J.P. Conrad

Mutterschmerz


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seiner Stirn.

      »Indem ich Sie von Ihrem Leiden erlöse«, antwortete die Schwester ruhig. »Sie und die Menschen, die Ihnen am Herzen liegen.« Nach einer Pause fuhr sie eindringlich fort: »Sie sollten sich aber fragen, ob Sie ihrer Familie ebenso am Herzen liegen, wenn Sie von ihr derart belogen werden! Insofern soll das, was ich für Sie tue, nicht nur eine barmherzige Tat sein, sondern Ihnen auch die Genugtuung geben, allen ein schlechtes Gewissen zu bereiten, für die Lügen, die sie Ihnen erzählen. Und das werden sie haben, ganz sicher. Vielleicht für den Rest ihres Lebens! Ich denke, so können Sie wirklich beruhigt sterben!«

      Wilhelm schüttelte heftig den Kopf. »Aber ich will das nicht! Sie dürfen das nicht tun!«, krächzte er heiser.

      Die Schwester lächelte mild, tupfte ihm den Schweiß mit einem Tuch ab und legte ihre Hand auf seine.

      »Sie werden ganz friedlich einschlafen. Die Embolie, die Sie haben werden, wird überhaupt nicht wehtun. Wegen des Morphins. Und es wird im Schlaf passieren, dank des Valiums.«

      Wilhelm schnappte panisch nach Luft. »Sie bringen mich um!«

      »Ich bringe Sie nur schneller an einen besseren Ort. Mit einer kleinen Injektion. Ich werde Ihnen nichts weiter als ein bisschen Luft spritzen, um Ihnen zu helfen. Sie sollten mir dankbar sein! Und Sie können mir vertrauen, ich weiß, was ich tue. Sie sind nicht der Erste, der sein Gnadenbrot durch mich erhält. Und Sie werden sicher nicht der Letzte sein.« Sie schaute teilnahmsvoll ins Leere. »Es gibt noch so viel Leid zu lindern. Aber ich tue, was in meinen Kräften steht!«

      Sie stand auf und überprüfte erneut seine Pupillen. »Sehr schön«, lobte sie. »Es wird nicht mehr lange dauern. Wenn Ihre Frau zurückkommt, werden Sie eingeschlafen sein. Ich muss mich jetzt darauf vorbereiten, ihnen die furchtbare Nachricht zu überbringen. Und ich muss natürlich den Notarzt verständigen.« Sie ging zur Tür und verließ den Raum mit den Worten: »Freuen Sie sich, eine bessere Welt wartet auf Sie!«

      Kapitel 3

      Ich war der Neue. Gerade frisch zum Kriminalkommissar ernannt, hatte ich die erste freie Stelle angetreten, die verfügbar gewesen war. Sie befand sich jedoch nicht in Frankfurt, dort wo ich mir den Dienstgrad erworben und auch gelebt hatte, sondern in Bad Homburg, im Taunus. In der Provinz. Aber diese Vorstellung störte mich wenig; im Gegenteil. Ich betrachtete das fremde Arbeitsumfeld als aufregendes Neuland; als exotisches Gefilde. Denn ich wusste zwar, wie die Leute in der Großstadt tickten, aber eben nicht, was mich dort erwarten würde.

      Ich stammte aus einer ganz durchschnittlichen Familie. Mein Vater betrieb bis kurz nach Ausbruch des Kriegs eine Apfelweinwirtschaft in Sachsenhausen, meine Mutter war einfache Hausfrau. Ich hatte zwei ältere Brüder, die beide bei der IG Farben arbeiteten, sowie eine zwei Jahre jüngere Schwester, die in Gießen glücklich verheiratet war und inzwischen vier Kinder ihr eigen nannte. Ich selbst war zur damaligen Zeit Junggeselle und auch nicht traurig über diesen Zustand. Meine noch junge Karriere stand bei mir klar an erster Stelle. Zudem hatte es bis dato auch nur wenige Kandidatinnen gegeben, die für eine Ehe auch nur ansatzweise in Frage bekommen wären. So war die einzige Frau in meinem Leben, seit meinem Umzug nach Bad Homburg, meine Pensionswirtin.

      Die ersten Tage in der neuen Dienststelle verbrachte ich damit, mich mit den Kollegen zu beschnuppern. Sie waren alle sehr nett zu mir und auch mein Vorgesetzter, Kriminaloberrat Degener, freute sich sichtlich über das frische Blut in seinem Laden.

      Während größere Aufgaben noch auf sich warten ließen, begann ich, mich in ein paar alte Fälle einzulesen. Es gab nichts wirklich Weltbewegendes, bis auf einen unaufgeklärten Mord, und auch der lag bereits zwei Jahre zurück: Eine dreiundzwanzigjährige Frau namens Ingrid Troglauer war im Homburger Ortsteil Kirdorf, nahe ihrem Elternhaus, erdrosselt in einem Feld aufgefunden worden. Die Ermittlungen waren recht schnell ins Stocken geraten und so hatte mein Vorgänger den Fall, als er in Pension gegangen war, an seinen Nachfolger übergeben; mich. Ich kannte inzwischen alle Fakten, stand aber noch ganz am Anfang.

