E.R. Greulich

Keiner wird als Held geboren


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Bräutigam schlummerte noch immer. Anton ging zum Wasser, schwamm schnell und lange, um seine innere Unruhe zu unterdrücken. Er kam zurück und frottierte sich genussvoll, immer mit einem halben Blick hinüber zu den sommerfrohen Menschen. Dann holte er den Petroleumkocher aus dem Boot, begann das Mittagessen zu bereiten. Er schälte Kartoffeln und lauschte hinüber. Wenn ein Name fiel, war es ein Vorname oder ein Spitzname. Als die Kartoffeln gar waren und das Gulasch appetitlich duftete, weckte Anton Vera Bräutigam. Voll des Lobes über seine Umsicht und Kochkunst, half sie beim Tisch decken. In rosiger Laune entnahm sie dem Kühlbeutel eine Flasche Wein.

      Beim Essen sah es Anton. Er zuckte zusammen. Ohne dass er es bemerkt hatte, waren zwei Paddelboote startfertig gemacht worden. Jetzt stieg je ein Paar in die Boote. Die Frau, die sich im rechten Boot eben niedergesetzt hatte und nun das Paddel ergriff, das war ... Die Figur, der Rücken, diese bestimmte Art der Bewegungen ... Aufstehen und rufen, das war Antons erster Impuls. Doch sein kritischer Verstand spottete: Deine Wunschträume gaukeln dir am helllichten Tag Trugbilder vor. Er saß wie gebannt. Ein Halbwüchsiger kam drüben zur Badestelle gerannt, schwenkte etwas in der Hand und rief: "Elsbeth!"

      Sie legte das Paddel quer und wandte sich um. Der Halbwüchsige rief lauter: "Dein Kochgeschirr, Elsbeth!"

      Gelassen rief sie zurück: "Bring es mir mit!" Dann nahm sie das Paddel wieder auf, und im Takt mit dem Hintermann versuchte sie, das andere Boot einzuholen.

      Hastig legte Anton die Gabel hin. Kurz entschlossen kleidete er seinen dringlichen Wunsch in einen Scherz: "Käpt'n, wir müssen sofort in See stechen. Die da vorn schwimmt, ist meine Cousine."

      "Freibeuterei ist von der christlichen Seefahrt geächtet", spottete Vera Bräutigam wenig beeindruckt.

      "Seit meiner Rückkehr konnte ich sie nicht finden."

      Sein Ton ließ sie aufhorchen. Sie sah ihn vielsagend an.

      "Interessante Cousine, scheint's."

      Anton überhörte die Anzüglichkeit und bat eindringlich: "Können wir?"

      Nicht sehr erbaut, willigte sie ein. "Meinetwegen. Weil Sie so gut den Smutje gespielt haben."

      Übereilig begann Anton die Sachen zum "Albatros" zu bringen, starrte immer wieder nervös über das Wasser. Die beiden Paddelboote waren unter den vielen Wasserfahrzeugen nicht mehr auszumachen. Als sie den Anker gehievt hatten, fluchte Anton innerlich über die Flaute. Aus der Bucht hinaus mussten sie den Kajütkreuzer mühselig staken.

      "Wohin sind sie, in Richtung Grünau oder Schmöckwitz?" fragte Anton.

      "Reines Glücksspiel." Vera Bräutigam sagte es nicht ohne Schadenfreude. Ein lauer Wind fächelte aus Osten, und so kreuzten sie auf Schmöckwitz zu. Unaufmerksam bediente Anton jetzt die Fock, aufmerksam suchten seine Augen die Wasseroberfläche ab.

      Die Brücke am Gasthaus "Zur Palme" in Schmöckwitz war für den Mast des "Albatros" zu niedrig. Sie wendeten und kreuzten nun entgegengesetzten Kurs. Anton wahrte äußere Gelassenheit, in seinem Kopf jagten die Gedanken. Konnten sie schon so weit nach Grünau hinein sein? Wie viel Kilometer legte man pro Stunde in einem Paddelboot zurück? Wer war der Mann im Boot? War Elsbeth etwa wieder verheiratet? Weit hatte er diese Befürchtung immer von sich geschoben, heftig sprang sie ihn jetzt an.

      Sie segelten bis nach Grünau hinein - ohne Erfolg.

      "Und nun?" fragte Vera Bräutigam ein wenig triumphierend.

      Anton gab die Hoffnung nicht auf. "Zurück", sagte er. Als sie nach gleichem Misserfolg wieder auf den Seddinsee zuhielten, schlug sich Anton gegen die Stirn. "Ich Esel. Die Leute an der Badestelle werden ihre Adresse wissen."

      Sie warfen dort Anker. Anton watete an Land und ging auf eine Gruppe Männer zu, die auf der Böschung saßen und friedsam dem Treiben auf dem Wasser zuschauten.

      "Verzeihung, weiß jemand, wo die Elsbeth wohnt, die vorhin hier losgepaddelt ist? Ich bin ein alter Bekannter von ihr."

