J.P. Conrad

Mutterschmerz


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den Kopf. »Nur zwei Rehe.«

      Aus den Augenwinkeln kontrollierte ich, dass Blume auch alles schön mitnotierte, was er natürlich tat. »Wann genau haben Sie das Mädchen gefunden?«, fragte ich Schott als Nächstes.

      »Es war kurz vor acht, als ich Zuhause ankam, um die Polizei zu rufen«, antwortete er sofort, ohne zu überlegen. »Davon müssen Sie noch die etwa fünfzehn Minuten abziehen, die ich vom Fundort nach Hause gebraucht habe.«

      »Also circa zwanzig vor acht?«, rechnete ich aus. Zudem überlegte ich mir, was das für ein bequemes Leben als Rechtsanwalt sein musste, wenn man erst so spät zur Arbeit gehen brauchte. Aber ich enthielt mich eines Kommentars dazu.

      Schott nickte. »Ja, das dürfte hinkommen.«

      Ich bat ihn nun, zu erzählen, wie er das Mädchen vorgefunden hatte.

      Er schluckte, seine Miene wurde ernst. Mit den Fingern fuhr er sich angestrengt durch die dünnen Haarsträhnen, die über den beinahe kahlen Schädel gekämmt lagen. »Kein schöner Anblick«, erklärte er. »Ein Glück, dass ich noch nicht gefrühstückt hatte. Bin ja jetzt noch nüchtern, bekomme wohl heute sicher keinen Bissen runter. Wenn ich daran nur denke. Ich habe selbst eine Tochter, wissen Sie. Sie ist achtzehn und verlobt sich kommendes Wochenende.« Er erzählte mir das mit einem gewissen Stolz, allerdings vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen.

      »Herzlichen Glückwunsch«, entgegnete ich, während meine Ungeduld wuchs. Ich wollte zum Tatort. Es war wie bei einer Cocktailparty, auf der sich schon alle amüsierten, während man selbst als letzter eintrudelte. »Aber bitte, Sie waren dabei, uns zu erzählen, wie Sie das Opfer gefunden haben.

      »Natürlich, Verzeihung.« Schott machte eine entschuldigende Geste. »Ich lief ganz normal den Weg entlang, wie immer. Wir gehen jeden Morgen die gleiche Strecke.«

      »Wir?«

      »Na, ich und Bravo, mein Schäferhund«, klärte er mich auf. »Jedenfalls waren wir unterwegs, als ich auf der Lichtung, bei der Bank, jemanden liegen sah. Ein junges Mädchen. Überall war Blut. Und der Kopf…«

      Ich nickte verstehend. »Es war sonst niemand da?«

      »Nein, keine Menschenseele.«

      »Haben Sie das Mädchen zufällig erkannt?«

      Ich las aus dem Gesichtsausdruck meines Gegenübers, dass er mit dieser Frage gerechnet hatte. »Nein, ich denke nicht. Allerdings konnte ich ja ihr Gesicht nicht wirklich erkennen.« Die Stimme des Mannes war nun merklich rauer. »Ich hatte natürlich überlegt, wessen Kind es sein könnte. Hier im Ort kennt ja praktisch jeder jeden.« Er schüttelte den Kopf. »Aber mir ist niemand eingefallen.«

      »Um die Identifizierung kümmern wir uns umgehend«, erklärte Blume sachlich.

      »Was haben Sie dann getan?«, fuhr ich mit der Befragung fort.

      »Ich lief wie der Teufel nach Hause und habe die Polizei verständigt. Dann habe ich einen großen Cognac getrunken auf den Schreck«, antwortete der Mann leise; es schien ihm fast peinlich. Aber ich hatte Verständnis, auch wenn er demnach in einem Punkt zuvor gelogen hatte: Er war keineswegs mehr nüchtern.

      »Anschließend habe ich hin und her überlegt, was ich tun sollte. In die Kanzlei fahren wollte ich nicht, ich hätte mich sicher nur schwer auf die Arbeit konzentrieren können. Also habe ich meinen Gehilfen angerufen und ihm gesagt, dass ich heute später käme. Dann bin ich wieder hierhergekommen und habe auf die Polizei gewartet.«

      »Herr Schott war so freundlich, uns an die Fundstelle zu führen«, erklärte Polizeimeister Werner und der Anwalt ergänzte: »Kann man nur schwer erklären, wenn man das Gelände hier nicht kennt.«

      »Ich verstehe. Vielen Dank für Ihre Unterstützung.« Er hatte für mich mit allem, was er gesagt hatte, glaubwürdig geklungen und ich sah keinen Grund, eine seiner Aussagen in Zweifel zu ziehen. Aber ich wusste auch, dass er Rechtsanwalt war; jemand, der durchaus ein Talent zum Lügen und zur Manipulation haben musste. Zudem war er natürlich unser erster Tatverdächtiger. Mein Bauch sagte mir, dass ich ihn wiedersehen würde.