      Natürlich war ich mit meinen neunundzwanzig Lenzen ein ehrgeiziger junger Bursche, aber das wollte ich nicht so herauskehren. Schließlich konnte man sich mit zu viel Engagement schnell unbeliebt machen. Entsprechende Erfahrungen hatte ich zur Genüge während meiner Schulzeit sammeln dürfen. Schon damals hatte ich den Hang dazu gehabt, mich für die schwächeren Mitschüler einzusetzen, notfalls auch körperlich. Das hatte mir erwartungsgemäß nicht nur Ehrungen eingebracht, sondern auch jede Menge blauer Flecke, eine gebrochene Nase und Schelte seitens des Lehrkörpers und meiner Eltern. Während der Ausbildung habe ich dann, dank eines gleichermaßen strengen wie gütigen Mentors, gelernt, weniger stürmisch vorzugehen.

      Ich hatte auch einen Assistenten in Bad Homburg, der mich bei meiner Arbeit unterstützte. Er hieß Gerd Blume, war Kriminalobermeister, spindeldürr, zwei Jahre jünger und fast einen Kopf größer als ich. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Wir verstanden uns von Anfang an prächtig. Ich bewunderte seinen Scharfsinn und seine schnelle Auffassungsgabe. Allenfalls hätte ihn mir ein wenig lockerer gewünscht. Während ich beispielsweise Jeanshosen und Karohemden bevorzugte - vielleicht das einzige Überbleibsel aus meiner rebellischen Vergangenheit - trug er stets Anzug und Krawatte. Aber er würde mit der Zeit und in meiner Gegenwart schon noch etwas auftauen, da war ich recht zuversichtlich.

      Ich weiß noch genau, dass es ein Mittwoch war, als alles anfing, gegen acht Uhr morgens. Das Telefon in unserem kleinen Büro klingelte Sturm, als ich gerade das heiße Wasser aus dem pfeifenden Kessel in den Kaffeefilter schüttete. Ich ernährte mich damals praktisch nur von Kaffee, Zigaretten und dem, was man heute als Fast Food bezeichnet; abgesehen von einem ausgedehnten Frühstück in der Pension, auf das meine Wirtin bestand.

      Hinter mir hörte ich, wie Gerd den Hörer abnahm. »Mordkommission, Kriminalobermeister Blume«, meldete er sich überkorrekt. Es folgte ein Gemurmel, das zu leise war, um es zu verstehen.

      Gerd sagte, merklich überrascht: »Oh, verstanden. Wir sind unterwegs« und legte wieder auf.

      Ich ahnte, dass ich meinen Kaffee nun nicht mehr bekommen würde.

      »Herr Kampmann, wir müssen nach Rod am Berg«, verkündete er auch sogleich und erhob sich aufgeregt von seinem Stuhl, als hätte ihm etwas in den Hintern gebissen.

      »Was ist los?«

      »Das waren die Kollegen aus Usingen. Man hat im Wald die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden.«

      Mir war in diesem Moment nicht klar, ob Blumes Anspannung daher rührte, dass es einen Mord gegeben haben könnte oder der Tatsache, dass ein Kind das Opfer war. Als Vater reagierte man sicher sensibler auf so etwas. Zudem fehlte ihm die Großstadterfahrung, wie ich sie hatte, bei der man so ziemlich alles Denkbare und Undenkbare schon einmal erlebt hat.

      »Rufen Sie alle zusammen! Wir treffen uns dort!«, sagte ich, stellte den Wasserkessel zurück auf die kleine Herdplatte und schaltete sie aus.

      »Die Spurensicherung ist bereits verständigt worden.«

      Ich nickte verstehend und wir liefen beide zur Garderobe. »Wo ist Rod am Berg?«, fragte ich, während ich meine hellbraune Wildlederjacke, ob des zu erwartenden, kühlen Herbstwetters, bis zum Hals zuknöpfte.

      »Das liegt etwa fünfzehn Kilometer von hier. Ein kleines Kaff. Ich glaube, nicht mehr als dreihundert Einwohner.«

      Gerd kannte sich sehr gut im Taunus und auch in der Wetterau aus; er hatte viele Verwandte, die praktisch über ganz Hessen verteilt waren und die von ihm und seiner Familie regelmäßig besucht wurden. Ein reiner Albtraum für meinen Geschmack. Zumindest aber brauchten wir so keinen Straßenatlas zu bemühen.

      Blume fuhr uns in unserem Dienstwagen, einem Opel Kadett A, zielsicher Richtung Rod am Berg. Er hatte, entgegen seinem sonstigen Gebaren, einen recht ruppigen Fahrstil, wie ich inzwischen hatte erfahren dürfen. Zudem war er meistens auch zu schnell unterwegs. Aber ich beschwerte mich nicht; insbesondere nicht heute, denn ich wollte zügig zum Tatort gelangen. Es kribbelte mir in den Extremitäten, bei dem Gedanken an meinen ersten, eigenen Fall in meiner neuen Position.