fragte er mit rauer Stimme und drehte sie behutsam um. Sie hatte eine Schnittwunde an der Stirn und war, wie er, über und über mit Staub bedeckt.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie heiser, unterbrochen vom Husten.
»Margarethe?« Er sah zu der Stelle, an der seine Schwester gehockt hatte. Genau dort lag jetzt ein zertrümmertes Schränkchen. Darunter ragten ihre Beine hervor.
»Oh mein Gott, Gretchen!« Adolf half der Mutter auf und stürzte dann sofort zu ihr. Er wühlte sich durch den Schutt wie ein Maulwurf durch den Gartenboden. Sein Herz klopfte wild, denn er fürchtete das Schlimmste. Er befreite ihren Oberkörper vom letzten Trümmerstück und hielt erschrocken inne. Margarethes Kopf war blutüberströmt, ihre Augen geschlossen. Er rüttelte sanft an ihren Schultern.
»Gretchen! Gretchen, bitte!«
Sie rührte sich nicht. Adolf fasste ihr mit Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader, doch er konnte sie nicht finden. Er hielt ihr einen Finger unter die Nase, spürte aber keinen Luftzug. Alles in ihm wehrte sich gegen die Erkenntnis, musste sich eingestehen, dass er seine Schwester verloren hatte. Er drückte ihren leblosen Körper an sich, schloss die Augen und verfluchte Hitler und alles, wofür er stand. Hinter sich hörte er die Mutter rufen:
»Hans! Hans!«
Er sah über seine Schulter und wischte sich mit dem Handrücken seine Tränen aus dem Gesicht. Die Frau griff sich, vollkommen aufgelöst, an den Kopf und starrte auf den Schutthaufen, der sich wie ein unbezwingbarer Berg vor ihr auftürmte. Adolf ließ von seiner toten Schwester ab und richtete sich schwerfällig auf. Er bemerkte, dass sein linker Fuß beim Auftreten höllisch wehtat. Er war verstaucht oder vielleicht sogar gebrochen. Aber das war jetzt egal; er würde der Frau helfen, ihren Sohn zu befreien. Es war eine Selbstverständlichkeit. Heute sollte in diesem Keller nicht noch jemand einen geliebten Menschen verlieren. Er schleppte sich zu ihr und gemeinsam begannen sie, den Schuttberg abzutragen.
»Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte die Frau leise, während sie die Trümmer beiseite räumten. »Mein Beileid wegen Ihrer Schwester.«
Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und sagte stattdessen: »Passen Sie auf, nicht dass etwas auf Sie drauf fällt!«
»Wir besuchten einen guten Freund meines Mannes im Invalidenhaus«, begann die Mutter zu erzählen. »Wir hatten erfahren, dass er als Versehrter aus Frankreich zurückgekommen sei. Hatte beide Beine und ein Auge verloren.«
Adolf schüttelte den Kopf. »Hören Sie, Sie müssen das nicht…«
Aber die Frau sprach unbeirrt weiter, während sie grub: »Er hat uns erzählt, was mein Mann getan hatte. Er hatte sich von seiner Division entfernt, war einfach weggelaufen. Er hatte seinem Freund gesagt, er würde auf der falschen Seite kämpfen. Hans und ich konnten es nicht glauben. Es hat uns so sehr beschämt.«
Adolf sah aus den Augenwinkeln die neuerlichen Zornesfalten auf ihrer vom Schweiß glänzenden Stirn.
»Und was tut dieser Nichtsnutz? Er erzählt es den Nachbarn.«
»Wie alt ist ihr Sohn?«, fragte Adolf.
»Acht.«
»Wie können Sie von einem achtjährigen Kind erwarten, dass es solche Erlebnisse ohne weiteres verarbeiten kann?«
Die Mutter hielt kurz inne und sah ihn verständnislos an. »Ich kann das erwarten, weil er mein Sohn ist!«
Adolf fiel dazu nichts mehr ein und er schwieg.
Minuten verstrichen. Beide schufteten am Rande der Erschöpfung. Dann stieß Adolf plötzlich auf einen Hohlraum.
»Ich glaube, wir haben es gleich geschafft«, verkündete er angestrengt und reckte den Kopf. Er konnte die Mauer und die Kartoffelkiste sehen. »Hallo? Hans? Frau Metzger? Frau Vogel?« Er bekam keine Antwort.
»Sie sind tot, ganz bestimmt sind sie tot!«, sagte die Mutter leise vor sich hin, während sie weiter schuftete. Kurz darauf verkündete sie aufgeregt: »Da ist Frau Vogel!« und stockte abrupt.
