Ole Engelhardt

Der Mann, der einmal einen Wal gewann


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genommen gibt es gemessen an der geringen Menge, die ich von Igor weiß, überproportional viel, was ich nicht an ihm mag. Als da wäre sein Fahrstil, seine morgendliche Fahne, was Ersteres in der Regel noch verstärkt, sein Beharren auf Fahren nach seinem nicht sehr berlinkundigen russischen Navi, was uns jeden Morgen einen 20-minutigen Umweg über das Banlieue Berlins bescherte, seine nie alt werdende Ausrede dafür ( „Tschuldigung Chef, ich bin nicht von hier, muss Navi folgen“ ) und dass er mich jeden Morgen mit „guten Morgen mein Führer“ begrüßte, nachdem er einmal ein Prosawerk über das dritte Reich gelesen hatte, bei dem das Buchcover von irgendwelchen mir nicht sonderlich gut gesinnten Protestwählern mit meinem Konterfrei getauscht wurde. Aber all das war nicht wirklich schlimm. Das sind alles eher so Sachen, die man nur schlimm findet, wenn es draußen gerade regnet und nichts im Fernsehen läuft. Alles ertragbar.

      Wir haben noch einen Schnaps getrunken zusammen und dann fuhr er weg. Beziehungsweise nicht bevor er noch 3 weitere Schnäpse getrunken hatte. Ich werde seine Fahne vermissen.

      Doch ich konnte ihm diese Monotonisierung meines Alltags, der vorher niemals unter „Alltag“ firmieren durfte, sondern eher unter „Immer-Anders-Tag“ lief, nicht antun. Sahen meine Tage vorher noch exemplarisch so aus:

      (P) 4:30 ( dt. Zeit ), Aufstehen, Berlin

      (P) 5:00 ( dt. Zeit ), Briefing, Kanzleramt

      (P) 5:20 ( dt. Zeit ), Flugzeugstart, Flughafen

      (P) 14:20 ( lokale Zeit ), Verhandlung über neues Rüstungsabkommen, Regierungssitz Riad

      (P) 16:00 ( lokale Zeit ), Pressekonferenz, Hotel Riad

      (P) 17:00 ( lokale Zeit ), Flugzeugstart, Flughafen Riad

      (P) 18:30 ( lokale Zeit ), Vorbereitung Konferenz, Doha

      (P) 21:30 ( lokale Zeit ), gemeinsames Abendessen, Hotel Doha

      (W) 02:30 ( lokale Zeit ), Schlafen, Hotel

      (P)4:30 ( lokale Zeit ) , Aufstehen

      So ähnelten meine Tage nun dem Werk eines Fotografen, der so stolz ist auf sein geschossenes Bild, dass er es niemals durch ein anderes ergänzen möchte:

      (W) 10:00 Aufstehen, Zuhause

      (W) 23:59 Hinlegen, Zuhause

      Meiner finanziellen Abgesichertheit geschuldet, entfiel sogar der Wechsel von (W) Wahl und (P) Pflicht, denn mit einem fünfstelligen Einkommen wird alles zur Wahl. Der größte Unsicherheitsfaktor momentan ist, ob ich vor dem Fernseher, am Küchentisch oder tatsächlich im Bett einschlafe.

      Nein, das hat Igor nicht verdient. Und sowieso, wenn man abschließen möchte und etwas Neues beginnen möchte, dann muss eben alles weg. Nicht nur die gestellte Wohnung, das gestellte Auto, das gestellte Büro, das gestellte Lächeln. Nein, auch der gestellte Igor.

      „Tschüss mein Führer“, waren seine letzten Worte. Ich bin mir sicher, irgendwo da draußen wartet jemand anderes, der einen russischen alkoholkranken autofahrenden Terminkalender gut gebrauchen kann.

      Ganz bestimmt.

      Ist es denn nun endlich genug der vielen Fragen ? Die Couch wird langsam unbequem, ich möchte anfangen.

      Beeindruckend wie der Chef, Herr Sauselhaar, diese ganze Reportermeute scheinbar allein mit der puren Kraft seines linken Armes aus der Tür drückt, diese dann mit einem Wums mit rechts zuknallt und mir dann noch Sekunden vor dem Knall wiederum seine immens starke Linke reicht. „Sauselhaar, was für eine Ehre Herr Kanzler, ehemalig, also Herr Kanzler a.D.“. Ich bin noch leicht eingeschüchtert und befürchte gleich meine Hand zerquetscht zu bekommen. Auch klang sein a.D. eher wie Addi, was ihn ein wenig wie einen hitlerverniedlichenden Altnazi erscheinen lässt, doch trotzdem entschließe ich ihm meine Hand zu reichen. Und ja, sie bleibt dran.

       - Wieso eigentlich gerade diese Firma, Herr Kanzler, Herr a.D.?

