E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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des Ausgangs. Beide gingen schweigend nebeneinanderher und sahen sich immer wieder an wie zwei Brüder, die sich tot geglaubt und nun gefunden hatten.

      Draußen dann drückten sie sich endlich die Hände, packten sich bei den Schultern.

      "Wie sieht's aus, Jule?"

      Julius Kerdelmann hob die Augenbrauen, atmete einmal tief ein, ohne zu seufzen. "Höchstens Drei bis Vier."

      "Nanu, ein alter - äh - einer von uns und nicht hinter Schloss und Riegel, das ist doch heutzutage eher Eins bis Zwei."

      "Ach, das Persönliche", sagte Jule, "aber sonst das andere. Die Bande hat zu viel Erfolge. Das schmeckt den Leuten wie Honig. Sie glauben nicht, dass sie mit Krieg bezahlen müssen."

      "Den werden sie bald haben", bestätigte Anton.

      "Und sie werden mitrennen wie die Hammel."

      "Möglich. Doch jammern macht's nicht besser."

      "Jammern?" Jule sah Anton erschrocken an, befürchtete, falsch verstanden worden zu sein. "Dann könnte man sich auch aufhängen. Aber wir dürfen den Kopf nicht in den Sand stecken. Es ist verdammt schwer, die richtigen Wege zu finden, wie wir den - den Halunken besser ans Leder kommen." Er hatte die letzten Worte mit unbändigem Hass herausgestoßen. Anton lachte das Herz im Leibe. "Du warst doch draußen?" fragte er.

      Jule sah wieder wehmütig ins Leere. "Bei ihrem Einmarsch in Prag haben sie mich erwischt. Dann Irrfahrt durch ein halbes Dutzend Gefängnisse, aber keinen Prozess. Sie konnten mir nichts nachweisen und haben mich entlassen. Ich stand auf der Straße mit nichts, so, wie ich damals wegmusste. Meine Frau war inzwischen gestorben, in meiner Wohnung saß ein Goldfasan."

      Soso, entlassen, dachte Anton, und ein unbehaglicher Gedanke kroch ihn an. Er unterdrückte ihn und fragte: "Solltest du nicht versuchen, wieder raus ... "

      "Ich bin nicht mehr gefährdet als andere auch. Mit tausend Wenns im Rucksack ist schlecht marschieren. Unter solchem Gepäck stöhnen manche Genossen. Es ist genauso schädlich wie Leichtsinn oder Illusionen."

      "Ah, da ist ja die Firma Sendler", rief ein kleiner geiernasiger Mann mit grauer Reisemütze und dicker Aktentasche. Den Lodenmantel trug er über dem Arm. Er steuerte auf den Horch zu.

      "Deine Adresse", zischte Anton kaum hörbar.

      Ohne Hast gab Jule ihm die Hand. "Dann mach's gut, alter Junge. Ruf mich mal an, Hotel 'Anhalter Hof'!" Gleichmütig schob er mit seiner Karre davon.

      "Sicher Herr Bilbisch?" begrüßte Anton den Kleinen und öffnete den Schlag. "Mein Name ist Born."

      "Schön Herr Born, ich fahre Vordersitz" , sagte Bilbisch und nannte eine Nummer in der Saarlandstraße. Anton bugsierte den Wagen durch das Gehaste vor dem Bahnhof, bog in die breite Straße ein und hielt bald wieder. "Ich bin gleich zurück", sagte Bilbisch, als er ausstieg.

      Anton sann dem Wiedersehen mit Jule nach. So viele Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Dennoch hatte Jule rückhaltlos gesprochen. Ihm war gar nicht der Gedanke gekommen, dass er, Anton, abtrünnig sein könne. Und Jule verdiente das gleiche Vertrauen. Sein persönliches Schicksal bedrückte Jule, den etwas schwerfällig wirkenden Ostpreußen, nicht halb so wie die allgemeine Lage. Wer sah das dem kleinen Hausdiener in der grünen Schürze an?

      Anton war fest überzeugt, dass Jule Verbindungen zur Partei hatte, und er erwartete ungeduldig das nächste Zusammentreffen. Gleich nach Bilbischs Abreise würde er im "Anhalter Hof" anrufen.

      Nachdem Bilbisch sich wieder neben Anton gesetzt und eine Adresse in Charlottenburg genannt hatte, fragte er, als wäre das Gespräch erst vor Sekunden abgebrochen worden: "Und weswegen ist Balusik geflogen?"

      "Balusik ist bei der Wehrmacht", gab Anton Auskunft.

      "Ach nee, der auch? Na, es wird ja bald losgehn."

      "Der Führer hat's bis jetzt immer ohne Krieg geschafft", provozierte Anton.

      "Gerade darum. Nach so vielen Erfolgen braucht er keine Rücksichten mehr zu nehmen."

