Dominik S Walther

Resonanzfrequenz


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ernster Blick, nach unten gezogene Schultern und Mundwinkel. Und dann spürt er es auch. Es kommt schnell und verglüht ebenso plötzlich. Wie eine Sternschnuppe am Sommerhimmel. Das Gefühl der Leere bleibt bestehen. Brent fröstelt trotz der Sommerhitze. Carmens Mitleid weht durch die tiefen, dunklen Schächte, in denen Brent herum irrt. Wie Sauerstoff, der dem toten Indexvogel Leben bringen möchte und doch nur trockene Staubwolken vor sich her treibt. Dann legt sich der Staub. Carmens Mitleid füllt jeden kleinen Winkel, jeden Blindstollen mit atembarer Luft. Ein beruhigendes Gefühl. Aber die Ruhe währt nur kurz. Denn dem Lufthauch folgt Wasser und sofort spürt Brent die vertraute Panik in sich aufsteigen. Raus hier! Je länger Carmen bei ihm stehen bleibt, desto schwerer ihre Hand auf seinem Arm wiegt, desto weniger Widerstand hat er ihr entgegenzusetzen. Flüssiger Sauerstoff flutet die unterirdischen Gänge, friert die Gesteinsschichten ein und vereist den Weg nach draußen. Brent schafft es gerade noch rechtzeitig, aber er kommt mit leeren Händen an die Oberfläche zurück, wo der Wellengang von Carmens Meer aus Mitleid unaufhörlich an brandet. Brent klettert auf einen der schon seit langem still gelegten Fördertürme seines Gefühlsbergwerks. Hier oben kann er ihre Wellen an die Metallkonstruktion schlagen spüren. Das ist Carmen. Immer bereit zu geben. Wahrscheinlich ist das in dieser Situation sogar angemessen. Brent kann ihr trotzdem nicht in die Augen schauen und wendet seinen Blick auf das unförmige Metallgestell, das bis vor wenigen Augenblicken noch seine Zukunft war.

      Eine Filmszene: Ein Mensch liegt sterbend auf der Straße. Durchscheinend hebt sich seine Seele über den leblosen Körper. Der Lichtleib versucht mit den Helfern zu kommunizieren, aber die Umstehenden starren auf den Leichnam, sie können die Seele des Verstorbenen nicht erkennen. Brent fühlt sich wie so ein Seelenwesen. Ohne Verbindung zum Körper, der gerade stirbt. Carmen schaut durch Brent hindurch auf seinen Körper. Die anderen starren auf Brents Arbeit, die zerstört vor ihnen liegt. Keiner kann Brent sehen.

      Carmens Arm stört. Warum muss sie ihn anfassen und ihre Energien so ungehindert auf ihn einströmen lassen? Bei starken Interferenzen von außen ist es kein Wunder, dass man sich selbst nicht mehr spürt. Carmen, die emotionale Sturmflut erweist sich als zu stark für Brents Deiche. Sie überdeckt alles mit ihrer offenen, ehrlichen und mitleidvollen Sympathie. Dafür könnte er sie hassen. Und er weiß, dass das ungerecht wäre. Es trifft sie keine Schuld, es ist in ihm. Beziehungsweise es ist nichts in ihm. Das hat er schon vorher gewusst. Schon immer. Aber er hat es nie wahrhaben wollen. Nun benutzt er sie als Ausrede, als Blitzableiter seiner Wut. Das ist nicht nur feige, es ist erbärmlich und gemein, denkt Brent.

      »Brent?«

      Lucias Stimme. Warum kann man ihn eigentlich nicht in Ruhe lassen? Gerade jetzt.

      »Brent?«

      Schon wieder Lucia. 'Lucia, Lucia, mit ihrem dicken Fetthaar.' Dass die Gedanken gehässig werden, ist ein ganz schlechtes Zeichen.

      »Brent. Alles ok?«

      Lucia lässt nicht locker. Lucia lässt nie locker. Immer muss sie ihm auf die Pelle rücken, mit ihren Fragen, ihrer Sympathie, um die er sie auch nie gebeten hat, ihrer überbordenden Körperlichkeit, die manchmal sogar in Brent eindringt und sich dort breit macht, als sei er ein Teil von ihr.

      Und dann geht es los. Als ob Lucias Stimme das Signal zum Generalangriff gewesen sei. Brent spürt, wie sich die Blicke vom Boden heben und erst mit verstohlener, dann mit offener, schmerzender Klarheit an ihm hängen bleiben. Zunehmend fordernd. Sie warten. Es ist Zeit für eine Antwort. Nur verspürt Brent nicht mehr die geringste Lust, ihnen diese Antwort zu geben. Er hat nicht wissen können, dass es so kommen würde. Lucias Stimme im Ohr, Carmens Hand auf dem Arm. Brent seufzt innerlich, nach außen als ein Ausatmen getarnt. Dann dreht er sich um, lässt den Hammer laut polternd aus der Hand gleiten und stößt die Tür des Seminarraums auf. Carmens Hand mit den rot lackierten Fingernägeln bleibt in der Luft stehen, als ob sie noch immer den kräftigen, verschwitzten Arm unter sich spürt, der nun zügig ins Helle verschwindet. Für einen Moment sieht Brent aus dem Augenwinkel, wie sich ihre Hand schützend über die bunten Trümmer und Einzelteilen legt, um die alle noch immer wie um Brents Leiche im Kreis herum stehen. Natürlich ist das nur eine optische Täuschung und Brent ärgert sich, dass er eine Kleinigkeit derart überinterpretieren kann. Es ist ein Zufall gewesen, nichts anderes. Nur ein verdammter Zufall!

