Dominik S Walther

Resonanzfrequenz


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ihm nicht. Ihre Hand auf seiner Schulter, leicht gewölbt, wie Carmens Hand vor Minuten in der Luft. Widerstand ist zwecklos, aber er hat das Recht zu schweigen. Alles, was er sagen könnte, würde ohnehin gegen ihn verwendet werden. Selbst von ihr. Wenigstens kann sie mit seinem Schweigen umgehen. Brent und Lucia schweigen in der Sonne. Es hätte romantisch sein können, wenn er nicht fortwährend darum kämpfen müsste, nicht unter den erneut auf ihn ein brandenden Wellen aus Sympathie zu ertrinken. Um sich vor der Gefühlssturmflut seiner Freundin zu retten, fängt Brent an, zu erklären. Sie hat ihn nicht gefragt, aber er spürt, dass sie diese Frage trotzdem in sich trägt. Vielleicht erklärt er es auch nur sich selbst. Das macht im Augenblick keinen Unterschied.

      Es sind diese beide Sätze, die seit Tagen in seinem Kopf Achterbahn fahren. Brent fragt Lucia, ob sie das erste Newtonsche Axiom kennt. Die Intensität ihrer emotionalen Brandung nimmt augenblicklich ab. Das muss er sich merken. Für einen viel zu kurzen Moment bekommt Brent Luft. Lucia denkt nach. Dann legt sie erneut los. Sie pegelt die Lautstärke ihrer Gefühle wieder nach oben und brüllt Brent einfach nieder.

      Das Erste Newtonsche Axiom besagt, dass jeder Massepunkt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung auf einer geradlinigen Bahn verharrt. Das gilt, solange keine Kräfte auf ihn einwirken.

      Brent wartet, ob der Satz ihm ein wenig Ruhe verschafft. Er spürt die Sonnenstrahlen auf sein Gesicht brennen und Schweiß die Innenseiten seiner Arme hinunter laufen. Da ist noch ein zweiter Satz, erklärt er Lucia. Man definiert eine Kraft als die Ursache einer Beschleunigung. Oder anders formuliert: eine Kraft ruft eine Beschleunigung hervor, solange keine Gegenkraft wirkt.

      Lucias Wellen schlagen an ihn heran. Sie unterspülen die schwindende Sicherheit seiner Sätze. Selbst wenn es nur für eine kurze Zeit gewesen ist, so war es doch eine Sicherheit. Um sich die fragile Stabilität noch ein wenig zu bewahren, konzentriert sich Brent, wirft die Satzbestandteile in seinem Kopf durcheinander und schaut, ob sich aus ihnen etwas Neues ergibt. So ist das in den Wissenschaften, denkt Brent, man muss das Bekannte so lange betrachten, bis man etwas Neues an ihm entdeckt.

      Es ist schwül. Hochdruckwetter. Kleine Wolken stehen am Sommerhimmel. Cumulus humilis. Klassische Schönwetterwolken. Das heiße Wetter wird andauern.

      »Ich mache mir Sorgen um dich, Brent.«

      Die Möbiusbänder seiner Nächte werfen kaum sichtbare Schatten. Zwei parallele Hügelreihen laufen in immer gleichem Abstand nebeneinander her. Gäbe es keine Ecken, könnte man sie als Parallelen bezeichnen. Aber Parallelen treffen sich in der Unendlichkeit, wohingegen Brents Schlafzimmer, das ist das Problem der parallelen Hügelreihen, vollkommen endlich ist. Wobei Schlafzimmer, wenn man es ganz genau nimmt, auch eine irreführende Bezeichnung ist. Die falschen Stuckbahnen an der Decke werden sich niemals begegnen. Styropor–Träume. Im fahlen Licht das durch das offene Fenster zusammen mit der Hitze und den Geräuschen einer sternklaren, warmen Frühsommernacht herein dringt, sind sie kaum voneinander zu unterscheiden.

      Eines jener unergründlichen Rätsel. Warum kleben halbrunde Styroporgeraden an der viel zu niedrigen Decke? Man könnte sie für Stuck halten, aber diese Neubauwohnung in der Vorstadt stammt aus den siebziger Jahren. Damals hatte man andere Vorlieben. Vielleicht wollte der Vermieter mit den Attrappen aus Styropor den Wohnwert steigern? Brents Augen fahren das Rechteck über ihm erneut entlang. Den Weg zum Fenster. Die Konturen schärfen sich im schwachen Nachtlicht. Am Fenster vorbei, zur anderen Zimmerecke und die Decke wieder hinunter. Einen Augenblick des Verschnaufens, wenn die Augen senkrecht nach oben starren. Kurzes Einrasten. Brent im Hier und Jetzt. Dann weiter bis in die hintere Ecke und über die Tür hinweg. In der Dunkelheit verschwimmen die Leserillen zur grauen Fläche. Aber Brent kennt ihren Verlauf genau, er bleibt ihnen treu wie dem täglichen Abendritual: Hinlegen, Lucia einen Kuss geben, Warten bis ihre Atemzüge ruhig und sanft geworden sind, auf den Rücken legen, Warten.

