Dominik S Walther

Resonanzfrequenz


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Rand der Kuhle, die Brents massiver Körper in die Matratze drückt. Brent lässt seine Augen den kleinen Aufschwung am Bogen ihrer dunkelblonden Augenbraue hinauf gleiten. Kleine, widerspenstige Haare, die aus der Ordnung hüpfen, zwei von ihnen auf dem Sprung, die anderen zu überragen, von Lucia in regelmäßigen Abständen aus ihrer Wurzel gezupft. Über der Stirn eine Strähne ihrer dunklen Locken, die sie so verdammt weiblich wirken lassen. Zwischen den irrlichternden Augen eine feste, gerade Nase. Ein stolzer Nasenrücken, die runde Spitze ins Kissen gedrückt. Der Zeigefinger der linken Hand nur Millimeter davon entfernt. Kleine, dunkle Poren auf den Nasenflügeln. Die kleine Narbe unter dem Auge. Heute liegt sie wie das Halbrund eines abgeschnittenen Fingernagels auf ihrer durchsichtigen Haut, deren Wärme Brent bis auf seine Seite des Bettes spürt. Ein Wärme produzierender Organismus. Ein Bettlaken schmiegt sich eng in die Mulde ihrer Hüfte. Der Oberkörper bleibt unbedeckt.

      Ein schlanker Bauch, den zu streicheln er liebt. Brents Augen klettern von der Hüfte zu ihren Schultern. Den Brustkorb ersteigt er auf den Hügeln ihrer Rippen. Das Knochengerüst drängt sich durchs Fleisch. Zwei kleine Brüste mit kreisrunden, scharf konturierten Brustwarzen. Wann haben sie zum letzten Mal miteinander geschlafen? Dass Brent sich nicht erinnern kann, hat nichts zu bedeuten. An viele Dinge kann er sich nicht erinnern. Andere vergisst er absichtlich. Was wäre schlimmer: alles zu vergessen, sich an nichts mehr erinnern zu können und jeden Augenblick wie einen ersten erleben oder sich an alles erinnern zu können, in jeder Situation eine unendliche Folge von Assoziationen, Bildern und Erinnerungen präsent zu haben? Brent beschließt, diesem Gedanken bei Gelegenheit nachzugehen.

      Sein Finger streicht Lucias Oberkörper entlang zur Schulter. Ganz sanft gleitet er über die Haut. Er beneidet sie um ihren Schlaf. Sein allabendlicher Kampf ist für sie nicht nachvollziehbar. Nie gewesen. Lucia bleibt im Bett nie länger als ein paar Minuten wach. Selbst wenn sie sich unterhalten. Nach wenigen Augenblicken legt sie den Kopf auf ihr Kissen, dann schließt sie die Augen und ist kurz darauf in einer anderen Welt. Brent hat schon öfter erlebt, dass sie einen angefangenen Satz nicht mehr zu Ende brachte. Auf diese Weise verarbeitete sie ihr Leben. Lucia zermahlt im Schlafen, was sie tagsüber beschäftigt. Knirschende Zähne. Brent kann ihr Schlafen hören. Ein Quietschen und Knarren, wie alte Schiffsplanken, die aneinander arbeiten und reiben, während das Schiff durch hohe Dünung vorwärts stampft.

      Brents Finger fährt langsam und gedankenverloren ihren Körper hinab, er schwebt über ihrer Haut und umkreist den winzigen Bauchnabel mit dem Tattoo. Sein Blick ruht auf ihrem Gesicht. Es ist aufdringlich, einen Menschen beim Schlafen zu beobachten. Trotzdem kann Brent es nicht lassen. Lucia würde ihm verzeihen, obwohl sie ihm gerade schutzlos ausgeliefert ist. Jeder Gedanke Brents kann sich ohne Widerspruch in ihr Gesicht einschreiben. Der Schlaf macht sie hilflos.

      Kein Mensch erträgt einen Blick länger als wenige Sekunden. Dann ist die Intimität bereits zu groß. Der Flirt beginnt. Oder der Streit. Wie viele Streitereien beginnen mit einem falschen Blick, einer unbeabsichtigten Provokation? Brent ist es gewohnt, Menschen zu beobachten, aber er hat gelernt, seine Untersuchungen so anzustellen, dass sich niemand belästigt fühlt. Er verletzte die Dreisekundenfrist nicht. Das Maximum an direkter, gerichteter Aufmerksamkeit, die ohne Gegenreaktion ertragen werden kann. Ohne emotionale Bezugnahme. Dann wird aus einem Blick Realität, das Eindringen zum Angriff. Aus Spiel wird Trieb.

      Während sein Finger die Decke von der Hüfte hebt und sie vorsichtig zu ihren Knien befördert, lässt Brent seinen Blick in ihrem Gesicht ausruhen. Eine Versicherung und eine Bestätigung liegt darin. Selbst die zuckenden Augen können ihn nicht irritieren.

      Er hat nicht bemerkt, dass Lucia nackt ins Bett gekommen war. Wo war er bloß mit seinen Gedanken? Im fahlen Mondlicht schimmert Lucias Scham unschuldig weiß. Sein Finger spielt mit dem dünnen Streifen Schamhaar, den sie über ihren Schamlippen wachsen lässt, um sich nicht gänzlich nackt zu fühlen. Brent war diese sympathische Albernheit sofort aufgefallen, als er sie zum ersten Mal nackt sah. Ein Puzzlestück seines Verliebtseins.

