J.P. Conrad

Mutterschmerz


Скачать книгу

Sie hatte gleichmäßige, weiche Gesichtszüge und strahlend grüne Augen, die mir allerdings leicht gerötet schienen. Ich fand, dass sie eine natürliche Schönheit besaß, die keinerlei Kosmetik bedurfte, um sie zur Geltung zu bringen. Ihre dunkelblonden Haare trug sie in einem strengen Dutt. Die ihrer Stellung angemessene, aber modische Kleidung bestand aus einem weißen Rollkragenpulli, einer bordeauxroten Strickjacke und einem schwarzweiß karierten Rock. Als Schulkind wäre sie für mich Engel und Teufel in einer Person gewesen.

      Bevor ich ihr antwortete, ließ ich kurz meinen Blick durch den Raum schweifen. Ich erspähte drei leere Stühle.

      »Ich hätte gerne gewusst, ob heute zufällig jemand aus Ihrer Klasse fehlt. Ein Mädchen.«

      Fräulein Schneider ahnte offenbar sofort, dass ich kein Glücksbote war. Sie wurde merklich blass und nickte dann. »Ja. Elke Lenz. Ist was passiert?«

      Ich trat noch einen Schritt auf sie zu und flüsterte: »Es hat heute Morgen ein Unglück gegeben. Ein Mädchen, das noch nicht identifiziert werden konnte, wurde im Wald, nicht weit von hier, tot aufgefunden.« Die Fotos in meiner Brusttasche wollte ich ihr ersparen, sofern es auch anders ging.

      Fräulein Schneider legte eine Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott, wie schrecklich.«

      Im Hintergrund entstand ein Murmeln, das stetig lauter wurde. Die Lehrerin klopfte auf die Platte ihres Pults.

      »Kinder, verhaltet euch bitte ruhig! Versucht, die Aufgabe an der Tafel zu lösen. Und bitte jeder für sich! Die anderen lesen weiter im Buch!«, sagte sie in autoritärem Ton. Dann wandte sie sich wieder mir zu. »Wie ist das passiert?«

      »Das wissen wir noch nicht«, log ich. »Zunächst müssen wir herausfinden, um wen es sich bei der Toten handelt. Sie sagten, dass diese Elke heute fehlt?«

      Fräulein Schneider schaute zweifelnd. »Ja, aber sie kann es, denke ich, nicht sein. Ihr Vater hat sie heute Morgen extra persönlich entschuldigt. Elke hat die Grippe.«

      »Ach so.« Das wäre ja auch zu einfach gewesen. Es sei denn, Elkes Vater hatte seine Tochter umgebracht; aber das glaubte ich nicht; nicht nachdem ich Emil Klotz kennengelernt hatte. Noch einmal schaute ich mich im Klassenzimmer um. Die Kinder hatten ihre Köpfe gesenkt und ein paar brüteten über der Rechenaufgabe. Andere, die schon etwas älter waren, lasen in ihren Büchern.

      »Fehlt heute sonst noch jemand?«

      »Nur Karl-Uwe Faulstroh«, antwortete die Lehrerin leise, ihre Finger, von Unbehagen getrieben, vor sich knetend. »Aber schon die ganze Woche. Der hat Ziegenpeter.«

      »Sie kennen alle Kinder hier im Ort?«

      »Alle Schulpflichtigen, ja. Also alle, die mindestens sechs Jahre alt sind.«

      »Gibt es auch Kinder aus Rod am Berg, die nicht auf Ihre Schule gehen?«

      Die Lehrerin musste kurz überlegen. »Ich glaube, nur Christa Schott. Sie bekommt Privatunterricht, soviel ich weiß.«

      »Schott?«, hakte ich nach. »Verwandt mit dem Rechtsanwalt Schott?«

      »Ja, sie ist seine Nichte.«

      Meine Hand zuckte schon, um die Tüte mit den Fotos aus meiner Jackentasche zu ziehen. »Wissen Sie, wie alt das Mädchen ist?«

      Fräulein Schneider antwortete prompt: »Sie ist letzten Monat achtzehn geworden. Ihr Vater hatte eine Anzeige in die Zeitung gesetzt.«

      »Aha.« Sie konnte es also auch nicht sein; das tote Mädchen war wesentlich jünger. »Sie unterrichten mehrere Jahrgänge gleichzeitig, oder?«, fragte ich jetzt, um die Frau ein wenig abzulenken. Sie bejahe.

