Dominik S Walther

Resonanzfrequenz


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er im letzten Semester geformt hatte. Zwei Schritte bringen ihn bis an die Truhe, er der er die Skizzen und Vorstudien seiner ersten beiden Semester versteckt hält, an Lucias Ölgemälde aus dem dritten Semester vorbei, dem einzigen Großformat in ihrer Wohnung. Nie wieder hat Lucia eine so große Fläche bemalt, und Brent hat für Öl sowieso nichts übrig. Vor der Schlafzimmertür lehnt Lucias Rucksack mit den Skizzenbüchern, den Brent beim Aufziehen der Tür noch gerade mit seinem Fuß vom Umfallen bewahren kann.

      Die Zeichnungen liegen im Wohnzimmer vor der alten Couch auf dem Boden verstreut. Die Versuche des Abends. Brent hatte an ihnen gearbeitet, bis Lucia nach Hause gekommen war. Es war ein Versuch, die Spannung abzubauen. Er hatte nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war. Die Kohlepartikel flossen direkt aus seinem Arm aufs Papier, arrangierten sich dort zu Flächen und Formen. Über die einzelnen Bögen hinweg arbeitete Brent, ohne Begrenzung, an einer großen Collage. Er wusste nicht, was sich durch ihn hindurch ereignete. Gefühlszeichnen, nennt Brent das, wenn der Kopf ausgeschaltet ist und der Körper zum Medium einer durch ihn fließenden Energien wird. Was dabei entsteht, entzieht sich der bewussten Kontrolle. Im Nachhinein staunt er dann selbst, was in dieser Abwesenheit entstanden ist.

      Schon bevor Lucias Schlüssel an den Metallzähnen des Haustürschlosses schabte, hatte Brent einen Energietiefpunkt erreicht. Mit Lucia in der Wohnung wurde es noch schwieriger. Ihre Anwesenheit stoppte den Fluss der Energie, bog ihm um in andere Kanäle. Brent begrüßte sie mit einem Kuss und sie setzten sich in die Küche, wo sie rauchten und die Reste einer Flasche Wein tranken. Natürlich wollte sie mit ihm über den Tag reden. Bis sie schließlich aufgab und wie zum Trotz von ihrem Freitagabend erzählte. Lucia ließ Brent an ausgewählten Fragmente von Carmens Liebesleben teilhaben. Aber er erfuhr dabei nichts Neues. Es gab diese Gerüchte schon lange, und sie waren nie weit von der Realität entfernt. Carmen besuchte ihren Dozenten nicht nur, um mit ihm über ihre Arbeiten zu sprechen. Keine Neuigkeiten sind schlechte Neuigkeiten. Brent gab sich nur mäßig begeistert.

      Lucia muss sein Zögern völlig falsch verstanden haben und begann Brent erneut nach dem Vorfall am Morgen gefragt. Brent musste ihr erst mühsam erklären, dass er mit den Gedanken noch beim Zeichnen gewesen war und sie ihn falsch verstanden hatte. Brent war selbst darüber erstaunt, dass es in seinem Denken keine Rolle spielte, was in der Schule passiert war. Und er wollte nicht mit Lucia darüber sprechen. Noch nicht. Brent wollte den Überraschungseffekt gezielt einsetzen.

      Sie hatten das Missverständnis geklärt ohne die Verärgerung groß werden zu lassen. Danach waren sie wie immer gemeinsam ins Bett gegangen. Einer jener kleinen Kompromisse einer dauerhaften Beziehung. Brent weiß, dass er nicht einschlafen wird, aber Lucia mag es, die Schwere seines Körpers neben sich zu spüren. Sie genießt die Verbindlichkeit des kleinen Rituals.

      Die Uhr am Videorekorder zeigt blinkend weit nach Mitternacht. Brent hatte recht, er ist viel zu erschöpft zum Lesen. Unruhe und Müdigkeit halten ihn gefangen. Manchmal ist dieser Zustand gut zum Zeichnen. Brent beginnt vorsichtig, dort weiter zu machen, wo er vorhin aufgehört hatte.

      Durch die geöffneten Fenster dringt kein Luftzug. Windstille. Die Fauna zirpt, vom Sommerhitzetod des Tages erweckt. Gedankenverloren beginnt Brent Flächen neu zu organisieren. Er knetet und wärmt die dunkelgraue, formlose Masse, mit der er die dunklen Flächen wieder aufhellen kann. Er arbeitet weiße und graue Striche in die dunklen Flächen hinein. Ränder verschmieren, feste Formen weichen auf. Es will ihm nicht gefallen. Brent wendet sich dem nächsten Bogen zu.

      Das Zimmer hält die Hitze des Tages. Brents Kniekehlen sammeln Feuchtigkeit, Schweiß läuft an seinen Beinen herunter und tropft langsam auf den Teppich. Jeder menschliche Körper strahlt Wärme ab, die der umgebende Raum aufnimmt. Schon die körperliche Anwesenheit eines Menschen erhöht die Raumtemperatur merklich. Zwei Menschen erhitzen einen Raum doppelte so schnell, wie einer alleine. Sechs Menschen ersetzen eine Heizung. Seit Lucia die Wohnung betrat, hat sich die Raumtemperatur graduell erhöht. Zusammen wehren ihre Körper die Kühle der Sommernacht ab.

