J.P. Conrad

Mutterschmerz


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Die uniformierten Beamten stürmten los, die Hände an den Griffen der Pistolen an ihren Gürteln.

      Blume kam wieder zu uns und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein Gesicht war aschfahl.

      »Geht’s besser?«, fragte ich und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er bejahte, peinlich berührt, und warf erneut einen vorsichtigen Blick auf das Mädchen. Dann schüttelte er den Kopf.

      »Wer macht so was?«

      »Werden wir rausfinden«, entgegnete ich knapp, zeigte ihm kurz die Fotos und steckte sie zurück in das Kuvert. Dieses ließ ich dann in der Innentasche meiner Jacke verschwinden.

      Nach ein paar Minuten kamen die beiden Polizisten wieder zu uns auf die Lichtung. Sie flankierten einen Mann, und hielten ihn an den Armen fest. Einer der Beamten trug zudem ein Gewehr am Riemen über seiner Schulter. Der Jäger, oder, dem Aussehen nach, eher Wilderer, war schätzungsweise sechzig Jahre alt. Er hatte einen ungepflegten, grauen Bart mit gelblichen Verfärbungen über dem Mund. Seine Kleidung bestand aus schlammbespritzten Stiefeln, einer durchgewetzten, dunkelbraunen Cordhose und einer dicken, kleinkarierte Stoffjacke mit einer ausgerissenen Brusttasche. Auf dem Kopf trug er eine braune Schiebermütze mit ausgeklappten Ohrwärmern.

      Ich schritt auf ihn zu. »Wer sind Sie?«

      »Emil«, kam die knappe Antwort. Dabei bekam ich seine gelben Zähne zu sehen.

      »Und weiter? Nachname?«, brummte ich ungeduldig.

      »Klotz. Aber mich nennen alle nur den Einsiedler-Emil.« Der Mann war ohne Zweifel sauer.

      »Sie jagen hier im Wald?«

      Er reagierte erst mit einem herausgepressten »Ja«, als ihm einer der Beamten einen sanften Schubs in die Rippen gab.

      »Er hat keinen Jagdschein«, erklärte der Polizist, der das Gewehr um seine Schulter hängen hatte. Er reichte es mir auf mein Zeichen hin. Es war ein wenig gepflegtes Stück von Steyr Mannlicher; sicher schon an die zwanzig Jahre alt.

      »Dass das verboten ist, wissen Sie, nehme ich an?«, fragte ich. »Wo wohnen Sie?«

      Wieder war ein kleiner physischer Anreiz nötig, bis er antwortete. »Da hinten hab ich meine Hütte.« Er nickte voraus. Ich konnte aber außer ein paar hohen Büschen auf der Lichtung nichts erkennen.

      »Was ist denn überhaupt los, zum Teufel?« Emil Klotz schielte an mir vorbei auf die umstehenden Personen und die Einsatzfahrzeuge.

      »Hier wurde ein Verbrechen verübt«, erklärte ich und fragte ihn auch direkt: »Sie haben nicht zufällig heute im Laufe des Morgens jemanden hier im Wald gesehen?«

      Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Nein, niemanden. Und das ist mir auch ganz Recht so.«

      Ich sah ihn aus dünnen Augenschlitzen an. »Wo waren Sie zwischen sechs und acht Uhr heute Morgen?«

      »Jagen. Dort, bei Hunoldstal.« Er winkte mit seiner knochigen Hand an dem Polizisten zu seiner Rechten vorbei.

      Ich wandte mich zu Blume um, der mich sogleich aufklärte: »Gehört zu Schmitten, sind ein paar hundert Meter durch den Wald.«

      Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war zehn. »Sie sind also seit über vier Stunden unterwegs?«, stellte ich zweifelnd fest.

      Ein Schulterzucken von Klotz. »Tja, hab eben kein Glück heute.«

      »Er hat ein Wildschwein erlegt, das liegt aber noch da hinten im Wald«, erklärte der Beamte, der das Gewehr getragen hatte.

      »So.« Mir war dieser Emil nicht ganz geheuer. Dass er etwas verbarg, hätte auch ein Blinder erkennen können. Aber war es für uns von Bedeutung? Ich musste es unbedingt herausfinden. »Dann lassen Sie uns bitte mal zu Ihrer Hütte gehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

      »Wieso denn? Was soll das denn alles? Nur weil ich auf ein paar Tiere schieße, damit ich was zu beißen habe?«, pöbelte Klotz mit seiner rauen Stimme. Ich trat stumm zur Seite. Er bekam sofort große Augen und legte die Hände vor den Mund.

      »Jesus, Maria und Josef!«

      Ich nahm ihn sanft, aber bestimmt, am Arm und führte ihn etwas näher heran. Dabei roch ich seine Alkoholfahne. Kein Wunder, dass die Jagdausbeute des Mannes eher gering war.

