E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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Schreibtisch am Fenster und kehrte ihm den Rücken zu. Offenbar las er den Antrag Antons. Er las sehr lange. Man konnte im Zweifel sein, ob er wusste, dass der Antragsteller bereits im Zimmer stand. Anton, in derlei Dingen erfahren, dachte, mal muss er ja nach Hause gehen. Nach etwa zehn Minuten sagte der am Fenster, ohne sich umzuwenden: "Sie sind doch ein selten frecher Hund, Born. Nicht nur, dass Sie überhaupt den Antrag stellen, schicken Sie ihn noch per Eilpost."

      "Wenn Sie das so aufgefasst haben, Herr Kommissar, tut es mir leid, und ich möchte mich entschuldigen", sagte Anton, "aber ich sitze in der Klemme, möchte ein ordentliches Leben führen, arbeiten ... "

      Der Kommissar wandte sich jäh um. "Sagen Sie bloß, es gibt keine Arbeit!"

      "Natürlich gibt es die. Doch für Leute meiner Straftat sind die großen Betriebe mit Staatsaufträgen gesperrt, und die kleinen Krauter in meiner Branche wollen alle Leute mit Führerschein."

      "Passen Sie auf, Born, wir schicken Sie wieder ins KZ, und den Ärger mit dem Führerschein sind Sie los. Meinen Sie nicht, dass Tausende mit Ihnen tauschen würden, auch ohne Führerschein?"

      "Selbstverständlich. Nur, weil man mir bei der Entlassung sagte, wenn ich still meine Pflicht tue, würden mir keine Hindernisse in den Weg gelegt, deshalb kam ich darauf, den Antrag zu stellen."

      "Welcher Pinsel hat Ihnen denn den Religionsunterricht erteilt?"

      "Oberkommissar Taege."

      "Na, den werde ich mal brieflich fragen."

      "Herr Kommissar, könnten Sie nicht ein Wort für mich einlegen, dass ..."

      "Schluss jetzt! Geben Sie den Führerschein her."

      "Ich habe ihn nicht bei mir."

      "Vergessen, wie?"

      "In der Vorladung stand nicht ... "

      "Sie werden den Führerschein sofort holen, Born, verstanden?"

      "Jawohl, Herr Kommissar." Anton ging. Verteufelte Situation, dachte er und grübelte auf dem Nachhauseweg, wie er die Gestapo überlisten könne. Plötzlich erinnerte er sich, dass ihn die Wache ohne Vorladung nicht hätte passieren lassen. Darauf gründete er den Plan.

      Mit Bleistift kritzelte er auf einen Zettel: "Sehr geehrter Herr Kommissar, wie von Ihnen angeordnet, bin ich nach Hause gefahren und habe den Führerschein geholt. Da mich die Torwache ohne Vorladung nicht durchlässt, übergebe ich ihn hiermit derselben und verbleibe mit deutschem Gruß Anton Born." Den Zettel steckte er in einen Umschlag, aber nicht den Führerschein. Er adressierte den Umschlag, klebte ihn aber nicht zu. Dann fuhr er wieder zur Gestapo und gab den Umschlag bei der Wache ab. Anton kalkulierte: Den Umschlag wird der Kujon frühestens morgen Mittag haben. Natürlich wird er den Führerschein vermissen. Da der Umschlag offen ist, Anfrage bei der Torwache. Es ist nicht die Gleiche wie am Abend. Sie kann beim besten Willen keine Auskunft geben. Fraglich, wann der Kujon dazu kommt, die Richtigen zu fragen, fraglich überhaupt, ob jeden Abend die Gleichen da sind. Darüber geht Zeit hin, ziemlich sichere Gewähr, dass in dem Riesenapparat die Sache versandet. Das wäre der günstigste Fall. Und der andere? Der Kujon bestellt mich noch einmal zu sich und nimmt mich in die Zange. Dann heißt es eisern bleiben und beteuern, ich habe den Führerschein wie beschrieben im Umschlag abgegeben, er muss auf dem Wege nach oben herausgefallen sein.

      Die nächsten Tage waren voll ekliger Spannung. Doch das kostbare Dokument war die Aufregung wert. Wochen vergingen, nichts geschah. Anton beglückwünschte sich mit dem Ausspruch alter KZler: Der liebe Gott lässt keinen guten Atheisten im Stich.

