Ole Engelhardt

Der Mann, der einmal einen Wal gewann


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Arsch. Also wenn ich sage, dass ich nicht mehr essen kann, dann ist das natürlich rein von der Sache her falsch, denn du siehst ja sehr wohl, wie ich hier esse. Nur, das Ding ist, früher hab ich das echt gern gemacht, ich war nicht fett oder so, aber ich hab echt gern gegessen. Der Punkt ist, ich habe mehr das Essen genossen als die Vorfreude auf das Essen. Und genau das ist heute nicht so. Heute ist meine Vorfreude so viel größer, dass das Gefühl beim Essen nicht mehr als Freude durchgeht. Essen ist der Höhepunkt meines Tages, ist das nicht traurig ja? Und weil es mein Höhepunkt ist und mir signalisiert, dass davor und vor allem danach nichts mehr kommen wird, genau deshalb schwimmt in dieser Freude beim Essen auch schon zeitgleich die Trauer mit, dass hier nach einfach nichts mehr kommt. Wie kann man einen Höhepunkt genießen, wenn danach der Fall kommt. Wie kann man lachen, wenn man gleich geschubst wird und hart auf dem Boden landet? Seit geraumer Zeit, man das hört sich an, als würde ich ein Buch schreiben, aber so rede ich nun mal, seit langer Zeit sind es nur noch unsere Grundbedürfnisse, die mir Freude bringen: Essen, Niesen, Kacken.“ Der Mann, der bisher schnurstracks auf sein Cordon Bleu gestarrt hatte, schreckte aufgrund dieser Obzönität auf und wusste für einen Moment gar nicht, ob er grad vor Schreck das Cordon oder das Blaue verschluckt hatte. Er musste sie doch sehr bitten. Doch er sagte nichts, denn er war höflich und mehr als Räuspern war nicht drin. „ Weißt du, was das übersetzt eigentlich bedeutet? Das bedeutet doch eigentlich nicht viel mehr, als dass ich keine Freude an der Freude habe, sondern nur Freude an dem Verlust von Schmerz. Alles andere bringt gar nichts, alles andere wird einfach hingenommen. Probier doch mal, sag mir... weiß nicht, dass ich im Lotto gewonnen hab oder so.“

      Der Mann, der ziemlich dick war und deshalb eine große Ladung auf seinem Teller hatte, befürchtete, dass dieses Gespräch nie enden würde. Er fing an zu schwitzen, denn auch für ihn bildete Essen seit geraumer Zeit den Höhepunkt seines Tages. Anders jedoch als Sandra hat er es bisher nicht geschafft aus dieser Banalität eine negative Ableitung für sein übergewichtiges Leben zu ziehen. Er überlegte kurz, „ich mag essen und das ist auch gut so.“ Dann schaute er auf ihr T-Shirt, ein Wirrwarr aus Buchstaben und Zahlen. Er musste nicht mehr lügen. „Wenn mich nicht alles täuscht, meine Liebe, haben Sie heute im Lotto gewonnen!“ Der Fiktion bewusst, breitete sich in seinem Körper trotzdem ein ungeahntes Gefühl von Spannung aus, man verkündet nicht jeden Tag einen fiktiven Lottomillionär. Sandra schaute ihn an und rührte dabei geistesabwesend in ihrem Teller. Ein Klops fiel vom Teller, sie hievte ihn schnell wieder auf den Teller. Der schwitzende Mann beobachtete dies genau. Er war angewidert. Seine Augen verfolgten minitiös, wo sie ihn hinpackte und was mit ihm geschah. Als sie wie in ein Diktiergerät buchstabierte „ich freue mich riesig“ und dabei den Klops wieder auf den Teller schaufelte, war er kurz davor aufzustehen. Doch er blieb und er hörte Sandra weiter gar nicht daran denken aufzuhören zu reden. „Freitod“ murmelte sie ohne erkennbaren Zusammenhang. Der Mann war verwirrt, erfundene Lottogewinne, fallende Klöpse und nun unergründbare Suizide. Und das an einem bisher so ruhigen Samstagabend, so ruhig, dass sich sogar die Bundesliga einen spielfreien Tag gab. Er schaute umher, spähte, ob er nicht irgendwo einen Zusammenhang oder zumindest eine versteckte Kamera entdecken konnte. Sandra fuhr fort, „ als wäre irgendetwas frei. Hast du darüber schon einmal nachgedacht? Als wäre der seelische Zwang es zu beenden nicht exakt genauso wie die körperliche Unfähigkeit weiter Klopf Klopf zu machen. Immer geht es ums Töten, du oder sie. Du oder die Zeit. Solange ich die Zeit töten kann, bin ich am Leben. Manchmal bekomme ich schreckliche Angst. Wenn ich Zuhause sitze und die Leere hochkommt und ich keine Munition mehr habe, dann denke ich, jetzt ist es soweit. Doch meistens, ja bis heute ist es immer so gewesen, meistens bekomme ich dann doch noch den einen Tipp. Eine Party mit freiem Alkohol, eine neue TV-Serie, „die du unbedingt sehen musst“ oder ein seltener Anflug von Müdigkeit, der die Notwendigkeit zu töten für einen Moment verfliegen lässt. Dann ist es gut. Dann ist der kritische Moment vorbei und Gott sei Dank wieder einmal nur die Zeit getötet. Wie absurd und selbstmörderisch der Gedanke allein ist, sich von miesepetrigen Menschen in grauen Anzügen gar noch extra Zeit zu kaufen, wo ich doch jetzt schon überladen bin mit dieser Masse und so oft froh bin bei dem Gedanken, wenn alles vorbei. Denn ist es ja so, dass alles Töten nichts nützt. Am Ende gewinnt sie immer, die Zeit, am Ende tötet sie. Wie immer geht es nur um das Wann und nicht um das Ob. Wir leben an einem Bahnhof in Burma und sprechen kein burmesisch. Wir wissen nicht, wann dieser verdammte Zug abfährt. Und ich bin so spießig, ich traue mich nicht raus, ich traue mich nicht im Regen zu tanzen und in der Sonne zu baden. So sehe ich gar nicht aus, was, so spießig? Ich bleibe die ganze Zeit sitzen auf meinem kalten Platz und warte bis er kommt. Ich kann nicht vergessen, dass er kommen wird und das Warten die einzige Aufgabe des Lebens ist. Ich sehe durchs Fenster wie die Menschen den Zug vergessen und schüttele den Kopf über diese Unvernunft und in jeder Minute, in der er nicht kommt, wünschte ich ein Teil der Masse zu sein, ein Teil der Unvernunft. „In Burma gibt’s noch nicht mal Sitzplätze!“, rufen sie und tanzen dabei und ich weiß nicht wem ich glauben soll, dem Tod oder dem Leben.“ Der Mann war nun hörig, er vergaß sogar zu essen. Etwas, das ihm noch nie passiert war, ablesbar an seiner stattlichen Statur. Dann blickte Sandra ihn auf einmal an, ihre Miene hellte auf, fast grinste sie, „wirklich tut mir leid, dass ich dich hier so runterziehe mit meiner Deprischeiße. Du bist bestimmt auf dem Sprung, bald wirst du deine Familie sehen, Sportschau gucken und Bier in gesundem Maß trinken. Ich möchte dich nicht aufhalten, bitte, entschuldige.“ Der Mann wollte was sagen, er wollte ihr sagen, dass seine Familie so toll auch nicht war, dass heute doch gar keine Sportschau war und dass er seit 10 Jahren keinen Alkohol getrunken hatte, zum Beispiel. Doch dann rührte Sandra in ihrem Essen und schaufelte auch noch den letzten, den dreckigen, am Boden klebenden Klops in ihren Mund. Er kannte die Hygiene dieses Ladens sehr gut, sie war nicht gut. Er war angewidert. Er konnte nicht bleiben. Er stand auf, sah Sandra an, bekam nicht mehr als ein „Viel Glück Kleine“ heraus und verschwand. „Glück“, murmelte Sandra. Sie wollte wieder ansetzen, doch nun war da keiner mehr. Für ihn würde sie für immer nur ein Dummerchen bleiben, das mal seid und mal seit schreibt und dabei immer das gleiche meint, dachte sie. Nun war sie wieder alleine, die einzige Konstante in ihrem Leben. So schien es ihr. Sie war sich in diesem Moment sicher, dass dieses Treffen die beste Begegnung ihres Tages gewesen wäre, ohne dabei zu ahnen, dass an Tisch 24, ihrer war 23 die Nummerierung ging jedoch verwinkelt um ziemlich viele Ecken, ein Mann saß, der diesen Klops ebenso genussvoll gegessen hätte und viel wichtiger noch, der jedes Wort gehört hatte und noch viel wichtiger, wenn die Grammatik solche Steigerung denn nur zuließe, auch noch jedes Wort verstanden hatte.

