J.P. Conrad

Mutterschmerz


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und weiße Kniestrümpfe. Die Beine selbst waren bis zu den Knien mit einem grauen Rock bedeckt.

      Ich räusperte mich und alle fuhren herum. Erneut zeigte ich meine Dienstmarke und schwenkte sie in die Runde. »Kampmann, Kripo Bad Homburg.«

      Als der etwa fünfzigjährige Mann am Boden sich umdrehte, identifizierte ich ihn anhand des Stethoskops um den Hals, als Mediziner.

      Seine Miene erhellte sich sogleich. »Ah, der Neue!« Er stand mit einem Ächzen schwerfällig auf und wollte meine Hand schütteln. Aber ich verschränkte die Arme demonstrativ hinter dem Rücken. Er hatte gerade eine Tote angefasst; da mochte ich nicht unmittelbar der Nächste sein. Er verstand auch sofort und lächelte verkrampft. »Morgen. Gut ist er weniger. Ich bin Doktor Schenker.« Ich kannte ihn dem Namen nach, er war der Polizeiarzt. Ich nickte ihm zur Begrüßung zu. Jetzt konnte ich den Rest des Mädchens sehen. Meine Augen wanderten über ihren Rock zu einer weißen Strickjacke. Sie hatte unregelmäßige, rote Sprenkel. Blut. Dann folgte ihr Kopf; oder besser das, was davon übrig war.

      »Scheiße«, fluchte ich, kaum hörbar für die anderen. Ich spürte Blumes Atem in meinem Nacken. Er schaute mir über die Schulter und drehte sich dann schnell weg. Ich hörte ein Würgen.

      »Wenn sie kotzen müssen, Gerd, dann bitte so weit weg von hier, wie möglich!«, sagte ich trocken und ging dann vor der Leiche in die Hocke. Ich betrachtete mir den zertrümmerten Schädel des Mädchens. Jemand musste mehrfach und mit ungeheurer Wucht auf ihn eingeschlagen haben. Dort, wo bis vor kurzem noch ein unschuldiges Kindergesicht gewesen war, befand sich jetzt nur noch eine rote, fleischige Masse mit daraus herausragenden Knochensplittern. Die langen, blonden Haare wirkten vom Stirnsatz her, als hätte man das Kind wie einen Pinsel in rote Farbe getaucht. Welcher Akt der Grausamkeit musste sich hier abgespielt haben? Es fehlte mir ehrlich an Vorstellungskraft, den Tathergang in meinem Kopf nachzuspielen. Es war ein kleines Kind gewesen; kein Raufbold, Mörder oder Vergewaltiger, der hier zur Strecke gebracht worden war. Nur ein Kind. Was konnte dieses junge Mädchen verbrochen haben, um einen solchen Hass auf sich zu ziehen? Ich fand keine Antwort; nicht einmal eine schnelle Theorie.

      Mein nächster Blick verriet mir, was die Tatwaffe gewesen sein musste: Keine zwei Meter entfernt von ihrem Körper lag ein Steinbrocken; er war auf einer Seite ebenfalls mit Blut überzogen.

      »Massive Gewalteinwirkung mit einem Stein«, sagte Doktor Schenker auch sofort. »Da war einer richtig sauer auf die Kleine. So wie ich das sehe, muss er annähernd zwanzig Mal auf sie eingeschlagen haben.«

      Blume würgte irgendwo in der Ferne sein Frühstück ins Grüne. Ich stand auf, trat vorsichtig um die Leiche herum, zu dem Stein. Jeder Schritt von mir war sorgfältig gewählt, um keine der vorhandenen Fußspuren zu verwischen.

      »Habt ihr das alles schon fotografiert?«, fragte ich sicherheitshalber und schaute zum Polizeifotografen, den ich bereits vor ein paar Tagen kennengelernt hatte, dessen Name mir in diesem Moment aber nicht einfallen wollte.

      Er bejahte. »Alles drauf. Wenn Sie noch besondere Wünsche haben…?«

      Ich deutete ihm mit der Hand, sich bereit zu halten, und schaute wieder zu dem Stein. Neben dem Brocken, der etwa so groß war, wie eine Kokosnuss, lagen noch mehrere kleine Splitter, die ebenfalls rote Flecken aufwiesen. Der Schädel des Mädchens hatte offenbar nicht so schnell nachgegeben.

      »Wie lange ist sie schon tot?«, fragte ich, ohne aufzusehen.

      Der Doktor brummte nachdenklich. »Schwer zu sagen. Aber sicher nicht länger als ein paar Stunden.«

      Ich schob den Jackenärmel hoch und sah auf meine Armbanduhr. Es war halb zehn. Wie viel waren ein paar Stunden? Das Mädchen trug normale Kleidung, die dem Herbstwetter angemessen war; eigentlich sogar etwas zu luftig für meinen Geschmack. Sicher war sie nicht mitten in der Nacht unterwegs gewesen und für den vergangenen Tag war das Blut noch zu frisch. Also schätzte ich, dass sie nicht vor sechs Uhr morgens hier ihr Ende gefunden hatte. Hier…

      »Halten Sie das hier für den Tatort?«, fragte ich Doktor Schenker und drehte mich jetzt zu ihm.