      "Wieso? Wenn wir jetzt noch Danzig friedlich kriegen, haben wir doch eigentlich alles."

      Bilbisch lachte amüsiert. "Der Führer hat noch mehr Ambitionen."

      Die Rollen waren vertauscht. Anton spielte den Führergläubigen, dieser alte Nazi äußerte gefährliche Ansichten. Anton bekam grimmigen Spaß daran, weiter zu provozieren. "Der Führer weiß schon, was er will."

      "Ja, - die Weltherrschaft."

      "Wäre das so schlecht?"

      "Erst haben."

      "Wir werden's schon schaffen."

      "Junger Mann", sagte der kleine Graue höhnisch, "Sie waren nicht im Ersten Weltkrieg. Als der Amerikaner anfing, Tanks, Schnellfeuerkanonen, Maschinengewehre und wohlgenährte Khakiboys vom Fließband nach Europa zu spucken, da ging die ganze deutsche Kriegskunst in die Binsen."

      "Aber wozu überhaupt Nationalsozialismus, wenn wir nicht endlich losmachen?"

      "Mit Blumensträußen winken ist oft nützlicher als immer gleich auf die Revolvertasche klopfen."

      Ach so, dachte Anton, dem wird der Nazismus noch nicht ausgebufft genug betrieben. Schadenfroh erwiderte er mit Argumenten der borniertesten Nazis. "Das Plutokratengesindel pfeift auf Blumensträuße, die kuschen bloß vorm Revolver."

      Bilbisch seufzte über so viel Einfalt. "Wenn's man bloß nicht so viele wären und wir mehr Revolver hätten."

      "Trauen Sie unserer Rüstung nichts zu?"

      "Die andern haben auch eine. Was denken Sie, wenn der Amerikaner erst ... "

      "Aber wir wollen doch nichts vom Amerikaner. Wir wollen Danzig."

      Sie waren da. Bilbisch stieg aus. Ehe er sich dem Haus mit dem vornehmen Portal zuwandte, sagte er zu Anton mehr resigniert als spöttisch: "Der liebe Gott erhalte Ihnen Ihre kindliche Gläubigkeit."

      Die Unterhaltung hatte Anton diebischen Spaß gemacht. Es war ein interessanter Einblick in eine bestimmte Gedankenwelt gewesen. Kreise jenes Bürgertums, die den Außenhandel und die Gebrauchsgüterindustrie repräsentierten, ließen sich den nüchternen Geschäftsblick nicht durch Phrasen trüben.

      Als Bilbisch nach zwei Stunden wieder in den Wagen stieg, war er zurückhaltend. Er blieb auch in den folgenden drei Tagen wortkarg. Wahrscheinlich hielt er den neuen Fahrer für einen jener Spätgebräunten, die brav und automatenhaft von sich gaben, was täglich in sie hineingetrichtert wurde. Damit verlor er für Bilbisch jedes Interesse. Anton hielt die Warnung Sendlers für angebracht. Es mochte genug "Oppositionelle" wie Bilbisch geben, die sich durch Stimmungsberichte an die Gestapo schlau den Rücken deckten.

      Nach diesem anstrengenden Dienst hatte Anton einen Tag frei. Er schlief lange, frühstückte geruhsam und ging dann hinunter, um mit Jule zu telefonieren. Gewohnheitsgemäß suchte sein Blick die Überschriften am Zeitungsstand. Er blieb betroffen stehen. "Deutsch-russischer Freundschaftsvertrag!" schrie es ihm triumphierend entgegen. Kopfschüttelnd, ungläubig trat er näher und kaufte sich einen "Völkischen Beobachter". Seine Hände zitterten, als er das Blatt auf einer Parkbank entfaltete. Hastig las er den knapp gefassten Inhalt des Paktes sowie die mit breitem Behagen geschilderten üblichen diplomatischen Zeremonien. Es war wie ein Faustschlag. Ein neuer Nazibluff? suchte seine Betroffenheit einen Ausweg aus der verwirrenden Situation. Aber da war das Bild des sowjetischen Außenministers Molotow am Fenster des D-Zug-Wagens, kurz vor der Rückfahrt nach Moskau.

      Langsam faltete Anton das Blatt zusammen, starrte in den Kies. Freundschaft der Sowjetunion mit den Henkern und Todfeinden der Arbeiterklasse? Wieder schlug er die Zeitung auf und las alles noch einmal. Wort für Wort.

      Nüchtern betrachtet war dieser angebliche Freundschaftspakt ein Nichtangriffspakt. Einen landlüsternen Räuber mit dessen eigener Unterschrift die Hände zu binden versuchen, bewies doch keine freundschaftlichen Gefühle für den Räuber. Dass die Nazis es anders darstellten und überheblich ironisch zwischen den Zeilen ausdrückten,