      Ich reichte Herrn Schott die Hand und erklärte: »Mehr Fragen habe ich im Moment nicht an Sie.« Dann kletterte ich aus dem Wagen. »Ihre Adresse haben wir?« Ich sah zu dem Polizisten; er nickte. Blume ließ sie sich sogleich von ihm geben.

      »Ach, Herr Kommissar«, meldete sich Schott zu Wort, während er sich seinen Homburger aufsetzte und ebenfalls aus dem Bulli kletterte. »Ein kleiner Tipp: Dort, die Straße runter, gleich neben dem Dorfgemeinschaftshaus, ist die Schule von Rod am Berg.« Er deutete nach links, wo die Landstraße die Anhöhe wieder hinunter führte; in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Wenn das Mädchen hier aus dem Ort stammt, wird sie sicher auch hier zur Schule gegangen sein. Fragen Sie doch dort, ob heute ein Kind fehlt.«

      Seine Hilfestellung nötigte mir ein Lächeln ab. »Danke für die Information!« Dann verabschiedete ich mich. Als ich mich umblickte, erspähte ich zwei uniformierte Beamte, die mit verschränkten Armen direkt am Waldrand standen und sich unterhielten. Ich kannte sie nicht, sie mussten wohl ebenfalls von der Wache in Usingen sein. Sie nahmen sofort Haltung an, als Gerd und ich auf sie zu schritten. Wir stellten uns ihnen vor.

      »Morgen. Polizeimeister Gregor und Meier«, erwiderte der kleinere der beiden Beamten.

      »Sie sichern hier den Tatort?«, fragte Blume.

      Meier nickte. »Ja. Allerdings sollten sie besser den Wagen nehmen, es ist noch ein ganzes Stück durch den Wald bis zu der Lichtung.« Er schielte auf unsere Schuhe.

      Ich brummte verstehend und schaute den Weg entlang, der in den Wald führte. Er war durch den Regen der letzten Tage ziemlich aufgeweicht. Die frischen Reifenspuren waren entsprechend tief.

      »Wie weit ist es zu Fuß?«, fragte ich.

      »Na ja, sicher so zehn Minuten.«

      »Na schön. Gerd, holen Sie den Wagen!«

      Mein Assistent eilte davon; kurz darauf hielt der Opel neben mir und ich stieg wieder ein. Blume kurbelte das Fenster runter.

      »Wo müssen wir denn genau lang?«, fragte er die Polizisten.

      »Folgen Sie einfach den Reifenspuren, Gerd«, kam ich ihm ungeduldig mit der Antwort zuvor. Er schloss das Fenster wieder und gab vorsichtig Gas.

      »Macht überhaupt keinen Sinn, bei diesem Wetter den Wagen zu waschen«, brummte er, während er uns durch den seichten Matsch lenkte. »Gestern gewaschen und dann so was!«

      »Ruhig blieben, Gerd«, sagte ich. »Sie mussten das ja nicht selbst tun.« Dann fragte ich ihn nach seiner Meinung zu Herrn Schott.

      »Starke Persönlichkeit. Autoritätsperson. Ich kann mir vorstellen, dass er als Anwalt im Gerichtssaal einiges reißen kann.«

      Das deckte sich ziemlich genau mit meiner eigenen Wahrnehmung. Wir folgten den parallel verlaufenden Reifenspuren und kamen nach knapp zwei Minuten an eine Lichtung. Dort stießen wir auf ein weiteres Einsatzfahrzeug, eine Ambulanz und den grauen Kastenwagen der Spurensicherung. Mehrere Personen standen um einen Punkt herum. Meine Füße wurden wieder unruhig; die Cocktailparty war in vollem Gange. Gerd stoppte den Wagen und wir stiegen aus. Sofort fielen mir die Reifenabdrücke im lehmigen Boden auf, die noch weiter den Pfad entlang verliefen, bis sie sich hinter einer Kuppe verloren. Ich fragte mich, ob sie von einem unserer Wagen stammten. Wir gingen direkt hinüber zu einem schmalen Weg, der nicht viel mehr als ein Trampelpfad war. Ein Polizist, der uns erspäht gesehen hatte, kam mit erhobener Hand auf uns zu.

      »Entschuldigung, Sie können hier nicht…«

      Ich zeigte ihm meine Marke und somit, dass ich sehr wohl konnte und auch musste. Er wich katzbuckelnd zur Seite und wir gingen weiter. Nach wenigen Metern, auf der Höhe einer alten, halb verrotteten Sitzbank, blieb ich stehen. Ich folgte den Blicken der umstehenden Personen und sah zu Boden. Ein Mann in einem dunkelbraun karierten Anzug und mit Hut hockte dort und beugte sich über etwas. Besser jemanden.