Dominik S Walther

Resonanzfrequenz


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      Eine Schulerinnerung. Punkte mit Pfeilen an der Tafel, darum ein weißes Kreiderechteck. Die Gesamtsumme aller Kräfte eines freien Systems ist Null! Das bedeutet: es wirken keine Kräfte nach außen. Das heißt aber keineswegs, dass in diesem System keine Kräfte wirken. Nur heben sich diese Kräfte in ihrer Gesamtwirkung gegenseitig auf. In einem Kristallgitter gibt es eine Menge von Anziehungs– und Abstoßungskräften. Zwischen Atomen, Elektronen und so weiter. Aber solange keine Kraft von außen einwirkt, befindet sich das System in einem Zustand der Stabilität. Anders formuliert: die Gesamtsumme aller Kräfte eines nicht–freien Systems reduziert sich auf die Summe der äußeren Kräfte. Um ein freies System zu erhalten, müssen die äußeren Kräfte auf Null reduziert werden.

      Natürlich hat es sich nicht so zugetragen. Brent erinnert sich genau: wie er zu Stefano schaute, bevor er den Hammer nahm, dass Stefano seinen Blick nicht erwiderte, weil er ganz und gar in seinen Holztorso versunken war. Mit dem Hammer wollte Brent die Metallplatte bearbeiten, auf der die Struktur befestigt war. Die Platte war massiv, damit nichts ins Schwanken geraten konnte. Stefano konnte ihn gar nicht gesehen haben, unmittelbar bevor das Gebilde, seine Abschlussarbeit, durch die plötzliche Zuführung von Energie in Form eines mechanischen Impulses aus dem Zustand eines labilen Gleichgewichts geriet. Drehmoment und Hebelwirkung durch die am Schwerpunkt ansetzende Gravitationskraft taten dann das ihrige. Das konnte nicht lange gut gehen. Und vor allem passierte es zu schnell für Brent, der nicht mehr reagieren konnte. Trotzdem: die von Stefano dramatisierte Version war interessanter als die Wahrheit.

      »Du hast es darauf angelegt, oder?«

      Brent beschließt, die Frage zu ignorieren. Sie haben sich beide so oft darüber unterhalten, dass ein Kunstwerk für sich selbst und nur aus sich heraus spricht und keine Erläuterung seines Erschaffers bedarf. Nur schlechte Kunst muss erklärt werden, gute Kunst weckt das Interesse, selbst herausfinden zu wollen, selbst zu experimentieren, die eigenen Gedanken und Assoziationen spielen zu lassen. Brent begegnet Stefano mit einem Schweigen das klarmacht, dass keine Antwort kommen wird.

      Stefano runzelt die Stirn.

      »Hörst du überhaupt zu? Du sitzt hier autistisch auf deiner Bank und sagst kein Wort. Ich könnte mit der Backsteinmauer hinter dir sprechen, das wäre aufregender. Soll ich den ganzen Abend alleine reden? Es wäre hilfreich, wenn du etwas beträgst.«

      Brent hat in Gedanken die möglichen Antworten und Erklärungen längst durchgespielt. Nun lässt er den Sprengsatz, den er seit Stunden in sich trägt, ohne weitere Worte platzen.

      I am a time–bomb. Ticking, ticking time–bomb.

      »Es ist vorbei.«

      Backdraft. Das Feuer bekommt frischen Sauerstoff. An der frischen Luft entfalten die Worte erst ihre Wirkung. Die akustische Materialität der Worte legt sich schwer auf Brents Schultern und drückt ihn mit Eisenbändern auf seine Sitzbank. Schnell fügt er hinzu: »Ich werde die ganze Sache hinschmeißen.« Das macht es nicht leichter. Er hatte gehofft, dass es sich ausgesprochen leichter anfühlt.

      Seit sie in Dr. Kroiters Einführungsveranstaltung zufällig nebeneinander gestanden haben, waren Brent und Stefano Freunde. Und diese vier Jahren markieren die längste Freundschaft in Brents Leben. Natürlich haben sie sich in dieser Zeit verändert, Brent ist zwanzig Kilo schwerer geworden, Stefano hat einige Haare verloren. Aber die geistige Verbindung blieb davon unberührt, die Ironie und die noch seltenere Eigenschaft, den anderen dabei ernst zu nehmen.

      Stefano hatte den Einführungsvortrag ihres neuen Rektors mit bissigen Bemerkungen kommentierte. Der übergewichtige und schmierige Mann, der mit schütterem Haar vor dieser Gruppe junger Männer und Frauen stand, machte es ihnen leicht. Aber was Stefano sagte war tiefgründig und wohl überlegt, bliebt nicht bei flachen Zoten über Kroiters Äußeres und damit hatte Brent schon am ersten Tag seines Studiums gefunden, was er während der Jahre seiner Reise mit den flüchtigen, geistig wenig anregenden Bekanntschaften vermisst hatte. Stefano sprach ebenso ironisch–abfällig über sich und seine Kommilitonen wie über Kroiter. Für Brent, der die letzten Jahre gereist war, öffnete sich ein neuer Horizont und er begann zu verstehen, was er vermisst hatte. Wer immer nur unter Fremden lebt, verliert die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen. Und wenn alle Bezugspunkte verschwinden verliert man die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen.