      FINDEN UND VERLIEREN

      Unablässig horchte Anton unter den Kunden Höhlers herum und entdeckte die für ihn ideale Firma. Ihr Inhaber, Herr Sendler, trug das Parteiabzeichen immer schön sichtbar, aber er hasste die Nazis. Vor dreiunddreißig hatte er nie einer Partei angehört, sich aber immer für einen Demokraten gehalten. Später sollte Anton erleben, dass das, was der Mann von sich nur sehr ungefähr glaubte, präzise stimmte. Drei Wagen seines Unternehmens hatte er bei Höhler zu stehen, und Anton bediente ihn besonders akkurat, nachdem er an manchem scheinbar leichthin gesagten Wort erfühlt hatte, wie Sendler wirklich dachte. Sehr bald hatten sie kurze Unterhaltungen in jener zeitgemäßen Sprache, die dem Wissenden alles sagte, aber zu keiner Belastung ausgereicht hätte. Hauptsächlich für sich privat benutzte Herr Sendler den Ford. Den Horch vermietete er für Überlandfahrten, und der Framo war begehrtes Aushilfsgefährt für eilige Transporte. Fahrer des Letzteren zu werden, betrachtete Anton als die Gelegenheit.

      Nachdem er mit Herrn Sendler bekannt genug war, machte er eine entsprechende Andeutung. "Hm", sagte der mittelgroße Mann mit der Hornbrille und sog überlegend an der Zigarre, "Sie sind zuverlässig. Aber einer Sympathie zuliebe kann ich keinen Fahrer auf die Straße setzen."

      "Nein, so nicht", bekräftigte Anton. "Ich wollte Ihnen nur für den Notfall andeuten ... "

      "Schade", unterbrach Herr Sendler, "dass mein Laden keinen Privatchauffeur trägt, sonst würde ich Sie sofort für den Ford einstellen. Es ist immer gut, einen Menschen um sich zu haben ... "

      "... der nicht quatscht", vollendete Anton.

      "Und einen, der weiß, was uns nicht guttut." Ehe Sendler einstieg, murmelte er wie im Selbstgespräch: "Neue Wagen sind jetzt rar, unsere Führung scheint allerhand vorzuhaben."

      Aus dem heruntergekurbelten Fenster grüßend, sagte er leise: "Ich behalte das im Auge." Sanft glitt der Wagen aus der Garage.

      Einige Zeit später wurde Erich Balusik eingezogen, der Fahrer des Horch. Balusik war SA-Mann. Nach allem, was er erhofft und nicht erlangt hatte, reichte seine Begeisterung gerade noch für die großen Staatsfeiertage mit Flaggen Tamtam und Freibier. Unter dem Eindruck der soeben erhaltenen Einberufung suchte er Trost bei den Dreien in der Werkstatt. Die verhehlten ihre Schadenfreude nur schlecht. Anton kam hinzu, als Emmerich Kohsel gerade dozierte: "Politik bringt eben nichts ein. Da bist du marschiert, hast auf Versammlungen gesessen, hast schießen gelernt, und nun musst du los!"

      "Quatsch", entgegnete Balusik ärgerlich, "wenn du mein Jahrgang wärst, müsstest du auch."

      "Aber meiner ist nicht dran", beharrte Kohsel, "und bis es soweit ist, nutze ich die Zeit mit Fachschulbesuch."

      "Die Fachschule nützt dir einen Dreck, wenn du im Schützenloch hockst."

      "Der Führer will keinen Krieg", erinnerte Ehmsen sanft.

      "Jawoll", bestätigte Barkereit, "und zwei Jahre Dienstzeit sind für einen jungen Mann nicht das schlechteste. Keine Sorge ums Essen, Schlafen, Taschengeld. Frische Luft und Gymnastik - das hält gesund."

      "Da solltest du dich freiwillig melden", knurrte Balusik.

      Barkereit feixte. "Würde ich, wenn ich nicht zwei Kinder hätte und wenn ich in der SA wäre."

      Balusiks Seele war voll Weltschmerz. "Und für so was hält man nun den Kopf hin."

      "Jede Kugel trifft nicht - immer gleich den Kopf", ergänzte Anton eins der dümmsten Worte jener Tage doppelsinnig.

      Balusik nahm es für echten Trost. Er sah Anton dankbar an und bekräftigte: "Genau, Kamerad. Und ihr könnt euch drauf verlassen, dass ich meinen Kopf immer recht schön unten halten werde."

      Mit diesem Gelöbnis, das den andern nicht ganz im Einklang mit SA-Heldenmut zu stehen schien, verließ er die Werkstatt und bestieg zum letzten Mal den Horch. Etwa einen Monat später war er tot. Er fiel bei der Eroberung von Warschau. Es war keine Kugel, die ihm das Lebenslicht ausblies, und es war auch nicht sein schlauer Schädel, der getroffen wurde. Den hatte der brave Balusik getreu seinem Vorsatz tief unten gehalten, als er von seinem Fouragewagen in den Chausseegraben retiriert war. Der Splitter eines Granatwerfergeschosses zerfetzte ihm die Gedärme. Und ehe das qualvolle Ende kam, hatte sein heil gebliebener Kopf noch Zeit, viel zu viel entsetzliche Zeit, darüber nachzudenken, dass eine winzige Kugel nur eine der tausend Möglichkeiten darstellt, vom Krieg getötet zu werden.

      Gegen Abend fuhr Sendler