Jo Jansen

Nach(t)Sicht


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drehten sich fast nur noch um das Baby und ihr Leben in der Schweiz. Immerhin telefonierten wir ab und zu. So hatte Angelika sich mit mir gefreut, dass ich in Frank wohl endlich dem Richtigen begegnet war.

      Mit zitternden Fingern hielt ich das Telefon ans Ohr. Geh ran!, flehte ich. Zwar wollte sie am Wochenende gern ihre Ruhe haben, würde aber hoffentlich meine Nummer auf dem Display erkennen.

      „Nadine. Schön, dass du anrufst“, begrüßte sie mich erfreut. Der Klang ihrer Stimme hatte etwas Tröstendes in diesem Albtraum. Es fiel mir schwer, ihr mit wenigen Worten zu berichten, was vorgefallen war. Wenn ich es schon nicht verstand, wie wirr musste es dann erst für sie klingen? Zumindest gelang es ihr, pragmatisch zu denken.

      „Du musst da weg. Fahr nach Hause. Ich setz mich in den Zug, dann kann ich heute Abend bei dir sein. Übermorgen hab ich sowieso noch etwas in Konstanz zu erledigen.“

      Der letzte Satz mochte geschwindelt sein, aber das war mir in dem Moment egal. Sie kam. Meine beste Freundin hatte Zeit für mich, gerade jetzt, wo ich sie am meisten brauchte.

      An die Fahrt durch den Schwarzwald konnte ich mich später nicht mehr erinnern. Immerhin gelang es mir, den schmalen, kurvenreichen Straßen unfallfrei zu folgen. Am frühen Nachmittag parkte ich mein Auto mit einer gewissen Erleichterung vor dem Haus, in dem ich wohnte. Das hier war bekanntes Terrain, bald käme Angelika, alles würde gut. An diesen Gedanken klammerte ich mich, das wollte ich glauben. Der vertraute Geruch meiner Wohnung nahm mich in den Arm, gab mir Sicherheit. Schluchzend saß ich auf dem Klo, ein Ort, der für mich schon immer der Inbegriff des nach Hause Kommens gewesen war. Ich zwang mich zur Ruhe, musste logisch vorgehen. Mit einer Tasse Tee setze ich an meinen Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und öffnete das Mailprogramm. Es gab da ein paar sehr persönliche Mails von Frank. Das heißt, es hatte sie gegeben, wie ich wenig später feststellen musste. Weder fand ich seine Mails an mich, noch meine gesendeten Antworten. Wie konnten sie verschwinden? Niemand, außer mir, kannte das Passwort meines Computers und nur ich besaß Schlüssel zu meiner Wohnung. Das hatte ich bisher geglaubt.

      Verunsichert sah ich mich um. War während meiner Abwesenheit etwa jemand hier gewesen? Wo war der kleine, weiße Porzellanelefant geblieben, den Frank mir auf dem Flohmarkt gekauft hatte? Ganz sicher hatte er am Freitag noch auf meinem Schreibtisch gestanden, als ich die Wohnung verließ. Hektisch lief ich durch die Räume und suchte nach weiteren Beweisen meiner Beziehung zu Frank. Seine Zahnbürste im Badezimmerschrank – weg. Die CDs, die er mir geschenkt hatte – ebenfalls weg. Das gerahmte Foto von uns beiden auf dem Nachtschrank – auch fort. Mir kamen schon wieder die Tränen. Auf dem Foto hatte Frank mich im Arm gehalten. Mit Selbstauslöser aufgenommen, zwei glücklich lächelnde Menschen, den Bodensee im Hintergrund.

      Doch halt. Ich war aber auch ein Dummchen. Die Kamera. Auf der Speicherkarte mussten die Fotos von der gestrigen Wanderung mit Frank, Michi, Anna, Beate und Robert sein. Vor Aufregung zitterten meine Hände schon wieder so stark, dass es mir erst beim dritten Versuch gelang, die Speicherkarte in den Computer zu schieben. Ich hätte es mir sparen können. Es waren nur Landschaftsaufnahmen vom Schwarzwald darauf. Wunderschön, aber ohne einen einzigen Menschen.

      Ich wurde immer panischer. Irgendeinen Beweis für unsere gemeinsame Zeit wollte ich finden. Der Fotoordner meines Computers ...

      Er war leer.

      Alles gelöscht.

      Komplett. Damit waren auch die Fotos, die Frank allein oder gemeinsam mit mir zeigten, verschwunden. Zu dumm, dass ich unser gemeinsames Fotoalbum erst zu Weihnachten anfertigen wollte und daher noch keine Papierabzüge existierten. Wobei, wenn es die gäbe, wären sie jetzt wohl auch fort. Wer hatte sich diese Mühe gemacht und vor allem, warum? Was wurde hier gespielt? Diese Frage stellte ich mir immer und immer wieder.

