Jo Jansen

Nach(t)Sicht


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schlich ich zur Tür und sah ich mich dabei im Zimmer um. Es war winzig, ein Einzelzimmer, das ich nie zuvor gesehen hatte. Doch was war das? Neben der Tür schimmerte ein vertrauter grüner Fleck – meine Jacke hing an der Garderobe. Ich war sicher, sie gestern vor dem Abendessen in dem anderen, nämlich Franks und meinem, Zimmer gelassen zu haben. Warum sie nun hier hing, verstand ich nicht. Das musste ein Missverständnis sein.

      Ärger machte sich in mir breit. Diese dumme Bedienung. Sie hatte mich in das falsche Zimmer geleitet. Das musste ich klären, sofort. Zweihundertfünfzehn. Ich war mir sicher, dass Frank und ich gestern dort hineingegangen waren. Das große Doppelbett hatte Vorfreude auf die gemeinsame Nacht in mir geweckt und nun stand ich hier. Allein in einem Einzelzimmer. Vielleicht hatte Frank sich gestern Abend ebenfalls schlecht gefühlt, den Schlüssel von innen stecken lassen und mein Klopfen nicht gehört? Es würde für das Chaos ja wohl eine logische Erklärung geben, über die wir gleich gemeinsam lachen könnten. Ich pochte erneut an die Tür mit der Nummer 215. Niemand öffnete. Langsam machte ich mir Sorgen. Vielleicht wusste sein Bruder mehr. Er und Anna hatten das Zimmer genau gegenüber bezogen, Nummer 208. Auch dort reagierte niemand auf mein Klopfen. Ebenso nebenan, 210, wo Beate und Robert abgestiegen waren. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Beunruhigt eilte ich die Treppe hinab. Hoffte, die anderen beim Frühstück zu finden.

      In der Gaststube waren sie nicht. Mir tönte ein freundliches „Guten Morgen“ von dem älteren Ehepaar entgegen, das gerade frisch und rosig das Lokal verließ. Vielleicht hätte ich gestern auch das Musikantenstadl dem Ramazzotti vorziehen sollen? Die Bedienung war nirgends zu sehen, also durchquerte ich den leeren Frühstücksraum. An der Rezeption checkten die beiden Alten gerade aus. Unruhig hielt ich mich im Hintergrund, trat ich von einem Fuß auf den anderen und war froh, als sie endlich winkend in Richtung Parkplatz verschwanden. Ich sah ihnen nicht nach, sondern wandte mich direkt an den Wirt.

      „Guten Morgen.“ Ich versuchte, mir den Ärger nicht sofort an meiner Stimme anmerken zu lassen. Es gelang mir nicht, wie mir die hochgezogenen Brauen des Mannes verrieten.

      „Guten Morgen Frau Witt. Haben Sie gut geschlafen?“, fragte er mit unbewegter Miene.

      „Nein“, knurrte ich und dann brach es aus mir heraus. Dass es ja wohl nicht sein könne, dass man mich nachts in ein falsches Zimmer steckte, wo denn meine Freunde wären und wer überhaupt schuld sei an dem ganzen Chaos. Der Wirt hörte mir schweigend zu, zog nur wiederholt die Augenbrauen hoch. Als ich fertig war, kam er hinter dem Rezeptionstresen hervor, zeigte auf den Frühstücksraum und sprach langsam, wie eine Mutter zu ihrem kleinen Kind:

      „Kommen Sie, ich hol uns erst mal einen Kaffee.“

      Wenig später floss das bittere Gebräu, in das ich ganz viel Zucker gerührt hatte, meine Kehle hinunter. Ich schüttelte mich. Der Wirt war ein dicklicher Mann, von dem etwas Gemütliches ausging. Er saß mir gegenüber und beobachtete den Löffel, mit dem er in seiner Kaffeetasse herumrührte, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Gerade wollte ich meine Fragen wiederholen, da hob er den Blick und sah mir direkt in die Augen.

      „Frau Witt, ich weiß nicht, was genau sie letzte Nacht gemacht haben. Aber sie sind gestern allein hier angekommen.“

      Zum Glück saß ich schon, sonst hätte ich mich jetzt erst einmal setzen müssen.

      „Das ist nicht wahr.“ Trotzig und scharf schossen die Worte aus meinem Mund. „Wir kamen zu sechst an, drei Pärchen. Sie selbst haben uns die Zimmerschlüssel ausgehändigt, für Frank und mich die 215.“

      Der Mann schüttelte den Kopf.

      „Da war niemand sonst. Nur das alte Ehepaar, das soeben abgereist ist.“

      Die Kellnerin, die uns am Abend bedient hatte, kam aus der Küche herbei, sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Empörung an und bestätigte seine Worte.

      „Sie waren allein und haben gestern Abend ziemlich viel Ramazzotti getrunken. Zuviel, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“

      Langsam wurde ich richtig wütend.

