Dominik S Walther

Resonanzfrequenz


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Wochen bis der Entschluss gefasst war, ein halbes Jahr, bis Brent eine geeignete Kunstschule gefunden und sich immatrikuliert hatte. Brents Auswahlkriterien waren einfach: laxe Aufnahmeprüfungen, moderate Studiengebühren und kein übermäßig guter Ruf. Brents Zeichnungen und Fotografien von seiner Reise reichten aus, um ihn zum Kunststudenten zu machen. Es war das Richtige, wenn man nicht allzu ambitioniert war.

      Das Reisen war als Herausforderung gedacht gewesen und es hatte entsprechend lange gedauert, bis Brent seinen Fehler bemerkte. Denn beim Reisen änderte sich immer nur das Setting: Städte, Landschaften, Personen. Die Gespräche fingen an, sich immer mehr zu ähneln. Das Studium war der Versuch, diese Entwicklung aufzuhalten. Mit jedem Foto, jeder Skulptur und jeder Zeichnung, die Brent herstellte, drängten sich wieder mehr Fragen in Brent. Bis die Dinge zu schwimmen begannen. Inzwischen war die Konstanz einer Leere gewichen. Eine große, Furcht einflößende Leere, die geformt ist wie Stollen, Höhlen und Verbindungskorridore in einem Berg.

      Brent stellt sich vor das geöffnete Fenster und saugt die frische Sommernachluft tief ein. Es duftet nach trockenem Gras.

      Ruhige Sommergeräusche. Gelegentliches Grillenzirpen. Akustische Leere. Lucias gleichmäßiger, ruhiger Schlafatmen dringt zu ihm. Mit offenen Fenstern ist die Wand zwischen ihnen für Schallschutzzwecke irrelevant. Ohne die Wand könnte Brent Lucia im Bett fast berühren. Lucias Atmen, sanft und gleichmäßig, beruhigt Brents aufkeimenden Frust über die andauernde Schlaflosigkeit, über die Unfähigkeit weiter zu zeichnen. Über seine unregelmäßig wiederkehrenden Schweißausbrüche. Brent lauscht am Fenster Lucias regelmäßigem Schlafatem.

      In einem abgeschlossenen System, einem hermetisch abgeriegelten Raum, werden zwei Pendel nach ausreichender Zeit (abhängig von Anfangsenergie, d. h. Amplitude und Anfangsfrequenz) im Gleichtakt schwingen. Die Luftmoleküle zwischen ihnen werden durch die Pendel verdrängt und bewegt. Die Bewegung der Luftmoleküle transportiert die Schwingungen der beiden Pendel durch den Raum, die Molekülebewegungen der beiden Pendel durchdringen den Raum, überlagern sich und interferieren. Auf diese Weise stehen die beiden Pendel miteinander in Verbindung, vom ätherischen, molekularen Klebstoff zusammen gehalten. Unsichtbar und obwohl das Gewicht der Pendel das der Luftmoleküle um einen kaum vorstellbaren Faktor übersteigt, reichen die schwachen Bindungskräfte des Gases und die Reibungskräfte zwischen ihnen aus, die Bewegungen der beiden Pendel zu verändern und anzugleichen. Es kann sehr lange dauern. Aber der stete Tropfen höhlt den Stein und irgendwann werden sich die Pendel im Gleichtakt bewegen. Brent erinnert sich an Carmens Geschichte auf einer der letzten Partys: Bei einigen Naturvölkern sei es normal, dass Frauen ihre Monatsblutungen gleichzeitig bekommen. Wenn eine Frau neu in die Gruppe kommt, passt sich ihr Körper nach einer Übergangszeit dem Rhythmus der anderen Frauen an. So funktioniert Natur, denkt Brent. Nichts schwingt alleine. Ein beruhigender Gedanke. Brent passt seine Atemfrequenz der von Lucia an. Beide atmen tief und gleichmäßig. Brent lässt seinen Blick über die Sterne gleiten. Atmosphärische Störungen lassen sie funkeln. Ein Satellit zieht schnell und gerade seine Bahn über den Himmel, kündigt das Nahen der aufgehenden Sonne an. Brent atmet Lucias Atem. Gleich wird er sich wieder hinlegen. Mit ein wenig Glück wird er einschlafen. Synchronizität fühlt sich gut an.

      Eine gute Art, die Woche ausklingen zu lassen und eines dieser Rituale, die wichtig geworden sind. Die dem Leben Stabilität geben. Stefanos vom Rauchen kratzige Stimme beschließt die Woche wie es früher die Stimme von Brents Mutter getan hat. Aber das ist schon sehr lange her. Heute beschließen Brent und Stefano nicht nur eine Woche, es ist ein ganzes Semester. Ein Studium. Sie haben sich wie beinah jeden Sonntag in den vergangenen vier Jahren in der kleinen Kneipe des Studentenwohnheims verabredet, das nur ein paar hundert Meter von der Schule entfernt liegt. Auf diese Weise haben sie unzählige Wochen nach– und sich auf das Kommende vorbereitet. Aber heute kann Stefano gar nicht genug von der Vergangenheit bekommen. Brent schnaubt genervt aus der Nase, als Stefano erneut anfängt.