      Wieder und wieder fahren seine Augen die unklaren Zeilen über ihm ab, lesen die Dunkelheit auf der Suche nach einem Geheimnis, dass ihm vorenthalten wird. Brents Blicke haben nie auch nur einen Millimeter dieser Stuckbahnen auf seiner nächtlichen Wanderschaft abtragen können. Im Gegenteil. Vielmehr hat sich das Rechteck der Deckenverzierung in seine Augen eingebrannt, wie die fest gefrorene Bildschirmanzeige eines abgestürzten Computers. Es hat sich in die Bewegungsmuskulatur seiner Augen eingeschrieben. Ein Körperwissen, wie Radfahren, das man nicht wieder verlernt. Brent bemerkt tagsüber immer öfter, wie sich das Rechteck seiner nächtlichen Ruhelosigkeit in das Gesichtsfeld einschiebt, wie die Perspektiven von Gebäuden, Konturen von Straßen oder Bäumen sich mit den imaginierten Stucklinien überdecken, an diesen gemessen werden. Seine Augen finden auch tagsüber keine Ruhe.

      Diese verdammte Schlaflosigkeit. Nachts treibt sie ihre hinterhältigen Spiele. Nachdem sich erst Müdigkeit wie flüssiges Blei auf seine Augenlider legt und ins Gehirn tropft, bis an Lesen, Reden oder Arbeiten nicht mehr zu denken ist, beginnt das Herz einen rücksichtslosen Rhythmus zu hämmern, kaum dass Brent sich dem Schlafzimmer nährt. Er hat es mit Tee probiert und mit Schlaftabletten. Ohne Erfolg. Und das Schlimmste daran ist, dass es auch die Tage in Mitleidenschaft zieht. Durch der Tagesmüdigkeit sieht Brent die Welt wie hinter einer dicken Schicht aus Watte. Der eigene Körper irgendwo, ortlos, die Reaktionen verlangsamt und die Wahrnehmung verschleppt. Erst wenn er angerempelt wird, bemerkt Brent manchmal, dass sein Körper noch vorhanden ist, dass er Raum einnimmt.

      Eine Filmszene. Oder ein Traum auf der Schwelle zwischen Wachen und Einschlafen? Mit den anderen im Kino. Ein Mann in einem plüschgelben Vogelkostüm rennt einer Straßenbahn hinterher. In ihr sitzt die Frau, die er liebt, mit Tränen in den Augen. Auf viel zu großen Füßen rennt der Vogel ohne Aussicht, sie jemals einholen zu können. Das Gefühl, zu spät zu sein. Nichts dagegen tun zu können. Als der Vogelmensch den Plüschkopf abnimmt und darunter der verschwitzte Kopf eines Menschen zum Vorschein kommt und die Frau zu lächeln beginnt, fängt die Wut an. So ist es nicht. So ist es nie! Das ärgert Brent furchtbar. Er hasst es, wenn es sich Filme zu leicht machen. Selbst jetzt noch, auf der Suche nach den weit auseinander liegenden Inseln mit Schlaf kann Brent diese Wut in sich glimmen spüren, die es ihm unmöglich gemacht hat, nach dem Kino mit seinen Freunden über den Film zu reden. Ein feiger Film.

      Lucia räkelt sich neben ihm leise im Schlaf. Ein Seufzen. Oder ein Keuchen. Brent schämt sich seiner Wut. Er will sie nicht wecken. Nicht wegen so einer blöden Sache. Im Sternenlicht kann er ihre Augäpfel unter den geschlossenen Lidern in kurzen, ruckhaften Bewegungen tanzen sehen. Ein Flattern schüttelt ihre Lider. Die Brauen heben sich unmerklich. Lucia träumt.

      Mit Lucia zusammen zu leben erfordert gewisse Regeln. Sie ist kein einfacher Mensch, auch wenn sie jedem auf den ersten Blick so erscheint. Das hat auch Brent erst lernen müssen. Sie ist ein leidenschaftlicher Mensch, aber dabei sehr heimlich. Selten formuliert sie ihre Ansprüche, das macht das Zusammenleben anstrengend. Sie lässt Brent Schritt für Schritt herausfinden, was er wissen muss. Inzwischen hat Brent gelernt, damit umzugehen, die Heimlichkeit zu respektieren oder zu teilen. Das Zusammenleben wird einfacher, wenn man vermeidet, nicht lösbare Probleme zu thematisieren. Manchmal muss man eben erst einmal selbst nachdenken, bevor das Reden beginnen kann. Nur heute hatte sie sich damit scheinbar nicht zufrieden geben können. Sie fragte. Sie insistierte sogar. Dann kamen die Tränen in ihren Augen, die Brent verunsicherten. Als ihre Stimme zu brechen begann, wusste er sich nicht mehr zu helfen. Brent hatte jede Steigerung mit höchster Verwunderung beobachtet und sich gleichzeitig immer einen Schritt weiter zurück gezogen, so dass ihr am Ende nichts mehr übrig blieb, als ihm die Freiheit zu lassen, die er braucht. Dieser Mechanismus hatte sich über die Jahre eingespielt und nur aufgrund dieser Rücksicht war es überhaupt möglich, ihre immer wieder überbordende Emotionalität zu ertragen.

      Erst wenn er bereit ist, kann sein Reden anfangen, nicht wenn sie es einfordert. Zum Reden braucht es Klarheit. Ohne den Rückhalt eines Konzepts würde Lucia Brent mit ihren Gedanken und Rückfragen zu stark ablenken. Wie die kleinen, brennenden Metallstreifen, die ein Flugzeug aus stößt um anfliegende Raketen mit Wärmesensor zu irritieren. Es gelingt ihr, ihn immer wieder im Kreis herum und dann ins Leere Laufen lassen zu lassen, bis sein Treibstoff am Ende ist und er sich mit einem der Ablenkpartikel begnügt. Und alle das, bevor überhaupt klar geworden