Ole Engelhardt

Der Mann, der einmal einen Wal gewann


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weiter.

      „Und hier“, verkündete Herr Strauselhaar nun äußerst feierlich, „hier ist Ihr Arbeitsplatz, Herr Kanzler.“ Stattliches Einzelbüro in Prämienabteilung A. Direkt neben Prämienabteilung D und Schadensabteilug C. Abteilungen B und C sind am anderen Ende des Büros. Keiner weiß den Grund dieser Anordnung, „historisch gewachsen“ heißt es, wenn man fragt. Auf seinem Schreibtisch thronte ein überdimensionaler Blumenstrauß signiert für „Sehr verehrter Herr PROKURIST Kanzler a.D. Gunnar Ganslaar. Als der Kanzler das sah, musste er husten. Herr Strauselhaar deutete das als Zeichen der Gerührtheit und nicht absoluter Peinlichkeit und sagte deshalb, „keine falsche Bescheidenheit Herr Kanzler.“ In diesem Moment fragte ich mich ernsthaft, warum er sich das antut. Warum er es sich gibt, einem solchen Vollidioten unterstellt zu sein, anstatt ein pflichtloses Rentnertum im besten Alter zu fristen. Vielleicht ist er wirklich schlauer als wir alle zusammen.

      Wir gingen nun zurück zum Ausgangspunkt. Dabei passierten wir direkt Schadensabteilung D, gerade nur besetzt von Sandra, die Neue, die Junge. Sie schaute hoch von ihrem PC und grüßte uns, oder mehr den Kanzler. Der sagte einige Sekunden später mehr zu sich als zu uns, sie trägt ein schönes Gesicht. Mir gefiel dieser Ausdruck, ein schönes Gesicht tragen. Auch wenn er das damit vielleicht gar nicht sagen wollte, bringt es doch auf den Punkt, dass keinem seine Schönheit verinnerlicht ist, sondern dass wir sie alle nur tragen, von Gott geliehen quasi. Genauso vergänglich wie bekömmlich. Eine erste Lektion des Kanzlers?

      „Ich habe Hunger und Sie?“. Herr Strauselhaar starrte dabei ganz fixiert den Kanzler an, als wolle er mir ganz klar signalisieren, dass mein Hungergefühl ihn einen feuchten Dreck scherte. Die Tür klappte zu und sie waren weg. Zumindest bei einem hatte ich eine außergewöhnliche Hoffnung, dass er wiederkommen würde.

