J.P. Conrad

Mutterschmerz


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      Gerd zuckte mit den Schultern. »Ein Wanderer hätte ein totes Mädchen gefunden. Und es sei wohl kein Unfall gewesen. Das Gesicht soll ziemlich übel zugerichtet sein.«

      »Hm.« Der Anblick eines blutigen Kindergesichts formte sich vor meinem geistigen Auge, während ich den blauen Dunst der HB in Richtung Wagendach blies. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, dass meine Fantasie nicht ausreichte, um annähernd den Anblick dieses Mädchens zu beschreiben.

      Während Blume den Wagen über die wenig befahrene Straße lenkte, versuchte er sich in leichter Konversation. »Was sagen Sie denn dazu, dass Adenauer zurücktritt?«

      Ich zuckte mit den Schultern. »Dazu habe ich keine Meinung.« Tatsächlich interessierte ich mich nicht wirklich für Politik, hatte ich auch noch nie. Sie hatte noch keine zwanzig Jahre zuvor Deutschland in Schutt und Asche gelegt und sie mir dadurch auch nicht wirklich näher gebracht. »Es wird schon ein guter Mann nachrücken«, sagte ich nur gleichgültig.

      »Dieser Erhard, den die FDP seit zwei Jahren anpreist wie sauer Bier, muss mich erst noch überzeugen.«

      »Wer?«

      Blume lachte amüsiert. »Sie lesen doch jedem Morgen Zeitung und kennen sich so wenig aus?«

      »Ich lese immer nur die lokalen Nachrichten, das Feuilleton und den Sport«, erklärte ich ihm. Und das stimmte. Die Zeilen der Taunus Zeitung, früher der Rundschau, waren nur dann für mich interessant, wenn es um Dinge ging, die unmittelbar um mich herum passierten, seien sie für meine Arbeit von Interesse oder für meinen kulturellen Anspruch. Letzterer bestand für mich zu dieser Zeit überwiegend aus Beat-Musik und Kinobesuchen. Zudem las ich noch die Fußballergebnisse. Mehr brauchte ich nicht und ich hatte auch nie das Gefühl gehabt, etwas zu verpassen.

      Nach etwa zwanzig Minuten hatten wir zwei kleine Ortschaften durchfahren und die Straße ging bergauf. Ich las den Namen auf der gelben Ortstafel, die schnell an uns vorbei huschte: Rod am Berg. Links standen ein paar Häuser beisammen, welche das Dorf bildeten; rechts war alles grün von Feldern und Bäumen, soweit das Auge reichte. Die Szenerie wirkte insgesamt recht blass, was wohl an der fehlenden Sonne lag; dicke Wolken hielten ihre Strahlen weitestgehend fern.

      »Wissen Sie genau, wohin wir müssen?«, fragte ich und hielt Ausschau.

      »Ungefähr«, sagte Blume und nickte kurz darauf voraus. »Ich schätze, da sind wir richtig!«

      Er hatte Recht: Zwei Dienstwagen, ein Bulli und ein Käfer, standen an einem Abzweig, der rechter Hand in Richtung Wald führte. Unmittelbar an der Straße kickten drei Halbstarke einen Fußball hin und her. Blume lenkte unseren Wagen um sie herum auf den unebenen Weg und hielt hinter dem Käfer. Wir stiegen aus und ich setzte meinen ersten Schritt direkt in eine kleine Pfütze.

      »So eine Scheiße!«, fluchte ich leise. Ich trug die braunen Lederschuhe, die ich mir erst vor ein paar Tagen, anlässlich meines Amtsantritts, gekauft hatte. »Es wird wohl bald noch ein weiteres Unglück geben«, dachte ich bei mir im Hinblick auf die Reaktion meiner Wirtin, die sie würde säubern dürfen. Ich schaute zu den Halbstarken; allesamt sicher nicht älter als sechzehn. Sie hielten sich ganz offensichtlich nur aus reiner Neugier hier auf. Ich lief zu ihnen rüber, grüßte sie und fragte: »Habt ihr irgendwas gesehen?«

      »Wir? Nö«, antwortete einer der drei Jungen, während er den Ball seinem Kollegen zupasste. Er war der größte von ihnen, trug eine schwarze Lederjacke mit vielen Riemen, eine Jeanshose und hatte eine von Pomade glänzende Elvis-Tolle.

      Genau diese Antwort hatte ich erwartet. »Könnt ihr dann bitte woanders weiterspielen?«

      »Sind Sie Polizist?«, kam die Gegenfrage.