      »Reg' Dich nicht auf, Brent. Das ist doch genau, was man jetzt von dir erwartet.«

      Die hundertviereinhalb Kilogramm seines Körpers ruhen auf der aus grobem Holz gehauenen Bank vor dem Flachbau. Sonnenschein. Brent kann die rauen Fasern des Holzes durch den dünnen Stoff seiner Hose fühlen. Vogellärm und leises Rauschen der Ausfallstraße klingen zu ihm durch die dichten Bäume. Rollgeräusche von Sommerreifen auf Kleinstadtasphalt. Brents Welt, denkt Brent.

      »Reg' Dich nicht auf, Brent.«

      Brent atmet tief, schmeckt ozonhaltige Sommerluft, freie Radikale. Sauerstoff füllt die Lunge, diffundiert durch die winzigen Kapillare in seine Blutbahnen, von wo aus er zu wichtigeren Teilen seines Körpers transportiert wird. Jeder Atemzug neuer Treibstoff. Ein raffiniertes System. Brent konzentriert sich auf das Heben und Senken seines Brustkorbs. Er kontrolliert seinen Atem, der heftiger geht, als es ihm gefällt.

      »Ruhig, Brent. Ruhig.«

      Eine Sommererinnerung: Trockene Luft, brennende Sonne. Brent als zwölfjähriger Junge, das Luftgewehr seines Vaters. Brent auf der Jagd. Alle im Dorf hassten sie diese Tauben. Fliegende Ratten nannte man die ungeliebten Dinger. Es störte niemanden, dass der junge Brent nachmittags durch die Dorfstraßen schlich und graue Tauben tötete. Auch nicht den Metzger, an dessen Namen sich Brent nicht mehr erinnert. Die Taube saß auf dem Giebel seines Hauses, Brent hatte sie schon von Weitem gesehen. Er hoffte, dass sie nicht weg fliegen würde, bevor er in Schussweite kam. Er war kein guter Schütze und die Entfernung groß. Trotzdem erwischte er sie mit dem ersten Schuss. Direkt in den Hals. Oder ins Herz. Auf jeden Fall war sie sofort tot. Die anderen hatten noch versucht, ein letztes Mal zu fliegen, zum Himmel aufzusteigen, als Abschied ans Leben wuchteten sie ihren zur organischen Materie vergehenden Körper mit schwächer werdenden Flügelschlägen nach oben, bevor die Kraft sie ganz verließ und der Erdboden das Taubenleben beendete. Diese Taube aber blieb sitzen. So lange saß sie dort, dass Brent schon befürchtete, er habe sie verfehlt. Er wollte das Gewehr gerade nachladen, als sie zu kippen begann. Ganz langsam, vorn über, über den Hausgiebel hinaus und die Wand hinunter. An der Stirnseite der Metzgerei fiel sie nach unten, wo sie auf einem Busch liegen blieb. Auf der weißen Stirnseite des Hauses zog sich ein roter Streifen entlang. Brent hätte nie gedacht, dass eine kleine Taube so stark bluten kann. Eine Taubentodesspur.

      Der Metzger war nicht böse. Er drückte Brent einen Gartenschlauch in die Hand und ließ ihn die Hauswand abspritzen, bevor das Blut antrocknete. Die Wand dunkelte durch das Wasser, das Rot verschwand. Es war Sommer und es war heiß. Das Wasser kühlte. Brent spülte die Überreste der toten Taube die Wand hinunter, bis der letzte Rotschimmer verschwunden war, dann ging er nach Hause. Im kleinen Keller des Neubaureihenhauses lud er das Gewehr ein letztes Mal, hielt den Lauf mit beiden Händen fest an die Brust und drückte den Abzug mit seinem großen Zeh. So hatte er es in einem Film gesehen. Er schoss aus kürzester Distanz, konnte diesmal nicht verfehlen. Seine Hände zitterten nicht, darauf war Brent sehr lange stolz. Das Fleisch auf seiner Brust spritzte auseinander. Hell rosa Fleisch. Darin ein kleines, graues Projektil. Kein Blut. Brent legte das Gewehr zur Seite und betrachtete die neue Öffnung seines Körpers im Spiegel. Ganz langsam sickerte Blut hinein. Viele laute Atemzüge später hatte sich das Blut zu einem Tropfen gesammelt, der sanft größer wurde und schließlich, widerwillig, an seinem Körper hinab glitt. Brent wunderte sich, dass nur so wenig Blut aus ihm heraus wollte.

      Seinen Eltern erzählte er, es sei ein Unfall gewesen: er dachte, das Gewehr sei ungeladen. Sie akzeptierten diese Wahrheit ohne Fragen zu stellen. Schließlich war ja kaum etwas passiert. Die kleine Wunde würde schnell verheilen und die andere Wahrheit hätten sie niemals verstanden. Brent selbst brauchte Jahre, um dieses Verlangen von damals zu verstehen. Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach, war einer der Leitsprüche seiner Eltern gewesen. Genau wie: Man kann nur beurteilen, was man selbst kennen gelernt hat.

      Das strohige, schleifende Geräusch von Sommerespandrillos auf warmen Pflastersteinen.