      Mit seiner Ankündigung hatte Brent jetzt alle Vorteile klar auf seiner Seite. Ehrliche Verblüffung zeigt sich in Stefanos Gesicht. Damit konnte er nicht gerechnet haben.

      »Du willst Simpsons Kurs schmeißen? Das geht nicht, es ist dein Abschlusskurs.«

      Brent zögert. Das Vergnügen war jetzt ganz auf seiner Seite. Er legt eine kurze Pause ein, bevor er den kurz rasierten Kopf schüttelt und sich gedankenverloren im Nacken kratzt. Er schiebt die umgekrempelten Ärmel seines Hemdes einige Zentimeter weiter nach oben – eine der wenigen Dinge, die er sich bei seinem Vater ab geschaut hatte – stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und lässt sein Kind in die Mulde seiner Hände fallen.

      »Ich meine das Studium. Es ist vorbei. Ich hab keine Lust mehr. Ich schmeiße es hin.«

      Stefanos Augen wandern von rechts nach links und wieder zurück. Brent hat es geschafft, und das passiert selten genug. Brent lächelt. Stefano bestätigt Brents Punktsieg indem er mit unverhohlenem Unverständnis nachfragt.

      »Jetzt wegen dieser Sache?«

      Brent genießt das kurze Gefühl, Stefano für einige Augenblicke im Netz zappeln zu sehen.

      »Macht das einen Unterschied?«

      Natürlich muss er merken, dass Brent ihn hinzuhalten versucht. Dafür kennen sie sich zu lange, und Stefano ist zu klug.

      »Es macht einen gewaltigen Unterschied! Ob du schon länger frustriert bist und endlich einen Anlass für den Absprung gefunden hast, oder ob du wie ein quengeliges Kind zu weinen anfängst, weil dein Lieblingsspielzeug kaputt gegangen ist. Im ersten Fall stimme ich dir zu, denn du hast etwas Besseres verdient, als diese Kleinstadtkunstschule. Im anderen Fall kann ich nur sagen: mach keinen Unsinn. Hör auf zu weinen und sieh zu, dass du das noch irgendwie hin bekommst. Es lohnt sich nicht. Nicht jetzt.«

      Brent schiebt seine Lippen verächtlich nach vorne. Eine Bewegung, die er sich von Stefano ab geschaut hat. Da aber kaum jemand seine eigene Mimik kennt, kann Brent sich diese kleine Frechheit erlauben.

      »Gerade von dir hätte ich ein besseres Argument erwartet als ausgerechnet den bescheuerten Abschluss. Du sagst doch immer: Ein Diplom, mit dem man nichts anfangen kann.«

      Um den Druck noch zu erhöhen, fügt Brent kurzentschlossen und unfreundlicher als beabsichtigt hinzu: »Du enttäuschst mich, Stefano.«

      Stefano braucht nur wenige Augenblicke, um sich von der Überraschung zu erholen, sein Gegenangriff kommt schnell, direkt und überraschend.

      »Hast du Stress mit Lucia?«

      Wieder einmal hat Brent Stefanos Lust an der Provokation unterschätzt. Wahrscheinlich ahnt er längst, wohin Brent das Gespräch steuern möchte. Und nun versucht er, ihm eine eigene Richtung zu geben. Oder es ist ein intuitiver Abwehrreflex. In beiden Fällen sieht Brent sich gezwungen, die Gegenattacke sofort zu unterbinden.

      »Vielleicht solltest du dich eher darum kümmern, zu verstehen, was ich dir sagen will, statt wie eine eifersüchtige Geliebte herum zu giften.«

      Stefanos Kehlkopf hüpft einige Male, dann zündet er sich mit ruhigen Fingern eine Zigarette an.

      »Du hast recht. Das war unter der Gürtellinie.« Er beginnt das bedruckte Deckpapier von der Zigarettenpackung abzureißen. »Was willst du denn machen? Zurück zum Reisen? Weltflucht durch Weltreise?«

      Brent lässt seinen Körper nach hinten, gegen die kühle Backsteinmauer sinken und kopiert Stefanos Körperhaltung. Er könnte vergnügt sein, aber die Situation ist dafür zu ernst.

      »Du kannst es nicht lassen. Oder? Du kennst mich zu wenig, um über mein Reisen urteilen zu können.«

      »Das stimmt, aber ich weiß, dass du auf der Suche warst und letztlich nichts