      S一

      Du warst auf einmal weg, völlig ohne mir Bescheid zu sagen. Nicht dass du das müsstest, nicht dass es irgendeinen erkennbaren Grund dafür gäbe. Wir haben ja ohnehin kein Wort gewechselt an diesem Abend, kennen uns ja auch kaum. Einen Kanzler spricht man ja auch nicht einfach so an. Und das wäre dann ja so, als würde man die ganze Zeit mit seinem Lieblingsteddy spielen und dann kurz bevor man schlafen geht, kriegt doch der komische plauschige Bernadienerhund einen Gutenachtkuss. Quasi weil er halt Lieblingsplüschtier des Jahres gewählt wurde, um im Bilde deines Metiers zu bleiben. Aber weiß du, irgendwie dachte ich, gäbe es zwischen uns diese unausgesprochene Verbindung, die es zwischen zwei Menschen, die nicht da sind wo sie hingehören, immerzu gibt. Ich dachte, wir wären dieses bescheuerten Backpackertraveller, die immer auf der Suche nach möglichst remote Places ohne westliche Touris sind, die sich dann aber, wenn doch einer da ist, total überglücklich auf ihn werfen. Wie die rassistischen Schwarzen, die, wenn von Weißen umgeben, ohne sich zu kennen immer dem anderen Schwarzen zunicken. Ich bin kein Rassist, ich bin einfach nur betrunken und dachte wir würden uns heute noch sehen und uns eingestehen wie verloren wir sind. Ich dachte, heute Abend bin ich nicht mehr die einzige. Ich laufe vorbei an der großen Party, an der wie an jedem Abend ganz Hamburg teilnehmen zu scheint. Irgendwas lese ich von Molotows und von Udo Jürgens oder Lindenberg. Ich nehme das nicht wirklich wahr, ich weiß nicht warum, aber irgendwie suche ich nur dich. Kurz bin ich froh, denn in dem Kiosk kurz vor dem Rummel gibt es noch diese urige 0,33l Dose Hansa Knack. Ich atme sie weg und suche weiter nach dir. Der Rummel ist die Hölle, Zuckerwatte, Zahnspangen, Goldketten, Autoscooter, kein billiges Hansa Knack. Ich muss ihn schnell hinter mich lassen. Ich fand das übrigens gut, dass wir uns letztens getroffen hatten und mir ist es nicht peinlich, dass du mich gesehen hast, wie ich umherirrte wie eine Irre. Wie ich wagte, einfach nur rumzustehen, so ganz ohne Plan, so ganz ohne Iphone in der Hand, das jedem Nichtstun eine gesellschaftlich akzeptierte Legitimation gewährt. Es war mir nicht mal peinlich. Die Schanze ist noch voller als der bescheuerte Kiez. Es ist spannend zu sehen, wie in jeder Stadt in jeder Dekade diese Partykaravane von einer Straßenseite auf die andere fällt, weil es links nun auf einmal viel trendiger, lässiger und irgendwie angesagter ist. Als sei nicht alles das gleiche. Als gäbe es nicht überall das gleiche. Laute Musik, überteuerten Alkohol, Tische und Stühle, Menschen, die nicht auf der Suche nach anderen Menschen, sondern nur nach der eigenen Befriedigung sind. Ich laufe vorbei an einem dieser neumodischen Shisha-Stände, die gefährlich nahe daran gekommen sind, den Sprung zum Standardrepertoire einer Bar, die etwas auf sich hält, zu mutieren. Wenn ich Shishapfeifen und diese glühenden Kohlehaufen sehe, dann bin ich immer gleich im Mittelalter. Dann stehe ich in kurzer Distanz zum Scheiterhaufen und sehe wie einer rothaarigen Vollbusigen ein heißes Stück Kohle in ihren Vorbau gedrückt wird und die Meute es beklatscht, und dieses Spektakel in ihren Köpfen schon zu diesen Urzeiten viral geht. Auf dem Schulterblatt spielt eine Band, die mir ausnahmsweise sogar gefällt. Ich bleibe einen Moment stehen, lehne mich an den Stromkasten und höre ihnen zu. Ich lasse meinen Blick durch das eintrittsfreie Publikum schweifen und halte an. Denn auf einmal stehst du da. Du bist noch weit weg, ich sehe nur dein Profil, doch das musst du sein. Das musst du sein, der da auf der Rampe des Floraskatepark steht und den alle gebannt anstarren. Der dann diese unglaubliche Line fährt in völliger Dunkelheit. Ich möchte dir gratulieren und renne auf dich zu. Ich komme dir immer näher und entferne mich dabei noch viel schneller. Das bist nicht du. Du bist nicht dieser gut gebräunte langhaarige Blondie, der mit australischem Akzent davon erzählt how the second Kickflip was a little sketchy. Fick dich, fick dich, denke ich. Fick dich du scheiß Australier. Go back to your fucking Australia and be all work and travel or whatever you stupid Aussies do, whenever you’re not playing Rugby! Ich renne weg, will nur nach Hause, werde fast von einem Taxi überfahren, der in mir keinen laufenden Euroschein sieht, sondern nur eine verwirrte betrunkene, potenziell in sein frischgereinigtes Auto Kotzende. Während ich laufe und mehr Kioske als Menschen passiere, vibriert es in meiner Hose. „Ich bin hier oben“, schreibst du. Das erste Mal, dass ich froh bin ein Firmenhandy zu besitzen. Ich bin fast wieder auf diesem scheiß Rummel. Natürlich bist du da. Da steht diese Flasche Bier, das billigste in ganz Hamburg, wenn ich mich nicht irre. Und auf diesem 0,5 Ravensburg für 60 Cents, das ca. 4/5 geleert ist, steht „bitte trinke mich aus, mein Besitzer konnte leider nicht mehr, ich bin nicht giftig und stinke auch nicht aus dem Mund.“ Nie würdest du ein Bier einfach verwesen lassen. Ich blicke nach links und sehe nach oben auf diesen riesigen klotzigen Bunker. Ich sehe das Licht brennen und etliche Beine herunterbaumeln. Ich eile die Treppen hinauf und atme die erfrischende Höhenluft ein, als hätte ich gerade den K2 oder Kilimandscharo oder wie die Dinger alle heißen bestiegen. Ja, da bist du. Du fährst kein Skateboard du bist nicht braun, doch du bist ganz sicher nicht minder verloren als ich. Ich setze mich zu dir und zusammen schauen wir auf den Rummel, der von hier oben gar nicht mehr so scheiße aussieht, wie noch vor einigen Minuten.

      Man muss einfach mal weg sein, weißt du, sagst du. Ich habs nicht mehr ausgehalten, irgendwie ging mir das alles auf den Keks, die gute Stimmung, das plötzliche Dusein mit allen und der Glaube, dass wir alle Freunde sind und uns nächsten Montag nicht mehr hassen, wenn A aus Versehen auf Bs Drucker druckt. Ich lache darüber, dass du wirklich gerade „auf den Keks“ gesagt hast und erzähle dir von mir. Weißt du, was früher als kleines Kind immer meine größte Angst war? Immer wenn ich meine Ruhe haben wollte und mich in mein Zimmer einschloss, dann dachte ich, dass ich es überhaupt nicht in meiner Macht hatte zu bestimmen alleine zu sein. Ich konnte mich nicht verstecken. Ich stellte mir vor, dass die nervigen Schüler aus meiner Klasse jederzeit kommen könnten. Sie würden vielleicht nicht reinkommen können. Ich könnte mein Handy abstellen, das ich damals noch nicht besaß. Ich könnte die Klingel abstellen. Doch sie könnten sich einfach vor mein Fenster stellen und klopfen. Daran könnte ich nichts ändern. Ich wäre ihnen ausgeliefert. Sie könnten so lange klopfen wie sie wollen und das würden sie. Ich lag in meinem Bett und bildete mir ein, dieses Klopfen zu hören. Mit voller Wucht gegen meinen Kopf, immer wieder. Solange man kein freier Vogel ist, können sie immer wieder kommen und klopfen und du kannst nichts dagegen machen. Weißt du?

      Du nickst und sagst mit deinen Augen, dass du genau verstehst, was ich meine. Über uns schwebt eine Herde mir unbekannter Vögel und einer von denen scheißt ungefähr zwei Zentimeter neben deine linke Arschbacke. Du möchtest ihm eine verpassen, doch da ist er schon weg. Auf seinem Weg nach Mexiko oder Costa Rica oder Puerto Rico. Ich war noch nie in Südamerika. Ich lebe in einer Wohnung