Adolf räumte den letzten Schutt beiseite und konnte sie nun auch sehen. Er stieg über die Trümmer am Boden und richtete sie vorsichtig auf. Die alte Frau war zweifelsohne tot; ein langer, keilförmiger Glassplitter ragte aus ihrem faltigen Hals heraus. Die Mutter schlug entsetzt die Hände vor den Mund; allerdings nicht wegen des grausigen Anblicks: Direkt neben ihr lag Frau Metzger; sie hielt den Jungen umklammert, hatte ihn offenbar mit ihrem Körper beschützt. Adolf rüttelte an ihrer Schulter, sagte ihren Namen. Doch sie reagierte nicht. Er beugte langsam ihren Oberkörper zurück und erschrak. Auch die Mutter stieß einen entsetzten Schrei aus. Da war so viel Blut; der Kopf und der Rücken des Jungen waren fast vollkommen bedeckt davon. Adolf fragte sich unwillkürlich, wie er so schwer verletzt worden sein konnte. Vorsichtig befreite er ihn aus den Armen von Frau Metzger. Er lag mit dem Kopf auf ihrem Schoß, die Hände unter seiner Brust, die Beine angewinkelt. Beinahe wie zu einem Gebet.
»Hans?« Die Mutter fiel auf die Knie, wollte ihn an sich drücken.
»Passen Sie auf! Er könnte innerlich verletzt sein«, mahnte Adolf.
Die Mutter zuckte zurück. In diesem Moment bewegte sich der Junge. Er stöhnte leise. Vorsichtig richtete Adolf ihn auf. Seine Augen waren geschlossen., das Gesicht schien unversehrt. Adolf hob ihn behutsam von Frau Metzger herunter und lehnte ihn gegen die Wand. Er hatte keine Ahnung, ob es das Richtige war; mit erster Hilfe und dergleichen kannte er sich kaum aus. Aber schließlich konnte das Kind ja nicht im Schoß einer Toten liegen bleiben. Und Frau Metzger war tot, wie man jetzt deutlich sehen konnte. Adolf stutzte, als er die vermeintliche Todesursache und den Ursprung des vielen Blutes sah: Die Frau war weder erschlagen worden, noch war sie erstickt. Ihr Hals wies eine tiefe, horizontale Schnittwunde auf. Ihre Kehle war durchgeschnitten worden. Etwas klirrte und Adolf sah eine weitere Glasscherbe; sie war dem Jungen im Moment aus der Hand gefallen. Der schlug die Augen auf und sah seine Mutter an.
»Ich habe es für dich getan, Mama!«, flüsterte er leise.
Kapitel 1
Ich schaute gedankenversunken aus dem Fenster im Arbeitszimmer auf die mächtige, alte Eiche in unserem Garten. Ihre goldenen und braunroten Blätter, die sich mit letzter Kraft an den Ästen hielten, wiegten sanft im Wind. Die morgendliche Sonne schob sich langsam von links ins Bild und unterstrich noch das Strahlen der herbstlichen Farbpalette.
Ich ließ mich für einen Moment von diesem beinahe poetischen Naturschauspiel gefangen nehmen, dann wanderte mein Blick zurück auf die Schreibmaschine, die vor mir am Arbeitsplatz stand. Ein Blatt Papier war eingespannt, dessen makelloses Weiß mich bereits seit fast einer halben Stunde provozierte, endlich mit der Arbeit anzufangen. Ich würde ihm nun endlich nachgeben. Es gab jetzt ohnehin kein Zurück mehr, denn ich hatte mir fest vorgenommen, heute damit zu beginnen, die Ereignisse aus dem Jahr 1963 aufzuschreiben. Den Herbst und Winter wollte ich dazu nutzen, dieses, ohne Zweifel, erschreckendste Kapitel meines - unseres - Lebens niederzuschreiben. Lange hatte ich mich davor gefürchtet, mir alles wieder ins Gedächtnis zu rufen und die Abschriften der Akten von damals sowie auch die persönlichen Aufzeichnungen der wichtigsten Beteiligten zu öffnen. Dabei war ich nicht einmal so sehr um mein eigenes Seelenheil besorgt; das war schon viel früher aus dem Gleichgewicht geraten und hat mich seitdem in dieser Schieflage begleitet. Aber erst jetzt, mit weit über siebzig, konnte ich mich dazu aufraffen, mir alles von der Seele zu schreiben. Vielleicht als eine Art späte Therapie. Vielleicht aber auch, weil mir die Zeit davon lief. Wenn ich es nicht bald fertigbrachte, das Erlebte für die Nachwelt festzuhalten, würde es für immer verloren sein. Es wäre sicher kein großer Verlust für die Menschheit und die Erde würde sich auch ohne diese Geschichte weiter drehen. Aber ich hatte es Lieselotte, meiner Frau, versprochen. Und ich hielt meine Versprechen. Immer. Ich fühlte mit den Fingern über die Narbe auf meinem rechten Handrücken; eines der Zeugnisse von damals, das mir, neben den Erinnerungen, geblieben war.
Es klopfte zaghaft an der Tür. Sie war nur angelehnt und Lilo schob sie etwas weiter auf. »Ich gehe jetzt einkaufen.