      - Sind Sie immer noch hier ?? Ich zahl aber nicht mehr, die Stunde ist schon längst vorbei, das ist jetzt nur noch Ihr Privatspaß. Und sowieso, da gibt es eigentlich gar nicht viel zu erzählen. Kein Vitamin B oder so. Ganz altmodisch in der Zeitung, irgendwie hatte ich das Bedürfnis bei meiner Suche auf einen PC zu verzichten. So als sollte sich mein Neustart von ganz unten quasi evolutionsbiologisch spiegeln. Keine Elektrizität, kein Headhunter, kein gar nichts. In meinem völlig verdunkelten Appartment saß ich über der Zeitung, die nur durch ein klammes Kerzenlicht erleuchtet war und ging die Samstagsanzeigen durch. Das erste Mal in meinem Leben. Und weil ich nach 10 Minuten keine Lust mehr hatte, nahm ich mir vor, die Anzeige mit dem wenigstens Text auszuwählen.

       Sie sind: International ? Schiffe ? Versicherungen ? Englisch ? Mittelstand ?

       Dann sind Sie Lindenburg Marine - Versicherungsmakler !

      Ja ! Ja! Ja! Ja! Und verdammt Ja!

      Endlich wusste ich, was ich bin. Und schon musste ich es wieder abgeben. Denn natürlich konnte ich mich nicht unter meinem eigenen Namen bewerben. Als Kanzler kann man nicht von 0 starten. Entweder man wird geliebt , gehasst oder gelyncht. Ich möchte nichts davon. Ich möchte ausprobieren, ich möchte lernen, ich möchte wissen, was Menschsein heute heißt.

      Am nächsten Tag steckte ich die Bewerbung des netten Herrn Gunnar Ganslaars in den Briefkasten. Ich wählte extra den am weitesten von meiner Wohnung entferntesten. Ich ließ mich von Igor dort hinfahren. Es war seine letzte Fahrt. Er war sehr stark betrunken, als er wegfuhr. Ich auch. Eigentlich weiß ich auch nicht, warum er wegfuhr, ohne mich vorher nach Hause zu fahren, das war glaube ich nicht der Plan. Keine Ahnung, wie ich dann nach Hause gekommen bin. Wie gesagt, ich war durchaus betrunken.

      Und jetzt stehe ich hier. Habe überlebt, habe noch alle zwei Hände an meinen zwei Armen. Und stehe vor einem breit grinsenden Chef eines auf kommerzielle Seeschifffahrt spezialisierten internationalen Schiffsversicherungsmaklers. Vielleicht hätte ich mich vorbereiten sollen.

      Der Morgen fing schon nicht gut an. Eigentlich wollte ich hier mit meinen grünen absoluten Lieblingssocken stehen. Die hatte ich schon bei meinem Abi-, bei meinem Uniabschluss, bei meiner Aufstellung zum Kanzlerkandidaten, bei der Vereidigung und beim Angrillen letztes Jahr an. Die bringen Glück. Oder zumindest konservieren sie Glück. Aber ich habe sie nicht gefunden. Und nun stehe ich hier mit so langweiligen schwarzen Socken in noch langweiligeren schwarzen Schuhen. Und schwarzem Anzug. Und schwarzen Haaren – mein Gott, was ist bloß los mit mir, bin ich jetzt Gothic geworden?

      Und dann ist es auf einmal still. Wir, das sind 78 mit angrinsende Gesichter, Herr Strauselhaar, der schon nicht mehr nur grinst, sondern sein Gesicht so nach hintenzieht, dass es wehtun muss, und ich. Wir alle stehen in einem Kreis, so als wollten wir uns gleich die Hände reichen und anfangen zu singen. Doch das wird nicht geschehen. Herr Strauselhaar tut so als würde er mit dem hinteren Teil eines Löffels, den er nicht in der Hand hat, gegen ein Glas ticken, das er nicht in der Hand hält. Dann ist es noch stiller als es sowieso schon war. Draußen hört man Autos vorbeisausen, ich habe keine Ahnung von Autos, aber ich glaube, sie sind schnell. Herr Strauselhaar macht ein paar Schritte in den Kreis, er lässt sich Zeit, die wir mit unserem letzten Regierungsprogramm, so dachte ich, doch eigentlich wegrationalisiert haben wollten. Dann ist er angekommen. Nicht wirklich in der Mitte, aber anscheinend ist ihm das mittig genug. Er sieht mich an. Dann fängt er an zu reden. Was für eine Ehre es sei, wer hätte es geglaubt, keiner nämlich, und sowieso, schöner als ein 6er im Lotto, einen ganz großen Schritt nach vorn, Konkurrenz von einem Tag auf den anderen ausgestochen, Weltherrschaft. Nein, da habe ich mich glaub ich verhört. Kein Wunder bei dem tosenden Applaus. Ich höre die Autos nicht mehr. Ich sehne mir die Stille zurück. Dann tritt Herr Strauselhaar gefährlich nahe an mich heran. Er ist vollkommen verschwitzt, als käme er gerade aus so einem überheißen Sat1 – Spotlight oder so. Er legt seine triefend nasse linke Hand auf meine rechte Schulter und bewegt kurz seine rechte Hand zu meinem Mund. Dann fällt ihm aber doch ein, dass er kein Mikro in der Hand hält und er sagt völlig ohne akustische Verstärkung, dass nun, „meine Mitbürger und Mitbürgerinnen“, dafür gibt es noch ein 30 sekundiges überlautes Kichern, „nun ist es endlich so weit, nun spricht der Kanzler persönlich,