      Der menschliche Körper ist fragil. Der Organismus funktioniert nur unter geringen Toleranzwerten normal. Ein zerbrechliches Gleichgewicht. Sinkt die Körpertemperatur zu tief, stellt der Organismus seine Arbeit ein. Aber auch ein Zu–viel ist tödlich. Steigt die sie über einen Maximalwert, beginnen sich die Zellen selbst zu zerstören. Es ist nur ein schmaler Grat, auf dem ein reibungsloses Funktionieren gewährleistet ist.

      Brent ist auch mit der nächsten Zeichnung unzufrieden. Er blickt zur ersten zurück, sieht was die Veränderungen angerichtet haben. Das Gleichgewicht der Fläche ist zerstört, die Formen sind irreparabel geschädigt. Beide Zeichnungen nicht mehr zu retten. Ärgerlich knüllt Brent sie zusammen und wirft sie in Richtung des Mülleimers. Sie hatten Potenzial gehabt. Brent lässt die Zeichenutensilien liegen und schenkt sich in der Küche einen Whisky ein.

      Man muss Feuer mit Feuer bekämpfen.

      Es brennt die Speiseröhre hinunter bis in den Magen. Die gefühlte Wärmeabgabe seines Körpers steigt sprunghaft. Ein Ganzkörperschweißausbruch folgt, den Brent hilflos über sich ergehen lässt.

      Mit einem weiteren Whisky setzt sich Brent auf das Sofa im Wohnzimmer. Die Zeichnungen zu seinen Füßen sind fremd geworden, sie bedeuten nichts mehr. Er schließt die Augen, aber die Müdigkeit arbeitet gegen ihn. Sie schießt zufällige Gedanken quer durch seinen Kopf. Das Seminar: das Krachen des Zusammenstürzenden Konstrukts. Stefanos Arbeit. Hat er die Laufschuhe schon sauber gemacht? Ein Geschenk für Lucia, die in sechs Wochen Geburtstag hat. Bis dahin wird alles anders sein. Das Semester wird vorbei sein, das Studium beendet. Seine Freunde in alle Himmelsrichtungen verstreut. Bis dahin müssen Entscheidungen getroffen werden. Zukunft muss geplant sein. Hat Lucia Butter eingekauft?

      Brent versucht sich auf das Heben und Senken seines Brustkorbs zu konzentrieren. In ihm hört er die brennende Stimme des Whiskys. Im Fenster flackert der wolkenlose Sommernachthimmel über einer sich nur unwillig abkühlenden Erde. Brents Zeiten als Hobbyastronom sind lange vorbei, trotzdem genießt er weiterhin den Anblick eines klaren Sternenhimmels. Man fühlt sich unbedeutend angesichts der milliardenfachen Möglichkeiten. Es gab nur wenige romantische Situationen, in denen Brent sein Wissen anwenden konnte. Die Köpfe zusammen am ausgestreckten Arm entlang einen Stern peilen, das hatte auch bei Lucia funktioniert. Brent grinst, als er sich an ihren ersten, flüchtigen Kuss erinnert. Er mit Lucia in der Kälte auf der Bank vor dem Schulgebäude. Er hatte so getan, als ob ihm die Sternbilder noch vertraut seien. Dabei lag das kleine Spiegelteleskop schon seit Jahren unberührt im Keller seiner Eltern. Brent erfand einige neue Sternzeichen. Lucia gab sich beeindruckt. Und eines führte zum anderen.

      Die Müdigkeit setzt Brent zu. Sie verhindert jede Konzentration, sie lässt die Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Das Wirbeln im Kopf setzt ein. Ein Teil von Brent befindet sich noch immer auf Reise. Das Zusammenleben war ihm nicht leicht gefallen. Schon das Sesshaft–werden war nach zwei Jahren, die er hauptsächlich mit seinem Rucksack in verschiedenen Ländern verbracht hatte, eine Herausforderung gewesen. Es fiel ihm leichter, weil Brent sich fest vornahm, während der Semesterferien weiter zu reisen. Aber schon bevor er mit Lucia zusammen gezogen war, hatte sich das nicht mehr ergeben.

      Brent hatte dieses Studium gewollt. Nicht nur um seine Eltern zu irritieren. Er hatte den Wunsch nach einem neuen Kraftzentrum gespürt. Einer Aufgabe. Nach zwei Jahre war selbst das Reisen langweilig geworden. Giulio und Julia waren die Auslöser, aber es traf sie keine Schuld. Brent hatte das italienische Pärchen in Madrid kennen gelernt und war mit ihnen durch Andalusien gereist. Drei Monate später trafen sie sich wie verabredet in einem kleinen, heruntergekommenen Hostal in Patagonien. Dort wurde das Gefühl von Distanz nur noch größer, das Brent in Andalusien als Schüchternheit zu ignorieren versucht hatte. Nach Südamerika hörte er auf, ihre Mails zu beantworten, weil er nicht mehr das Gefühl hatte, etwas Gemeinsames mit ihnen zu teilen. Er vergaß sie. Acht Monate später begegnete er ihnen zufällig in einem Café in Kalkutta wieder. Zuerst freute er sich und sie verbrachten den Tag zusammen. Fast nahtlos setzten sie ihre Gespräche von früher fort. Es war als ob Marokko, Tunesien, Ägypten, Nigeria und Südafrika nicht stattgefunden hätten. Dann stellte sich heraus, dass sie im gleichen Hotel wohnten wie Brent. Der Reiseführer war stärker als alle Gefühle von Sympathie oder Antipathie. Nach drei Tagen packte Brent seine Sachen und verschwand,