      Wir hatten uns Anfang Oktober ganz zufällig kennengelernt. Ich saß lesend in einem Café. Frank kam an meinen Tisch und fragte, ob ich das Buch empfehlen könnte. So kamen wir ins Gespräch, unterhielten uns zunächst über Bücher, dann über hundert andere Themen. Er war mir sofort sympathisch und darum sagte ich erfreut zu, als er mich für den nächsten Tag zu einem Spaziergang einlud. Da er in Heidelberg lebte und ich am Bodensee, sahen wir uns bisher nur an den Wochenenden. Ich zählte nach. Fünfmal insgesamt. Bereits am ersten Wochenende hatte ich mich in ihn verliebt. Zwar war mir Frank manchmal seltsam distanziert vorgekommen, doch das hing wohl mit seinem Beruf zusammen. Die Hirne von Softwareingenieuren ticken anders, hatte er mir lachend erklärt, als ich ihn darauf ansprach.

      Um kurz vor sechs Uhr abends stand ich aufgeregt am Bahnhof. Noch nie hatte ich die Ankunft meiner besten Freundin so sehr herbeigesehnt. Die Zeiger der Bahnhofsuhr schlichen mit einer an Sadismus grenzenden Langsamkeit über das Zifferblatt, eine Runde, die nächste und noch eine. Endlich fuhr der Zug ein und kurz darauf lagen wir uns in den Armen. Angelikas Bauch war sichtbar gewachsen und sie strahlte die pure Vorfreude aus. Trotzdem lag ehrliche Besorgnis in ihrer Stimme, als sie wenig später auf meinem Sofa saß und mich bat, alles noch einmal ganz genau zu erzählen. Das tat ich, auch wenn die Geschichte dadurch nicht verständlicher wurde, weder für sie noch für mich. Gerade die Sache mit den verschwundenen Fotos und E-Mails kam mir selbst so unwirklich vor. Wie konnte ich erwarten, dass Angelika mir glaubte?

      „Und du hast wirklich keinen Beweis, dass dieser Mann in den letzten Wochen Teil deines Lebens war?“ Angelika zog die Stirn in Falten, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. In ihren Augen las ich eine einzige Frage: Warum?

      „Hattet ihr Streit? Verlangte er Dinge von dir, die du nicht tun wolltest? Könnte eine andere Frau dahinter stecken?“

      Jedes Mal schüttelte ich verneinend den Kopf und wurde immer mutloser.

      „Alles war ganz harmonisch.“ Ich überlegte. Er war doch genauso verliebt in mich, wie ich in ihn, oder?

      „Und selbst wenn es da etwas Dunkles in ihm gibt, das ich übersehen haben sollte – dann macht man vielleicht Schluss, aber doch nicht so. Seine Geschwister und die Freunde scheinen ja mit drin zu hängen. Ich komme mir vor wie in einem zweitklassigen Agententhriller.“

      Mir lief schon wieder eine Träne über die Wange. Verdammt! Meine Hilflosigkeit wandelte sich mehr und mehr in Wut. Auf den, der mir das angetan hatte.

      „Über Festnetz kannst du ihn nicht erreichen?“

      Das liebte ich an meiner Freundin, sie dachte mit.

      „Nein, er hat nur Handy, sagte er. Die Nummer weiß ich dummerweise nicht auswendig, sie war ja sicher eingespeichert, dachte ich.“

      „Die Telefonliste deines Handys, da müsste sie doch auftauchen, wenn auch namenlos.“

      „Auch die Einträge wurden gelöscht.“

      „Hm. Du warst bei ihm zu Hause, sagtest du?“

      „Ja, einmal. Wir haben uns sonst immer bei mir getroffen. Er hat nur eine winzige Wohnung in Heidelberg und wir waren doch beide so gern hier am See unterwegs.“

      „Die Adresse weißt du noch?“

      „Ja.“ Eifrig begann ich zu nicken. „Ja, das ist es, wir fahren hin.“

      „Okay, Süße, aber erst morgen. Mutter und Kind brauchen ihren Schlaf und du siehst auch völlig fertig aus.“

      Obwohl ich am liebsten sofort losgefahren wäre, musste ich Angelika recht geben.

      Am nächsten Morgen war ich bereits vor dem Hellwerden wach. Während ich die werdende Mutter noch schlafen ließ, saß ich an meinem Schreibtisch und grübelte. Ich sah keinen, wirklich keinen Grund, dass Frank so ein falsches Spiel treiben sollte. Und seine Geschwister, der Wirt und die Kellnerin im Hotel, was hatten sie damit zu tun?

      Nach einem kurzen Frühstück stiegen wir in mein Auto und fuhren los, vom Jagdfieber gepackt. Es war Sonntagvormittag und auf der Autobahn wenig Verkehr. So dauerte es keine drei Stunden, bis wir Heidelberg erreichten und einen Parkplatz am Rande der Altstadt fanden. Von dort liefen wir die letzten paar hundert Meter zu Fuß.

      „Hier