      Brents Blut sammelt sich, lässt ihn eine nur selten erlebte Kraft gegen das Bettlaken pressen spüren. Mit sanftem Druck schiebt er Lucias Hüften nach hinten. Ohne aufzuwachen dreht sie sich, bis sie auf dem Rücken liegt. Brent passt auf, dass seine Gewichtsverlagerung das Bett nicht ächzen lässt. Das Experiment gelingt. Er schiebt seinen schweren Körper nach unten, an die Kante des Bettes, und positioniert seinen Kopf über der Gabelung ihrer Beine. Er spürt den schmalen Haarstreifen an seinen Lippen. Es ist zu dunkel, um Details zu erkennen, aber Brent kennt sich hier aus. Die ausgefransten, fleischigen Enden ihrer Schamlippen schmiegen sich an seine Lippen. Mit der Zunge erspürt er die beiden, sich verschämt heraus drängenden, inneren Schamlippen. Engelsflügel nennt er sie. 'Lass mich auf deinen Engelsflügel fliegen' sagt er, wenn er Lust auf sie hat. Dann freut er sich über Lucias Erröten, weil sie Scham nicht nötig hat und weil er weiß, dass sie diese Formulierung ebenfalls erregt.

      Mit dem rechten Daumen drückt Brent vorsichtig den Saum ihrer Schamlippen nach oben. In der verwirrenden Ordnungslosigkeit tastet seine Zunge nach dem Olivenkern ihrer Lust. Mit einem kalten Luftstrom aus gespitzten Lippen umspielt er ihn. Seine eigene Lust hängt steif über ihren Beinen, zeigt auf sie mit entblößtem Kopf. Brent bemüht sich, Lucia nicht mit seiner Erregung zu berühren. Er will es sich nicht zu einfach machen. Dieser Moment ist rein und klar. Sex dagegen ist auf ein Ziel ausgerichtet. Man erregt sich gegenseitig, befeuern die eigene Lust, bis es kein zurück mehr gibt und der kopflose Wunsch, ineinander zu verschmelzen, alles überlagert. Dagegen ist dieser Augenblick rein und Brents Lust ungerichtet. Sie ist sich selbst genug. Natürlich könnte er seine Anspannung jederzeit zum Sex werden lassen, aber Brent genießt das Besondere. Seine Lust ist ohne Begehren, seine Liebe metaphysisch. Brent genießt die Lust an seiner Lust. Er erfreut sich an der Klarheit dieser körperlichen Regung. Keine Gefahr geht von ihm aus.

      Beischlaf vollzieht sich wie das Zusammenspiel kommunizierender Röhren. Eine Flüssigkeit wird in miteinander verbundenen Röhren stets in gleicher Höhe stehen. Unabhängig vom Durchmesser der einzelnen Röhren. Wird der Wasserstand in einer erhöht, gleichen sich beide sofort auf einen mittleren Pegel aus. Gegen Brents Körper ist Lucia schmächtig. Trotzdem kann Brent beim Sex nie mit Sicherheit bestimmen, ob seine Lust aus ihm selbst entstammt, oder ob er ihre Lust in sich spürt, sie verstärkt und zu seiner eigenen macht. Sobald eine weitere Person beteiligt ist, gehört einem die Lust nicht mehr alleine. Sobald man nicht mehr alleine ist, werden die Dinge schwierig.

      Das Sprichwort sagt, dass geteilte Freude doppelte Freude bedeutet. Brent hat das nie verstanden. Wer seine Freude teilt, verringert sie. Teilt man Euphorie durch einige Menschen, fühlt sich das an wie Freude alleine. Es ist eine einfache Mengenrechnung: man dividiert die Gesamtmenge der Freude (oder Lust) durch die Anzahl der Beteiligten. Nur wer alleine genießt, kann alles für sich behalten.

      Lucia stöhnt. Noch schläft sie, aber ihr Atemfrequenz ist schon erhöht. Brents Zungenspitze schmeckt saure Feuchtigkeit. Er verharrt reglos über ihr. Sie dreht den Kopf, atmet seufzend aus. Die Finger ihrer rechten Hand zucken. Spürt sie ihn im Schlaf? Träumt sie von ihm? Brent tritt den Rückzug an. Langsam, vorsichtig und bis zum Zerplatzen erregt schiebt sich Brent zurück auf seine Seite des Betts. Im Umverteilungsautomatismus seines Körpers, während das Blut sich in seinem Unterleib gesammelt hat, ist Brent jegliches Zeitgefühl verloren gegangen. Das passiert ihm nicht oft. Lucia dreht sich auf die andere Seite, zeigt ihm den mit den kleinen Leberflecken übersäten Rücken. Ein vertrauter Anblick. In seinen schlaflosen Nächten hat Brent die Flecken zu Sternzeichen kartographiert. Er dreht sich vorsichtig auf den Rücken und betrachtet seine Erektion. Sie fühlt sich intensiver an als gewöhnlich. Er spürt das Blut in seinem Schaft mit jedem Herzschlag pulsieren, auf dem Weg durch die Venen, durch die Beine zurück zum Herz, zur Lunge und von dort, mit Sauerstoff angereichert, zum Kopf hinauf.

      Die abklingende Erregung macht Brent noch wacher. Aber er zweifelt, dass er wach genug ist, um lesen oder arbeiten zu können. Leise schiebt er sich aus dem Bett. Nackte Füße auf filziger Teppichauslegware. Brent braucht kein Licht um sich zurechtzufinden, in dem scheinbaren Chaos des Schlafzimmers kann Brent seine Schritte blind setzen. An seiner Seite des Betts lehnen Lucias Körperzeichnungen und Aquarellarbeiten, die fremdartigen, bunten Landschaften aus den ersten beiden Semestern. Zwischen Fußende des Betts und dem Regal mit Brents Serien von Wachsköpfen