J.P. Conrad

Mutterschmerz


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ließ. Hektisch sah ich mich um. Sein Ursprung hatte irgendwo hinter dem Feuerwehrlöschzug gelegen. Ich rannte los. Auf der anderen Seite, nahe des Hauseingangs der Familie Mattheis, rollte mir ein Apfel vor die Füße. Ich folgte mit den Augen der Richtung, aus der er gekommen war. Mitten auf der Straße erspähte ich einen umgekippten Flechtkorb. Eine zerbrochene Milchflasche, ein Blumenkohl sowie einige Äpfel lagen auf dem Kopfsteinpflaster. Hinter dem Korb stand eine Frau um die dreißig, die sich entsetzt die Hände vor den Mund hielt. Sie trug einen knielangen, beigen Mantel, unter dem ein blauer Rock hervorlugte. Ihr blondes Haar wurde von einem himmelblauen Kopftuch eingerahmt. Das Gesicht der Frau war kreidebleich. Zeitgleich mit Gerd Blume traf ich bei ihr ein. Sie schluchzte, wimmerte.

      »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich in sanftem Ton. »Wer sind Sie?«

      »Ingeborg Mattheis. Das ist mein Haus«, antwortete sie mit bebender Stimme und deutete auf das heruntergebrannte Fachwerkhaus.

      Kapitel 8

      Helga Kramer gähnte müde und nahm den pfeifenden Kessel vom Herd. Sie goss das heiße Wasser in den Filter, das sich langsam seinen Weg durch das braune Pulver bahnte und als Kaffee in die Kanne tropfte. Anschließend füllte sie sich eine Tasse und setzte sich an den schmalen Küchentisch. Sie biss von dem Brot mit Ahler Wurst ab, das sie sich gemacht hatte und das ihr ganzes Frühstück sein würde. Es war einfach nicht dasselbe, wenn sie alleine war. Normalerweise wurde bei ihr Zuhause in Fulda das Frühstück allmorgendlich als familiäres Ereignis zelebriert, bei dem alle zusammensaßen: ihr Mann, die beiden Mädchen und sie. Aber hier war das anders; besonders heute. Ingeborg war noch nicht von ihrer ersten Nachtschicht zurück und ihre Nichte Karin war sehr früh in Richtung Schule aufgebrochen.

      Während sie ihr Brot kaute und mit schwarzem Kaffee hinunterspülte, hing sie ihren Gedanken nach. Insbesondere musste sie an Karin denken; an das seltsame Benehmen, dass das Kind an den Tag gelegt hatte. Schon seit Helga gestern Nachmittag angekommen war, hatte sie sich merkwürdig still und beinahe nervös verhalten. Das war sonst gar nicht ihre Art gewesen; sie hatte sich immer sehr über den Besuch von oder auch bei ihrer Tante gefreut. Irgendetwas schien ihr schwer auf der Seele zu lasten. Helga konnte nur vermuten, was es war. Vielleicht Probleme in der Schule? Oder Ärger mit ihrer Mutter? Ingeborg hatte aber nichts dergleichen erwähnt. Und dann dieser frühe Aufbruch am Morgen; fast anderthalb Stunden vor Schulbeginn. Helga nahm sich vor, am Nachmittag mal mit ihrer Nichte zu reden, schließlich hatten sie immer ein gutes Verhältnis zueinander gehabt.

      »Vielleicht kommt sie ja auch einfach schon in die Pubertät«, dachte sie bei sich, mit der Erfahrung einer Mutter, die dies bereits zweimal hatte durchleben dürfen, und schloss damit das Thema zunächst für sich ab.

      Nachdem sie ihr spartanisches Frühstück beendet hatte, bereitete Helga das Mittagessen vor. Es würde Schweinebaucheintopf mit Kartoffeln und Bohnen geben und damit dieser gut schmeckte, musste er genug Zeit zum Durchziehen haben. Sie schnitt das Fleisch, wusch Bohnen und Kartoffel und schälte Letztere. Helga kannte das Rezept im Schlaf; schon als Kinder hatten Ingeborg und sie es am elterlichen Tisch in Fulda gegessen. Karin würde es sicher auch mögen.

      Nachdem sie alles vorbereitet hatte, machte sich Helga an die Wäsche. In etwa zwei Stunden würde Ingeborg nach Hause kommen und wahrscheinlich sehr müde sein. Daher würde sie ihrer Schwester, so gut sie konnte, zur Hand gehen und sie während ihres ersten Nachtdienstes seit vielen Jahren entlasten; so, wie Ingeborg sie in ihrem Brief darum gebeten hatte. Es war eine Selbstverständlichkeit für Helga, ihr zu helfen, und sie tat es gerne. Glücklicherweise waren ihre eigenen Töchter schon vierzehn und sechzehn und brauchten keinen Aufpasser mehr. Um den ihren Haushalt mussten sich eben, solange sie selbst für eine Woche im Taunus war, ihr Mann Paul und ihre Schwiegermutter kümmern. Sie war zuversichtlich, dass sie es bewältigen würden.

