J.P. Conrad

Mutterschmerz


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dröhnten die Sirenen des Fliegeralarms dumpf durch die dicken Mauern. Inzwischen durfte wohl jede Maus in Frankfurt mitbekommen haben, dass ein Angriff stattfand.

      »Wenn der Nationalsozialismus fällt, fällt Deutschland!«, verkündete Frau Metzger prophetisch. Sie schien zu spüren, dass die Luft dünner wurde; im übertragenen, wie im buchstäblichen Sinn.

      »Wir müssen zuversichtlich sein!«, entgegnete die Mutter nachdrücklich. »Unsere Männer kämpfen da draußen für uns. Sie werden den Feind vernichten!«

      Sie erntete ein kurzes, heiseres Lachen der Zigarette rauchenden Frau. Es war ihre erste Äußerung überhaupt, seit sie in dem Keller festsaßen. Alle sahen nun zu ihr.

      »Das sagen ausgerechnet Sie?«, fragte sie, leicht amüsiert, ohne aufzusehen. Sie hatte eine buchstäbliche Reibeisenstimme; zweifellos hervorgerufen durch jahrzehntelangen Nikotinkonsum.

      Die Stirn der Mutter legte sich in Falten. »Wieso? Was meinen Sie damit?«

      Die Alte zuckte mit den Schultern und zog genüsslich an ihrer Zigarettenspitze, bevor sie antwortete: »Man hört so manches.«

      »Was hört man, Frau Vogel?« Der Ton der Mutter wurde schärfer.

      Ihre Nachbarin ließ sich Zeit mit einer Antwort, blies erst wieder ein wenig Rauch in die ohnehin schon dicke Kellerluft. »Dass ihr Mann mit dem Feind kollaboriert«, sagte sie dann unzweideutig.

      Die Mutter bekam große Augen, war gleichermaßen perplex und entrüstet. »Wie kommen Sie dazu, so etwas zu behaupten?«

      »Weil es mir jemand erzählt hat. Er soll ein Deserteur und Verräter sein.« Wieder nahm sie einen tiefen Lungenzug und fachte damit nicht nur die Glut erneut an.

      »Zügeln Sie Ihre Zunge oder es passiert ein Unglück!«, drohte die Mutter aufgebracht und stand auf. Mit in die Hüften gestemmten Armen sah sie auf die beiden Frauen herab. »Wer verbreitet solche widerlichen Lügen?«

      »Meine Damen, bitte!«, versuchte Adolf erneut, die Streithähne zu beschwichtigen, und kam ebenfalls auf die Beine. »Auf Gerüchte sollte man nichts geben!« Inzwischen empfand er die Situation dort in dem Keller fast gefährlicher, als den Fliegerangriff.

      »Ich könnte nie mit einem Verräter verheiratet sein!«, verteidigte sich die Mutter angewidert. »Ebenso wenig, wie mit einem Juden. Eher möchte ich sterben.«

      Die Alte schielte zu Frau Metzger, die direkt neben ihr saß. »So?«

      »Ich habe das aber auch gehört«, mischte sich diese nun überraschend in den Disput ein und schaute die Mutter mit herablassendem Blick an.

      »Wer hat das behauptet?«

      Adolf fasste die Mutter sanft am Arm. Er hatte die Befürchtung, dass sich die Frauen gleich gegenseitig die Köpfe einschlugen.

      Frau Metzger verschränkte die Arme und grinste ihr von unten herauf triumphierend ins Gesicht. »Ihr Sohn!«

      Der Mutter fiel die Kinnlade herunter. Sie befreite sich mit einem Ruck aus Adolfs leichtem Griff und stellte sich vor ihn. Ihr Schatten lag unheilvoll über dem Kind, das regungslos und blass an der Wand hockte.

      »Ist das wahr?«, fragte sie scharf und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Als der Junge nicht antwortete und ihrem Blick auswich, zog sie ihn am Oberarm unsanft auf die Beine. Sie drückte ihn mit einem Ruck gegen die Mauer. Fast zeitgleich ertönte wieder ein Bombenschlag; diesmal etwas weiter entfernt.

      »Stimmt das? Hast du es jemandem erzählt?« Sie schüttelte ihn durch, presste ihn mehrfach fest gegen die Wand. Er verzog schmerzverzerrt das Gesicht. Adolf versuchte, die Mutter von ihm wegzuziehen, als Frau Metzger trocken auflachte.

      »Kindermund tut Wahrheit kund!«

      Und Frau Vogel nickte nur, ohne eine Miene zu verziehen.

      »Dafür sollte ich dich tot prügeln!«, knurrte die Mutter voller Zorn. »Du kleiner Verräter! Du Nichtsnutz!« Sie holte mit ihrer Hand aus, doch Adolf hielt sie fest. Sie fuhr herum. Unbändige Wut glänzte in ihren blauen Augen.

