schwerer als neunzehnhundertdreiunddreißig konnte es die deutsche Arbeiterklasse der Sowjetunion nie machen."

      "Leider wahr. Aber was nützt es uns jetzt, Anton?" Jule wurde eindringlich. "Wir müssen jetzt und hier kämpfen. Geht das mit Soldaten, die an der Notwendigkeit des Kampfes zweifeln?"

      "Es wird öfter Entscheidungen geben, die zuerst nicht verstanden werden. Der Weg zum Kommunismus ist keine glatte Einbahnstraße. In normalen Zeiten kann man über solche Entscheidungen vorher diskutieren. Verlass dich darauf, Genosse Stalin und alle seine Mitarbeiter werden es getan haben. Und wir müssen verbreiten, welche Gründe die Sowjetunion hatte, den Nichtangriffspakt abzuschließen."

      "Die Gründe, ja. Fang mal an." Jule schaute erwartungsvoll auf den Jüngeren.

      Anton angelte umständlich eine Zigarette aus der Schachtel, angestrengt überlegend. "Realität ist ein ständig die Sowjetunion bedrohendes Hitlerdeutschland."

      "Stimmt."

      "Realität ist, dass die Westmächte Hitler einen Raub nach dem andern überlassen haben, in der Hoffnung, dass er ihnen dafür die Sowjetunion vom Halse schafft."

      "Richtig."

      "Aber jetzt sind sie die Gelackmeierten."

      Jule kraulte sich die grauen Haare. "Trotzdem höre ich sie schon kreischen: Stalin Arm in Arm mit Hitler!"

      "Die kreischen schon, solange die Sowjetunion existiert, Hitlers Kriegsmaschine den Weg verlegt zu haben, ist mehr wert."

      "Wenn Hitler sich an den Vertrag hält."

      "Wahrscheinlich, dass er ihn irgendwann bricht. Aber es geht um Zeitgewinn, deshalb wird mir immer klarer, dass Lenins Wort selten mehr Berechtigung gehabt hat als jetzt: 'Wer - wen?' Und bis jetzt war die Sowjetdiplomatie immer den andern überlegen."

      "Weil wir die Wahrheit auf unserer Seite haben."

      "Außerdem die bessere Methode. Wir können historisch denken."

      "Wenn's man bloß auch diesmal gut geht."

      "Mit tausend Wenns im Rucksack ist schlecht marschieren", spottete Anton gutmütig.

      Jule war beleidigt. "Ich hab' die kleinen Wenns gemeint. In Dingen der Weltpolitik muss eine solche Frage mal erlaubt sein."

      Anton sann vor sich hin. "Wenn die Genossen drüben solch einen Entschluss gefasst haben", sagte er, "dann gibt's da noch mehr Gründe." Er sah Jule plötzlich an. "Hast du Radio?"

      Jule schüttelte den Kopf.

      "Meine Schwester hat einen guten Apparat. Aber Moskau bei ihr hören - unmöglich", sagte Anton. Plötzlich standen ihm die Widrigkeiten seines Wohnens vor Augen.

      Jule räusperte sich. "Es gibt schon noch Leute, die einen anständigen Kasten haben."

      "Welche Möglichkeiten hast du?"

      "Mehrere. Ich habe Fühlung mit einigen alten Genossen. Und die haben wiederum Kontakte mit anderen. Da muss was zu machen sein."

      "Und wie arbeitet ihr?"

      "Austausch von Nachrichten, Sammlungen für Verhaftete, Diskussionen auf Fahrten, Skatabenden, echten und angeblichen Familienfesten. Aber Material von draußen haben wir schon lange nicht mehr. Seitdem sind auch Aktionen von uns spärlich geworden. Sicher gibt's auch gut funktionierende Einheiten. Aber in meinem Umkreis nur mehr oder weniger isolierte Debattiergrüppchen. Die bestehenden Kontakte sind meist sogenannte menschliche, gerade ausreichend, dass einer nicht versackt. Es fehlt überall die zielklare Leitung."

      "Eine straffe Parteiorganisation mit zentraler Leitung ist unerlässlich", sagte Anton mit kaum unterdrückter Ungeduld. "Aber jetzt muss ein Flugblatt raus über unsre Stellung zum Nichtangriffspakt. Habt ihr einen Abziehapparat?"

      "Mal ja - mal nein."

      "Was heißt das?"

      "Du weißt, dass so ein Ding bei unverdächtigen Leuten stehen muss. Die sind nun sehr ängstlich. Grundsätzlich geht's immer erst nicht. Dann ermüdendes Tauziehen, und endlich lassen wir' s, weil die Situation überholt ist."

      Überlegend nagte Anton an der Unterlippe, dann schlug er vor: "Du beschaffst die Nachrichten und Kommentare des Moskauer Senders über den Nichtangriffspakt. Am Sonntag machen wir eine Fahrt nach Grünau - vielleicht kannst du noch einen Genossen mitbringen - und entwerfen draußen das Flugblatt. Diesmal müsst ihr schaffen, es sofort abzuziehen. Später versuchen wir ein besseres Versteck zu finden."

      "Angenommen", bestätigte Jule trocken, "sagen wir um achte vom Schlesischen Bahnhof, im letzten Wagen des Grünauer Zuges."

      "Nun zu uns", fuhr Anton sachlich fort, "du gehst wirklich zum Arzt und besorgst dir ein Attest für den Führerschein. Das ist ein gutes Alibi. Nächstes Mal bringe ich dir die Adresse einer Fahrschule. Je vielseitiger einer von uns ist, desto besser. So oft es geht, nehme ich dich mit, fahren üben. Das ist eine gute Deckung für unsere Arbeit."

      Sie zahlten und gingen. Als sie sich trennten, sagte Jule: "Alles klar." Ihm war jetzt wohler als beim Herweg.

      In Anton war Ungeduld. Klar sah er den Weg. Innere Sicherheit war Voraussetzung für jede illegale Arbeit. Ein halbes Lebensalter Erziehung durch die Partei hatten ihn, Jule und die vielen jetzt Unsichtbaren mit dem unerschütterlichen Vertrauen in den Sieg des Sozialismus