      Sie sahen ihn an, prüfend und schweigend. Einer räusperte sich. "Die schlanke Blonde?"

      Anton bejahte erfreut.

      "Tscha, so oft ist die nicht hier. Wir kennen sie bloß vom Sehen."

      Die Männerrunde bestätigte mit Kopfnicken.

      Anton eilte weiter. Den Halbwüchsigen mit dem Kochgeschirr musste er finden. Er war nicht mehr da. Vor einer halben Stunde mit zwei Freunden losgezogen, erfuhr Anton. Frauen, Jugendliche und Kinder fragte Anton, überall erging es ihm ähnlich wie bei den Männern. Ein junges Mädchen erinnerte sich dunkel der alten Adresse, wurde aber von ihrer Mutter korrigiert, dass Elsbeth weggezogen sei. Wohin wusste niemand.

      Traurig kletterte Anton auf den "Albatros".

      "So was von Cousin lobe ich mir", sagte Vera Bräutigam, "hoffentlich weiß Ihre Cousine das zu schätzen."

      Anton zwang sich zur Heiterkeit, obwohl er die Hoffnung für heute aufgegeben hatte. "Falls wir sie doch noch treffen, müssen Sie es ihr selbst sagen."

      Während Antons Suche hatte Vera Bräutigam in der Kombüse Kaffee aufgebrüht. Sie tranken ihn an Bord und segelten dann nach Karolinenhof. Vera Bräutigam wollte sich von der Abendflaute keine ermüdende Paddeltour aufzwingen lassen. Anton brachte sie mit dem Wagen bis vor die Wohnung. Kokett über die Schulter winkend, trippelte sie davon. Er fuhr den Wagen in die Garage und ging in verbissener Melancholie zur Hochbahn. Für heute blieb nur ein Trost, er wusste nun, Elsbeth lebt in Berlin.

      LEBEN KOMMUNISTEN - LEBT DIE PARTEI

      Anton fuhr vom Garagenhof, als Sendler mit seinem Ford kam und heftig winkte. Anton stoppte, Sendler stieg aus. "Sie wissen Bescheid?" fragte er, auf Anton zukommend.

      "Zum Anhalter Bahnhof, Herrn Bilbisch abholen; guter alter Kunde, nimmt den Wagen diesmal pauschal für drei Tage; wünscht Tag und Nacht Bereitschaft. Nicht verärgern, Herr Bilbisch zahlt bar", schnarrte Anton herunter, die kindliche Stimme des Lehrmädchens nachahmend.

      Sendler lachte. "Tüchtig die Rita, aber ich meine was anderes."

      Anton horchte auf.

      "Ganz alter Pg", fuhr Sendler fort, "macht auf jovial und ist scharf auf die sogenannte Volksmeinung. Redet oppositionell. Vielleicht ist's sogar echt, vielleicht aber ... Na ja, Sie sind nicht auf den Kopf gefallen. Machen Sie' s gut."

      Im Wagengewimmel vorm Hauptausgang suchte sich Anton einen Platz. Er hatte noch über zehn Minuten Zeit und schlenderte durch das Portal mit den pompösen Säulen, stieg die breite Treppe hinauf. Umherschauen und die Ohren spitzen war ertragreicher als im Wagen zu dösen. Durch den Bahnhofslautsprecher wurde eine Verspätung des Münchener Zuges bekannt gegeben. Mit diesem Zug sollte Herr Bilbisch kommen. Der suchte also die Volksmeinung. Wie war sie wirklich? Keineswegs so, wie sie die Nazis darzustellen suchten. Aber auch nicht so, wie Anton sie gewünscht hätte. Fest stand, sie war nie so schwer zu erkunden gewesen wie jetzt. Alle Menschen schienen nur private Sorgen zu haben. Zum Beispiel jener Hoteldiener dort mit Schirmmütze und grüner Schürze, der seine Karre mit einem riesigen Koffer vor sich herschob, wie mochte er über die politische Lage denken? Überrascht kniff Anton die Augen zusammen, als der Mann näher kam. Kein Zweifel, das war Jule. Anton sah ihm starr ins Gesicht. Doch der Mann schien für nichts anderes Gedanken zu haben, als seine Last sicher durch das Menschengewühl zu bringen. Anton ging ihm langsam nach. Jule war älter geworden, aber wie er ging, die Schultern hielt, den Kopf bewegte, die kleinen, kaum wägbaren Dinge, all das hatte sich nicht verloren, war eher noch ausgeprägter geworden. Vor der Sperre lieferte der mit der grünen Schürze den Koffer an einen Gepäckträger ab. Als er, wieder ins Leere schauend, an Anton vorbeikam, stellte der einen Fuß vor das Rad. "Hoppla!"

      Der Grünbeschürzte sah unwillig auf, Erkennen blitzte in seinen Augen, freudige Überraschung. Dann wurden seine Gesichtszüge wieder beherrscht, im Bruchteil von Sekunden suchten seine Blicke die Umgebung ab, und er sagte mit leisem Glucksen in der Stimme: "Mensch, Anton."

      "Jule."