      »Nein, tun Sie es nicht!«, sagte er kopfschüttelnd.

      Abermals riss sie sich los; sie verfügte über erstaunlich viel Körperkraft. »Was fällt Ihnen ein? Mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten!«

      »Er ist ein Kind. Er kann nichts dafür. Und mir ist egal, ob es stimmt, oder nicht!«, sagte Adolf und versuchte, mit seiner Stimme beruhigend auf sie einzuwirken, was angesichts seiner eigenen Verfassung alles andere als leicht war.

      »Mir ist es nicht egal!«, fauchte sie zurück. »Verräter erschießt man! So wird das gemacht! Und ich würde keine Sekunde zögern, ihn zu erschießen!«

      Adolf hielt sie an den Schultern und sah ihr in die Augen. »Ihr eigenes Kind?«, flüsterte er ungläubig.

      »Seinen Vater«, antwortete sie und Tränen standen ihr mit einem Mal in den Augen, die sie sofort wegwischte. War es Scham? Oder Trauer? Adolf war sich nicht sicher.

      »Ich will ihn für dich erschießen, Mama!«, rief ihr Sohn nun aufgeregt und sprang auf seine Mutter zu. Er umklammerte schluchzend ihre Hüfte. »Ich tue das für dich, ich verspreche es! Es tut mir so leid!«

      Nach einem kurzen Moment hatte sich die Frau wieder etwas gefangen. Adolf spürte, wie sich ihre Körperspannung löste und er ließ sie los. Sie rang sich ein Lächeln ab.

      »Schon gut, Hans! Wir werden mit dieser Schande leben müssen.« Und an die beiden Nachbarinnen gewandt sagte sie, mit fester Stimme: »Sie werden ihn bekommen, wenn sie es nicht schon längst getan haben! Er wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen!« Dann hob sie ruckartig den rechten Arm. »Heil Hitler!«

      Dies schien auch Frau Metzger zu befriedigen; sie sagte kein Wort mehr. Die nationalsozialistische Propaganda hatte bei den Frauen ganze Arbeit geleistet, wie Adolf resignierend feststellen musste und er wandte sich von der Mutter ab.

      »Jetzt setz dich wieder, ich will kein Wort mehr von dir hören!«, befahl sie dem Jungen, der sofort Folge leistete.

      Gerade, als Adolf sich wieder zu seiner Schwester setzen wollte, stieß die alte Frau Vogel einen lauten Fluch aus:

      »Scheiße!«

      Alle sahen zu ihr; sie hielt ein flaches, silbern glänzendes Etui in der Hand und starrte hinein.

      »Zigaretten sind alle!«

      Dann plötzlich passierte es. Ein ohrenbetäubender Knall durchbrach die relative Stille. Der Raum wurde erschüttert, der Boden unter ihren Füßen zitterte wie bei einem Erdbeben; die kleinen Steinchen und der Dreck tanzten auf und ab. Im nächsten Augenblick gab die niedrige Kellerdecke nach. Sie sank erst einige Zentimeter ein und riss dann mit einem Krachen auf. Adolf konnte die Mutter gerade noch zur Seite ziehen, bevor sich Unmengen an Schutt in den Raum ergossen und sie von den anderen trennten. Einer der Stützbalken sauste, einem Fallbeil gleich, haarscharf an ihren Köpfen vorbei und bohrte sich in die Wand. Backsteine, Estrich, Scherben, geborstene Fliesen und sogar Möbelstücke stürzten durch die längliche Öffnung direkt in den Keller, wie die Wassermassen aus einem gebrochenen Staudamm, und teilten den Raum in zwei Hälften. Die Nische mit Frau Metzger, Frau Vogel und dem Kind wurde vom Rest abgeschnitten. Adolf hielt seinen Körper schützend über die Mutter und zog den Kopf ein. Er spürte, wie mehrmals heftig etwas gegen seinen Rücken geschleudert wurde. Ein Trümmerstück traf ihn am Hinterkopf, ein anderes prallte ihm gegen die Schulter. Er bekam kaum mehr Luft, atmete nur noch Staub.

      Das Inferno dauerte keine Minute, dann war es auch schon vorbei. Jetzt konnte man wieder die Sirene und die Geschütze hören; sogar noch deutlicher als zuvor. Adolf blinzelte vorsichtig. Und er hustete. Langsam löste er sich aus seiner Position, wobei ihm kleine Schuttbrocken von Kopf und Körper fielen. Als er aufsah, konnte er, im langsam absinkenden Staubnebel, durch die zerstörte Decke und die Reste der Hausmauer bis zur gegenüberliegenden Straßenseite schauen. Dort brannte eine Häuserzeile lichterloh. Er schluckte ehrfürchtig; so nah war er dem Krieg bisher nicht