      Ich schaute mir die bunt gewürfelte Truppe aus Mädchen und Jungen, alle etwa im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren, an und vermutete: »Ist sicher sehr anstrengend?«

      Ein Lächeln huschte über ihr, durch meine Präsenz und die schlimme Nachricht, versteinertes Gesicht. »Natürlich auch mal, ja. Aber Lehrerin zu sein, war immer das, was ich wollte, also werde ich mich nicht beschweren. Außerdem sind die Kinder alles in allem, ihrem Alter entsprechend, diszipliniert. Die Eltern hier auf dem Land legen noch etwas mehr Autorität in ihre Erziehung, wie es sonst heute mancherorts üblich ist.«

      »Autorität und Disziplin sind ja auch nichts Schlechtes. Solange keine Hilfsmittel wie der Rohrstock nötig sind, um sie durchzusetzen.« Mit Unbehagen dachte ich dabei an meine eigenen Begegnungen mit dem Prügelstock unseres alten Schullehrers. Er war, ganz im Gegensatz zu meinen Eltern und insbesondere meinem Vater, sehr auf Disziplin bedacht gewesen.

      »Diese antiquierten Methoden gibt es heute zum Glück nicht mehr«, entgegnete Fräulein Schneider despektierlich. »Zumindest an den Schulen. Wie es Zuhause aussieht, weiß man ja nicht.«

      Ich stimmte ihr kopfnickend zu. »Leider wahr.« In meiner bisherigen, kriminologischen Laufbahn hatte ich des Öfteren mit häuslicher Gewalt, auch gegen Kinder, zu tun gehabt. Und der Rohrstock war oftmals nur das geringere Übel körperlicher Züchtigung gewesen.

      »In Ordnung, dann will ich Sie auch nicht weiter stören«, sagte ich und war nun geistig schon wieder auf dem Sprung. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

      »Gern geschehen.«

      Ich sah sie noch einmal eindringlich an. »Und bitte: Behandeln Sie unser Gespräch vertraulich. Die Leute im Dorf müssen von dem Vorfall nichts wissen; vorläufig zumindest.«

      »Natürlich«, versprach sie mit ernster Miene.

      Beim Hinausgehen rief ich noch »Auf Wiedersehen, Kinder!« in die Runde, was mir, wie aus einem Mund, mit einem »Auf Wiedersehen« erwidert wurde.

      Als ich ins Freie trat, wollte ich einmal tief durchatmen und die eher trocken-warme Luft des Klassenzimmers in meinen Atemwegen durch frische austauschen. Doch ich kam nicht dazu. Mein Blick fiel geradewegs auf den Streifenwagen, der in diesem Moment mit quietschenden Reifen hinter dem Opel hielt. Das Blaulicht rotierte stumm auf dem Wagendach. Gerd Blume sprang heraus und stürzte auf mich zu.

      Kapitel 7

      »Was ist los?«, fragte ich meinen Assistenten, überrascht, ob seines unverhofften Auftauchens.

      »Es kam eine Nachricht über Funk. In Arnsbach brennt ein Haus«, erklärte er außer Atem, als wir am Tor zum Schulgelände zusammentrafen.

      »Und? Wir sind nicht die Feuerwehr!«

      »Es hieß, die Nachbarn hätten gesagt, in dem Haus würde eine Frau mit ihrer etwa zwölf Jahre alten Tochter wohnen.«

      »Hm.« Das war eine Möglichkeit, auch wenn ich den Erfolg zu diesem Zeitpunkt eher gering einschätzte. »Was ist mit Klotz?«, fragte ich.

      »Wurde in Gewahrsam genommen. Er kommt nach Homburg.«

      »Gut, der läuft uns also nicht weg. Dann fahren wir nach Arnsbach«, beschloss ich.

      Blume gab dem Beamten im Streifenwagen ein Zeichen, dass er nicht mehr gebraucht wurde. Dann stiegen wir in unseren Opel; Gerd setzte sich ans Steuer, wie üblich. Ich hatte kaum die Tür geschlossen, da gab er auch schon Gas.

      »Was für ein Zufall, dass Sie diese Information erhalten haben«, sagte ich grübelnd.

      »Von dem Brand?«

      »Nein, dem Mädchen, das in dem Haus wohnt«, erläuterte ich ihm meinen Gedankengang.

      Er verstand und klärte mich sogleich auf: »POM Förster von der Einsatzzentrale hat die Nachricht von den Beamten vor Ort erhalten und an uns weitergeleitet.«

      »Verstehe. Gut mitgedacht.« Ich war erfreut darüber, dass die Kommunikation und auch das vernetzte Denken an und mit meiner Dienststelle offenbar glänzend funktionierten. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass ich mich als Neuer in diesem eingespielten Team erst noch beweisen musste. Es galt also, jetzt keine Fehler zu machen.

      Ich beobachtete die herbstliche Landschaft aus Feldern und Äckern,