      »Unbedingt.«

      »Ja, ganz sicher«, meldete sich nun Betzdorf, der Leiter der Spurensicherung. »So wie die Steine da liegen und dann das Blut auf dem Boden, würde ich nichts anderes vermuten. Die Spuren deuten auch nicht darauf hin, dass sie getragen oder hierher geschleift worden ist.«

      »Also war sie noch am Leben, als ihr das hier zugestoßen ist«, schloss ich daraus.

      Schenker und Betzdorf sahen sich an. »Um absolut sicher zu sein, muss ich sie bei mir auf dem Tisch haben«, sagte der Arzt. »Es ist aber davon auszugehen.«

      Ich stand auf und schaute mir den Tatort noch einmal im Ganzen an. »Haben Sie denn Schuhabdrücke isolieren können?«

      Betzdorf bejahte. »Die von dem Mädchen, zwei Männern und einem Hund, vermutlich ein Schäferhund oder so.«

      »Ja, ein Schäferhund. Er gehört Herrn Schott, der sie gefunden hat«, klärte ich ihn auf.

      »Ah, so. Jedenfalls, diese Fußabdrücke mit tiefem Profil, etwa Größe sechsundvierzig, kamen nur bis auf ein paar Meter heran, der Hund ist mal im Kreis um das Kind herum gelaufen und hat…« Er räusperte sich. »Wohl an dem Stein geleckt.«

      Ich stellte mir das Ganze bildlich vor, sah vor mir den Anwalt aus unserer Richtung kommen und das Mädchen dort finden. Leblos und blutüberströmt. Das verlangte in der Tat nach etwas stark Alkoholhaltigem; ich konnte den Mann jetzt besser verstehen.

      »Was ist mit der dritten Spur?«, wollte ich wissen.

      Betzdorf verzog abschätzend das Gesicht. »Vermutlich Gummistiefel, ungefähr Größe vierundvierzig.«

      Diese Abdrücke und die des Mädchens konnte ich nun aus dem nassen Boden lesen.

      »Die Kleine muss irgendwo von da gekommen sein.« Betzdorf deutete zu einem weiteren schmalen Pfad, welcher der Richtung, aus der wir gekommen waren, entgegengesetzt lag. »Und unser großer Unbekannter hatte vermutlich einen fahrbaren Untersatz. Seine Abdrücke finden sich nur bis etwa fünf Meter um diese Stelle hier herum. Er kam von dem Feldweg.«

      »Haben Sie die zusätzlichen Reifenspuren bemerkt?«, fragte ich.

      »Ja, ist alles schon fotografiert.«

      Abermals schaute ich mir die Kinderleiche an. »Wissen wir, wer sie war?« Die Anwesenden schüttelten den Kopf.

      »Sie hatte nichts bei sich, das uns darüber Aufschluss gibt«, erklärte Betzdorf nüchtern. »Lediglich einen Hausschlüssel und ein paar Bonbons in ihrer Jackentasche. Himbeergeschmack.«

      »Wenn sie hier aus Rod am Berg war, werden wir das rasch klären können«, meinte einer der beiden Polizisten; er war etwa in meinem Alter und sprach in tiefstem hessisch.

      Ich stimmte ihm zu; in so einem kleinen Ort fiel ein vermisstes Mädchen sicher schnell auf. Nun wandte ich mich an den Tatortfotografen, dessen Name mir inzwischen auf der Zunge lag. »Haben Sie auch Bilder mit der Sofortbildkamera gemacht?«

      »Ja. Einen Moment!« Er drehte sich um und lief mit schnellen Schritten zum Wagen, wobei seine schulterlangen braunen Haare hin und her flogen. Kurz darauf kam er mit einem länglichen Papierumschlag zurück und reichte ihn mir. Ich ließ die Fotos daraus zwischen meine Finger gleiten. Und ich staunte. »In Farbe? Meine Güte!«

      »Seit etwa einem Monat haben wir die neuen Filme«, erklärte der Kollege mit vor Stolz geschwellter Brust. »Nicht schlecht, oder?«

      In der Tat, das war es. Das tote Mädchen mit dem zertrümmerten Schädel war auf dem Foto in voller Farbenpracht, und dementsprechend detailgetreu, zu sehen.

      Ein lauter Knall durchbrach die Stille und ließ uns zusammenzucken. Wir schauten uns um und sahen in einiger Entfernung ein paar Vögel, die aus den Bäumen gen Himmel flogen. Das Geräusch war unverkennbar das eines Schusses gewesen.

      Kapitel 5