      „Ich weiß zwar nicht, was das hier soll, aber jetzt ist Schluss mit lustig. Ich will zu meinem Freund. Vielleicht ist ihm ja etwas zugestoßen.“

      Immer mehr redete ich mich in Rage, sodass die Kellnerin es vorzog, wieder in der Küche zu verschwinden, während der Wirt mich nur noch stumm und feindselig ansah. Schließlich brachte mein nicht enden wollender Redefluss ihn dazu, sich zu erheben und mit mir zum Zimmer 215 hinauf zu gehen.

      „Nur, damit Sie endlich Ruhe geben“, sagte er und schloss die Tür auf, vor der ich schon mehrfach vergebens gestanden hatte. Ich lief hinein und blieb wie erstarrt stehen. Das Zimmer sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Allerdings war es leer und unbenutzt, von Frank oder unserem Gepäck keine Spur. Da war der Balkon, von dem man einen herrlichen Blick auf die Umgebung hatte – und auf den Parkplatz hinter dem Haus. Mit einem Sprung war ich an der Balkontür, riss sie auf und spürte, wie der starke Arm des Wirtes mich packte und zurückzerrte.

      „Nun ist aber genug.“ Mit wütend aufgerissenen Augen starrte er mich an. Dachte er etwa, ich wollte springen?

      „Ähm, nein, Sie verstehen mich falsch“, versuchte ich mich aus seiner Hand zu winden, die meinen Oberarm wie ein Schraubstock umklammert hielt. „Ich wollte nur einen Blick auf den Parkplatz werfen.“

      Misstrauisch lockerte er den Griff etwas, wich aber nicht von meiner Seite, als ich den Balkon betrat. Ein Blick auf den Parkplatz genügte, um mir die Tränen in die Augen schießen zu lassen. Dort unten stand ein einziges Auto, ein kleiner schwarzer Polo. Meiner. Das war unmöglich, denn ich hatte ihn zu Hause gelassen, in meiner Garage. Wir waren mit Franks BMW hergefahren.

      Wenig später befand ich mich wieder in dem Zimmer, in dem ich die Nacht verbracht hatte, Nummer 217. Vom Wirt hatte ich keine weiteren Antworten bekommen. Entweder war das hier die „Versteckte Kamera“ oder ich begann, mit Anfang dreißig, komplett durchzudrehen. Im Kleiderschrank fand ich eine braunkarierte Reisetasche. Meine Reisetasche, wie ich unschwer an dem Mini-Plüschhäschen erkennen konnte, das vom Reisverschluss herab hing und genau so ratlos in die Welt sah, wie ich mich fühlte. Wenigstens hatte ich jetzt frische Wäsche. Ich duschte, wusch mir die Haare und zog mich um. Besser fühlte ich mich trotzdem nicht. Nichts ergab einen Sinn und ich hatte immer noch das Gefühl, nicht klar denken zu können. Meine Handtasche fehlte. Ich war sicher, sie gestern mit in das gemeinsame Zimmer genommen zu haben. Zum Glück fand ich meine Kreditkarte und den Autoschlüssel in meiner Jackentasche. So konnte ich wenigstens die Hotelrechnung bezahlen - ein Einzelzimmer mit Frühstück, Abendessen, diverse Getränke, darunter allein sechs Ramazzotti. Niemals hatte ich soviel getrunken, hatte jedoch keine Lust, dies mit dem unfreundlichen Wirt zu diskutieren.

      Resigniert und kampfbereit zugleich checkte ich aus. Wenn man mich hier so auflaufen ließ, würde ich eben anderswo weitersuchen. Im Polo, auf dem Beifahrersitz, lag meine Handtasche. Ein Anflug von Erleichterung überkam mich. Meine Geldbörse, die Hausschlüssel, Fotoapparat und Handy, alles noch da. Natürlich, mein Handy. Ich war anscheinend völlig durch den Wind, dass ich nicht eher daran gedacht hatte. Sofort würde ich Frank anrufen, seine Nummer hatte ich unter Favoriten abgespeichert. Angelika, Büro, Mutti … fertig. Kein Frank. Fieberhaft drückte ich auf dem Handy herum, öffnete das Menü Kontakte. Auch dort gab es keinen Frank. Ich hatte mir seine Handynummer nie gemerkt, da ich sie eingespeichert und sicher glaubte. Mein Magen krampfte sich zusammen, mir wurde kotzübel. Gerade noch rechtzeitig konnte ich die Autotür öffnen. Der Kaffee von vorhin, mit dem vielen Zucker, landete in hohem Bogen auf dem Parkplatz.

      Wie lange es dauerte, bis ich mich halbwegs wieder gefasst hatte, weiß ich nicht. Wie ein Häufchen Elend saß ich heulend im Auto auf dem Parkplatz. Meine Gedanken wirbelten durcheinander, nichts ergab einen Sinn. Irgendwann kam ich auf die Idee, meine beste Freundin anzurufen. Angelika. Sie war vor einigen Wochen in die Schweiz gezogen, ganz ans andere Ende, rund vierhundert Kilometer weg von mir. Dort lebte sie jetzt mit ihrem Mann, einem Schweizer, und erwartete im Februar ein Baby. Obwohl wir uns früher fast täglich trafen, hatten wir uns seit ihrem Umzug nicht einmal gesehen. Ich war kurz danach