      »Das war eine Show! Du hättest es sehen müssen. Komplettes Chaos. Dieser Lärm! Phantastisch. Und nach deinem Abgang: totale Stille.«

      Stefano erstarrt für eine Sekunde.

      »Als ob die Zeit einfriert. Film–still. Keiner rührt sich.«

      Stefano breitet die schlacksigen Arme aus und holt tief Luft.

      »Und dann plötzlich das Vogelzwitschern. Total irres, absolut lautes Vogelgezwitscher. Die Welt dreht sich doch weiter. Nur der Seminarraum bleibt erstarrt. Zeitblase. Nullpunkt.«

      Stefano setzt die Bierflasche an die Lippen und nimmt einen tiefen Schluck.

      »Du hast echt was angerichtet. Keiner hat sich gerührt. Die Simpson hat die Stunde beendet ohne ein Wort und uns nach Hause geschickt. Ich meine: Hallo? Es ist ja nicht so, dass wir noch eine Ewigkeit Zeit hätten, bis zum Abgabeschluss. Aber ich glaube, die war von uns allen am fertigsten.«

      Stefano lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Er lächelt Brent an und schüttelt den Kopf.

      Obwohl noch keine achtundvierzig Stunden vergangen sind, beginnt Brents Erinnerung bereits zu verblassen. Ein Film, der nach dem Belichten falsch fixiert wurde. Übertragungsverluste beim Transfer ins Langzeitgedächtnis. Erst durch das Gespräch mit Stefano wird Brent die Bedeutung wieder klar. Eine Zäsur. Ein irreversibler Vorgang. Entropiesteigerung. Brents persönlicher schwarzer Freitag. Die Kurse müssen gestützt werden. Alle werden sie am Dienstag mit der steigenden Aufregung eines zu Ende gehenden Semesters weiter machen. Kontinuierlich. Weiterführung der letzten Wochen, Monate, Jahre. Nur für Brent tut sich jetzt wieder die verschwommenen Leerstelle auf, die er auch am letzten Freitag gespürt hatte. Zwischen letztem Freitag und nächsten Dienstag liegt nur dieses Wochenende, aber es kann trotzdem noch alles geschehen.

      Natürlich ist es nie so gewesen, wie es Stefano erzählt. Brent erinnert sich genau: an den Augenblick des Stillstands, er, Brent, war Teil dieses Stillstands, sein Auslöser. Carmen brach die Bewegungslosigkeit und als Brent handeln musste, hat er sich der Situation entzogen. Stefanos Erzählung wird mit jedem Bier, mit jedem erneuten Durchgang dramatischer. Das passt zu ihm. Er steigert sich zu einer größtmöglichen Wirkung, exakt wie in seinen Arbeiten.

      Stefano beginnt immer mit einem Experiment, einer Idee, die er dann ausprobiert und steigert. Das war schon damals so gewesen, als sie beim Essen auf die Idee mit der Salzkruste kamen. Ursprünglich war es sogar Brents Idee gewesen, aber Stefano hat sie aufgegriffen, durch dekliniert, sich an ihr abgearbeitet. Brent ist nicht nachtragend und weiß so einen Einsatz zu respektieren. Im Nachhinein betrachtet, war es wirklich naheliegend. Die Kartoffeln mit Salzkruste erinnerten Brent an Salinenfelder, die er auf seiner Reise in Südfrankreich gesehen hatte. Eine tödliche, gleißend weiße Landschaft, mit einer dicken, festen Salzkruste überzogen, die Erde, Pflanzen und Steine in ihre krümelige Todesfinger nahm. Es wurde ein langer Abend, an dem sie viel tranken. Eines führte zum anderen und am Ende hatte Stefano die Idee, Alltagsobjekte mit einer Salzschicht zu überziehen. Zuerst war es nur ein Besteck, Messer, Gabel und Löffel, die er mit eine Salzschicht überzog, testweise, und dann eine Leinwand, Stillleben mit Tomate drapierte. Das war natürlich ironisch gemeint, aber ihr damaliger Dozent bemängelte die Selbstbezüglichkeit der Arbeit. Später kamen noch Blätter aus Papier dazu, die sich zu dünnen, flachen Salzschichten verwandelten. Die letzte Arbeit war der Kotflügel eines Schrottautos. Die Idee war gut, Stefanos Umsetzung ebenso. Den salzige Kotflügel verkaufte er sogar, was ihm neben dem Geld ein einseitiges Interview in der Samstagsausgabe der Tageszeitung einbrachte. Brent freute sich mit Stefano über diesen Erfolg, aber er machte sich auch darüber lustig, in dem er ihn immer wieder daran erinnerte, dass sein Salzflügel im Ausstellungsraum eines Autohändlers lag, was niemand an ihrer Schule für eine angemessene Präsentation hielt.

      Stefano leert seine Flasche und starrt Brent einen zu langen, für ihn aber wahrscheinlich dramaturgisch durchdachten Augenblick in die Augen.

      »Also wenn ich ganz ehrlich bin… Für mich sah es aus, als ob du zugeschlagen hast. Ich meine, das ganze Ding war darauf ausgelegt, den Bezug zum Boden so fragil wie möglich zu gestalten, das eigene Gewicht und die Schwerkraft zu leugnen, die an jedem Fragmente gezogen hat. Man fragte sich doch ununterbrochen,