      Wenige Stunden zuvor saß dieser Mann noch einige Kilometer weiter östlich. Er saß auf einer steinigen Mauer und sah Schiffen dabei zu wie sie sich erleichterten. Im Hintergrund prangerte ein Plakat für König der Löwen. Er saß dort und dachte daran, wie er einmal der König seiner Art war. Es war noch nicht sehr spät, doch er war schon ein wenig angeheitert und aus all diesen Fetzen, dem König der Löwen – Plakat, seiner Vergangenheit und den drei Sekunden eines Rio Reiser – Songs, der ihm aus einem vorbeifahrenden Auto entgegen geflogen war, entwickelte sich in seinem Kopf ein Streitgespräch mit Rio Reiser, wer denn nun der wahre König von Deutschland sei. Er hatte eigentlich keine Lust sich zu streiten, nie. Er hatte kein Interesse daran König von irgendwas zu sein. Links an einer der Häuserwände hing eine Flagge mit „Krieg dem Krieg und Frieden dem Frieden“. Könnte ein Song von Rio Reiser sein, dachte er. Lass mal Rio machen, dachte er. Er wollte eigentlich nur den Wind in den Haaren spüren, das Treiben des Wassers beobachten, Träumer auf den Mauern sitzen sehen, Träumer auf einer Mauer sein, der die Vollkommenheit seiner Unvollkommenheit genießen kann. Es ergab nicht viel Sinn, in dem was er machte. Doch es machte Sinn, das spürte er in diesem Moment, dass er hier war. In Hamburg. Nicht nur weil Hamburg einer der wenigen Wahlbezirke war, die er in der letzten Wahl noch gewonnen hatte, nein viel mehr, weil es sich richtig anfühlte. Als er am Wasser stand, schaute er sich die durch den Schiffsverkehr entstehenden Wellen an. Er musste an diesen einen Wähler denken, der ihm schrieb „ich hoffe, sie gewinnen die Wal“. Das war ein großer Lacher damals. Damals als man noch zuversichtlich war. Er hatte den Wal dann nicht gefangen. Lange Zeit danach hatte er keinen Wal mehr gesehen, den es zu fangen galt. Nun, das bildete er sich zumindest ein, sah er einen ganz weit weg, einen der Spaß hatte zwischen all diesen großen Metallklötzen, einen, dem die Unlogik seiner Existenz an diesem Ort egal war. Einen, den es zu fangen galt.

      Sandra stand auf und bezahlte. Der Mann vom