      Da Ingeborg keine Waschmaschine besaß, kniete sich Helga mit Waschbrett und Kernseife auf dem Kellerboden über den alten Metallzuber und begann zunächst, eine von Karins Blusen zu reinigen. Während sie das Textil kräftig einseifte und mit Sehnsucht an ihre elektrische Bauknecht Waschmaschine in Fulda dachte, hörte sie ein Geräusch. Es hatte wie ein Klirren geklungen, als ob etwas zerbrochen war. Und es kam ihr so vor, als wäre es beinahe über ihrem Kopf gewesen; in der Küche.

      Helga erhob sich mit einem entnervten Stöhnen von ihren schmerzenden Knien, wischte sich die Hände an ihrer Kittelschürze trocken und lief die steile Kellertreppe hinauf. Sie ging in die Küche, wo ihr Blick sofort auf die Tür fiel, die zu dem kleinen Hinterhof mit den Gemüsebeeten führte. Sie stand einen Spalt offen. Die Kaffeekanne, die direkt auf der Anrichte dahinter gestanden hatte, lag in Scherben auf dem Boden und der Kaffee hatte sich über dem unebenen Linoleum verteilt. Aber da war noch etwas. Schuhabdrücke. Sie führten aus der Kaffeelache geradewegs auf Helga zu und an ihr vorbei. Erschrocken fuhr sie herum und starrte direkt in zwei fremde, zornig funkelnde Augen. Sie wollte einen Schrei ausstoßen, doch schon als sie Luft holte, erhielt sie einen blitzschnellen Faustschlag gegen den Schädel. Sie verlor das Gleichgewicht, taumelte und fiel auf den Rücken; Ihr Kopf schlug unsanft an ein Tischbein. Vollkommen benommen vor Schmerz und gelähmt vor Angst, sah sie nur schemenhaft, wie sich die Gestalt, die gerade nicht mehr war, als ein verschwommener, dunkler Klumpen, aus ihrem Versteck hinter der Küchentür löste.

      »Was wollen Sie? Wer sind Sie?«, fragte Helga leise und tastete nach ihrer Stirn, hinter der es äußerst schmerzvoll pochte. Sie erhielt keine Antwort. Stattdessen hörte und spürte sie die schweren Schritte auf den Dielen. Sie vernahm ein blechernes Geräusch, gefolgt von einem gleichmäßigen Schaben. Es klang, als würde der Eindringling etwas aufschrauben. Seine Schritte kamen näher und sein Schatten legte sich über Helga, die am Boden kauerte und vor Furcht zitterte wie Espenlaub. Er hielt etwas Großes in den Händen. Was es war, konnte sie nicht erkennen; ihr Blick war, wie durch einen Schleier aus Schwindel und Schmerz, getrübt. Im nächsten Augenblick schwang das Ewas in seinen Händen und Helga spürte, dass sie mit Wasser übergossen wurde: zuerst ihre Beine, dann ihr Oberkörper und zuletzt ihr Gesicht. Ein eigentümlicher, aber doch vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase. Nein, das war kein Wasser! Sie begann, vor Entsetzen und Panik, zu schreien, erhielt aber sofort wieder einen Schlag ins Gesicht. Der raubte ihr nun alle Sinne.

      Als Helga wieder zu sich kam, rang sie nach Luft. Sie drehte sich auf die Seite und musste fürchterlich husten. Ihre Lungen brannten und hinderten sie am freien Atmen. War es der Schlag gewesen, den man ihr versetzt hatte? Nein, es war etwas anderes. Helga spürte die Hitze um sich herum. Und dann den Schmerz; einen unerträglichen Schmerz, der ihr jetzt über die Beine kroch. Feuer. Vor Helgas trüben Augen flackerte es rot und gelb. Sie hustete und hustete. Der Qualm legte sich auf ihre Lungen und erstickte sie förmlich, während die Flammen sie von unten her langsam auffraßen. Helga wollte um Hilfe schreien. Doch es kam kein Ton aus ihrem Mund; sie hatte schon zu viel Rauch eingeatmet. Das Feuer brannte sich unerbittlich durch ihre Kleidung; durch die Strümpfe, durch die Schürze und ihre Bluse, hinein in ihre nackte Haut. Nichts und niemand hielt die hungrigen Flammen auf. Helga wand sich auf der Stelle hin und her, wie ein Fisch auf dem Trockenen; mehr brachte sie nicht zustande. Sie lag jetzt auf dem Bauch, ruderte mit den Armen hilflos und blind um sich. Ihre Finger bekamen etwas zu fassen, es war sehr klein und glatt. Aber was es auch war, es konnte ihr nicht mehr helfen. Ihr inneres Flehen erstickte allmählich. Als das Feuer ihren Brustkorb erreichte, war sie bereits ein letztes Mal in Ohnmacht gefallen.

      Kapitel 9

      Ich nahm Frau Mattheis sanft am Arm und zog sie behutsam von der Straße zu einer niedrigen Mauer, die einen kleinen Platz mit einem Kruzifix einrahmte.

      »Setzen Sie sich bitte«, bat ich sie freundlich. Zuerst kam sie meiner Aufforderung nach, sprang dann aber sofort wieder auf. Sie sah sich aufgewühlt um, als suchte sie nach jemandem.

      »Meine Schwester«, murmelte sie aufgelöst. »Wo ist meine Schwester?«

      Mir schwante mit einem Mal, wessen Leiche die Feuerwehr im Haus gefunden hatte. Ich sah kurz zu Gerd und gab ihm stumm zu verstehen, dass ich Hilfe benötigte.

      »Es tut mir sehr leid,