      »Allerdings.« Ich erntete einen kritischen Blick, der mich von oben bis unten musterte. Da es erst Viertel vor neun Uhr morgens war, fragte ich: »Habt ihr keine Schule?«

      »Ist ausgefallen«, kam die gleichgültige Antwort; sicher eine Lüge. »Sie sehen gar nicht aus, wie von der Polizei.«

      »Muss ich auch nicht.« Ich öffnete meine Jacke und ließ die Burschen einen Blick auf den Pistolenholster mit der meiner Dienstwaffe erhaschen. »Aber ich hab die hier. Und wenn ihr damit keine nähere Bekanntschaft machen wollt, rate ich euch, jetzt zu verduften.«

      Das saß. Die beiden anderen, ein schmächtiger Junge mit Akne und ein leicht kräftiger mit erstem Bartflaum unter der Nase, zerrten ihren Rädelsführer an der Jacke. »Komm, lass uns abhauen.« Murrend folgte der er seinen Freunden. Sie liefen, sich den Ball gegenseitig zupassend, an der Straße entlang und entfernten sich von Rod am Berg.

      Ich kam zu Blume zurück, den mein Auftritt sichtlich amüsiert hatte. »Gut gemacht«, lobte er. »Fast wie John Wayne.«

      Ich winkte ab. »Ach, hören Sie bloß auf!«

      »Die wollten bestimmt zum Bolzplatz«, mutmaßte er und sah ihnen hinterher.

      Jetzt gingen wir zu dem tannengrünen Polizeibus, dessen Seitentür offen stand. Auf der Sitzbank im Heck hockte ein stämmiger Mann in Anzug und Mantel. Er hatte ein ausgeprägtes Doppelkinn, fast keinen Hals und trug eine Brille mit breitem, schwarzem Gestell auf seiner dicken Nase. Er schien mir, nicht zuletzt aufgrund seiner Kleidung, gut situiert zu sein; ein Fremdkörper in dieser ländlichen Umgebung. Ihm gegenüber saß ein junger, uniformierter Beamter. Beide tranken dampfenden Kaffee aus Metallbechern. Auf dem schmalen Tisch zwischen ihnen stand eine Thermoskanne.

      Der Polizist nahm eine steife Haltung an, setzte seine Dienstmütze auf und grüßte uns. »Guten Morgen.«

      Ich erwiderte den Gruß und zeigte meine Marke. »Kampmann, Kripo Bad Homburg. Das ist mein Kollege Blume.«

      »Polizeimeister Werner von der Wache in Usingen«, stellte sich der blondgelockte Beamte, er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein, vor. »Die Leute von der SpuSi und ein Krankenwagen sind schon am Fundort«, erklärte er.

      Ich nickte registrierend, sah zu dem Mann im Anzug und dann wieder zu Werner.

      »Das ist Herr Schott«, stellte dieser sofort klar. »Er hat die Tote gefunden und uns dann telefonisch verständigt.«

      Wir gaben uns die Hand; die von Herrn Schott war, entgegnen seiner kräftigen Statur, ziemlich schlaff, was aber an seiner aktuellen Gemütsverfassung liegen konnte. Sicher hatte ihm der Anblick der Toten einen Schock versetzt.

      Auch Blume schüttelte ihm die Hand. »Guten Tag. Wie geht es Ihnen?«

      Herr Schott verzog die Mundwinkel. »Etwas flau im Magen.« Seine Stimme hatte einen tiefen Bass.

      »Danke, dass Sie sich nochmals herbemüht haben«, sagte ich. »Wir hätten Sie auch Zuhause aufsuchen können.« Das wäre mir wesentlich lieber gewesen.

      Der Mann winkte ab. »Kein Problem. Sind doch nur ein paar Meter.«

      »Demnach wohnen Sie hier in der Nähe?«

      Er zeigte grob in die Richtung des Dorfes. »Direkt hier in Rod am Berg, im Bergweg.«

      Ich deutete dem Polizisten Werner, aufzustehen. Wir tauschten die Plätze, er stellte sich neben Gerd.

      »Was haben Sie im Wald gemacht?«, wollte ich wissen. Blume zückte sofort Notizblock und Bleistift.

      »Meinen Morgenspaziergang mit dem Hund«, antwortete Herr Schott.

      »Gehen Sie jeden Morgen diese Strecke?«

      »Ja, fast immer. Eine halbe Stunde laufen, dann frühstücken.«

      »Klingt gesund«, kommentierte ich wertfrei. Und schaden konnte es ihm bei seiner Leibesfülle sicher auch nicht. Er passte gerade so in die Sitzbank hinter dem Klapptischchen.

      »Man tut, was man kann, nicht?«, erwiderte er schulterzuckend.

      »Was machen sie beruflich?«

      »Ich bin Rechtsanwalt. Für Familienrecht.«

      »So? Wo haben Sie Ihre Praxis?«

      »In