      »Kennen Sie dieses Mädchen?«, fragte ich, wenngleich ich wusste, dass er es höchstens an ihrer Kleidung und der Haarfarbe hätte identifizieren können.

      Er schaute widerwillig hinüber, schüttelte dann heftig den Kopf und wandte sich abgestoßen ab.

      »Schauen Sie sich sie bitte genau an!«, forderte Blume.

      »Ich kenne keine kleinen Mädchen«, zischte Klotz.

      »Also, gehen wir«, sagte ich und nickte Gerd stumm zu. Klotz stöhnte, sah grimmig in die Runde und setzte sich dann langsam in Bewegung. Wie folgten ihm zu viert; Blume, die beiden Polizisten und ich. Mir fiel auf, dass wir genau dort lang liefen, wo auch die Reifenspuren eines oder mehrerer Fahrzeuge lang führten. Nach etwa vier Minuten Fußmarsch, die letzten Meter wieder über Trampelpfade, kamen wir an eine winzige Holzhütte. Sie maß sicher nicht mehr als zehn Quadratmeter und war mit einfachsten Mitteln, aber zumindest etwas handwerklichem Geschick, aus Baumstämmen, Holz- und Metallschrott zusammengezimmert worden. Das Dach war an einer Stelle mit einem Stück rostigen Wellblech geflickt. Ein Metallrohr ragte heraus und blies dünnen, weißen Rauch in den wolkenverhangenen Himmel. Es gab ein seitliches Fenster, das wohl ursprünglich zu einem Fachwerkhaus gehört hatte. Ich sah am Boden, dass die Reifenspuren exakt bis zu dieser Hütte führten. Dort hatte der Wagen offenbar gewendet und war zurückgefahren.

      Klotz lief zur niedrigen Eingangstür und trat sich auf der Fußmatte seine schlammbespritzten Schuhe ab. Er öffnete die Tür, die fürchterlich knarrte, und ging hinein. Ich folgte ihm direkt, Blume hinter mir. Die beiden Polizisten warteten draußen.

      In der Hütte herrschte eine trockene Hitze, für die ein alter, gusseiserner Ofen in der hinteren Ecke verantwortlich war. Daran schloss sich eine selbstgezimmerte Anrichte an, auf der ein paar Äpfel mit braunen Stellen und ein Blumenkohl lagen. An der Wand hingen zwei Messer und ein kleines Beil. Direkt neben der Anrichte standen ein Metallfass, sicher für Trinkwasser, und ein schiefes Holzregal, in dem Klotz Konservendosen, Textilien und verschiedene Kisten und Schachteln aufbewahrte. Gegenüber befand sich seine Schlafstätte in Form eines alten, rostigen Klappbetts, auf dem nur eine dicke Wolldecke lag. Die unebenen Bodendielen, von denen keine zwei zusammenzupassen schienen, knarrten, als ich einmal quer durch den Raum lief. Ich empfand ihn als sehr erdrückend, suchte vergeblich nach etwas rustikaler Gemütlichkeit. Alles war auf einfachste Weise zweckmäßig eingerichtet. Aber die Hütte passte zur Erscheinung von Emil Klotz; es war wie eine Symbiose. Was sagte das über diesen Mann aus, außer, dass man ihn dafür bedauern konnte?

      »Gerd, schauen Sie sich da mal ein bisschen um!«, bat ich und deutete auf die andere Seite des kleinen Raums. Er nickte und ging ans Werk.

      »Was soll das alles? Sie haben kein Recht dazu!«, schimpfte Klotz. Sein Tonfall wurde aggressiver, was die Polizisten vor der Tür auf den Plan rief.

      »Bitte ruhig bleiben, ja?«, sagte einer der beiden und stellte sich in die Tür.

      Hinter dem Kopfende des Bettes stand, auf einem runden Schemel, eine emaillierte Waschschüssel mit allerlei Schrammen. Über ihr hing ein ovaler Spiegel an der Wand, der einen langen Sprung aufwies. Er war mit einer Öse an einem Metallhaken befestigt, der ins Holz der Wand getrieben war. An eben diesem Haken hing, auf der Spiegelfläche anliegend, eine Kette mit einem Schmuckstück. Ich wollte mir diesen beinahe als Fremdkörper zu bezeichnenden Gegenstand genauer anzuschauen und nahm die Kette vom Haken. Ich drehte den Anhänger, ein silbernes Herzchen, auf meiner Handfläche. Es war auf der einen Seite glatt, auf der anderen hatte es einen schmalen, erhabenen Rand. Und in der Mitte war ein kleiner, rötlicher Fleck. Ich unterbrach den im Hintergrund vor sich hin lamentierenden Klotz.

      »Ist das Ihre?« Ich hielt dem Mann die Kette vor die Nase.

      Er